Nach den Paris-Attentaten wird schweres rhetorisches Geschütz aufgefahren, selbst von einem bevorstehenden "Dritten Weltkrieg" ist die Rede. Die Definition und Legitimation von Krieg im Völkerrecht erklärt Katrin Fenrich.
LTO: Frankreichs Präsident François Hollande sprach nach der Anschlagserie von Paris von einem "Kriegsakt" des IS und kündigte "angemessene Entscheidungen" an. Auch der Premierminister Manuel Valls sagte am Samstagabend dem Sender TF1: "Ja, wir sind im Krieg." Diese Wendung griffen viele Staatsmänner auf: Bundespräsident Joachim Gauck nannte die Anschläge eine "neue Art von Krieg", der Papst sprach gar von einer "Art drittem Weltkrieg". Ist Frankreich, rechtlich gesprochen, im Krieg?
Fenrich: Das humanitäre Völkerrecht, das früher "Recht des Krieges" genannt wurde, spricht an keiner Stelle von Krieg, sondern benutzt andere Begriffe. In Art. 2 der Genfer Konventionen (GK) I-IV wird der Begriff des "bewaffneten Konflikts" verwendet, die Charta der Vereinten Nationen (UN) spricht in Art. 51 lediglich von einem "bewaffneten Angriff" im Rahmen des Rechts auf Selbstverteidigung und in Art. 39 von "Aggressionsakten".
Als internationale bewaffnete Konflikte gelten nur solche militärischen Auseinandersetzungen, die zwischen Staaten als Völkerrechtssubjekten erfolgen. In ihnen wird die territoriale Integrität oder die politische Unabhängigkeit eines Staates durch militärische Handlungen verletzt.
Handelt es sich bei mindestens einer Konfliktpartei nicht um einen Staat, sondern z. B. um eine aufständische Gruppe, spricht der gemeinsame Art. 3 GK I-IV von einem sog. nicht-internationalen Konflikt. Diese Art des Konflikts spielt vor allem im sogenannten Kampf gegen den Terrorismus eine Rolle. Sie kann dazu führen, dass ein Staat kriegerische Handlungen gegen terroristische Vereinigungen auf seinem Hoheitsgebiet dulden muss, wenn ihm vorgeworfen werden kann, dass er selbst diese Vereinigungen nicht bekämpft oder gar geduldet hat, wie dies etwa im Afghanistankrieg argumentiert wurde.
"Der IS ist wohl kein Staat"
LTO: Ab welchem Punkt wäre ein militärisches Vorgehen gegen den IS demnach ein Krieg bzw. ein "nicht-internationaler Konflikt"?
Fenrich: Die notwendige Schwelle der militärischen Auseinandersetzung, um es so zu nennen, ist nicht genau definiert. Grundsätzlich gilt jedoch: Bei einem internationalen Konflikt ist die Schwelle niedriger. Hier reicht es aus, wenn zum ersten Mal grenzüberschreitende Gewalt angewendet wurde.
Für die Fälle, in denen auf der einen Seite des Konflikts einee nicht-staatliche Organisation steht, ist die Frage deutlich schwieriger zu beantworten. Dennoch können auch nicht-staatliche Organisationen in einem nicht-internationalen Konflikt "Kriegspartei" sein.
Daher stellt sich zunächst die Frage nach der Staatsqualität des IS. Die Selbstproklamation als Staat allein genügt natürlich nicht, um als Staat im völkerrechtlichen Sinne zu gelten. Nach der Drei-Elemente-Lehre von Georg Jellinek sind dafür die Kriterien Staatsvolk, Staatsgewalt und Staatsgebiet notwendig. Die offizielle Anerkennung durch andere Staaten als Staat ist nicht erforderlich, sie hat rein deklaratorischen Charakter. Je nachdem, wie man das Gebilde "IS" bewertet, ergibt sich ein internationaler bzw. ein nicht-internationaler Konflikt.
Geht man mit der wohl überwiegenden Ansicht davon aus, dass es sich bei dem IS (noch) nicht um einen Staat handelt, könnte es sich allenfalls um einen nicht-internationalen bewaffneten Konflikt handeln.
Sofern die Staaten, auf deren Gebiet sich der IS aufhält, also Syrien und der Irak, ihr Einverständnis zu einem militärischen Vorgehen seitens Frankreichs geben, läge keine Verletzung ihrer territorialen Integrität vor. Dann könnte auch nicht von einem bewaffneten Konflikt und damit von einem Krieg gesprochen werden.
"Einsätze in Irak und Syrien geschehen mit ihrer Einwilligung"
LTO: Frankreich gehört zu den Gründungsmitgliedern der US-geführten Koalition gegen den IS und fliegt seit September 2014 Angriffe gegen den IS. Auf welcher völkerrechtlichen Grundlage?
Fenrich: Hier ist zu unterschieden, auf welchem Gebiet die Militäreinsätze erfolgen. Die irakische Regierung hatte den Militäreinsätzen zugestimmt, sodass weder Frankreich noch die USA nach Art. 2 IV der UN Charta die territoriale Integrität oder die politische Unabhängigkeit des irakischen Staates verletzen.
Für die Angriffe auf syrischem Gebiet ist die Lage komplizierter. Frankreich stützte die Militäreinsätze in Syrien bisher auf eine "legitime Selbstverteidigung" nach Art. 51 der UN Charta zur "Wahrung der nationalen Sicherheit" und zum Schutz vor einer "terroristischen Bedrohung". Dies ist aber eine eher wacklige Grundlage.
Ob die USA Syrien vorab über den Militäreinsatz informiert haben, ist nicht eindeutig. Allerdings begrüßte die syrische Regierung nach offiziellen Angaben das militärische Einschreiten, sodass hier zumindest von einer nachträglichen Genehmigung die Rede sein könnte. Diese würde sich wohl auch auf das Vorgehen Frankreichs beziehen und den ansonsten möglicherweise völkerrechtswidrigen Einsatz legitimieren.
2/2: "Selbstverteidigung nur möglich, wenn Gefahr andauert"
LTO: Zwei Tage nach den Anschlägen in Paris hat die französische Luftwaffe nun zwei Stellungen der Dschihadistenmiliz in der IS-Hochburg Rakka bombardiert. Ist dies nicht ein eindeutiger Fall der Selbstverteidigung?
Fenrich: Der Rückgriff auf das Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 UN Charta könnte Frankreich nur dann als Grundlage für sein militärisches Vorgehen dienen, wenn zuvor ein "bewaffneter Angriff" erfolgte. Ob die Terroranschläge als ein solcher zu werten sind, ist jedoch zweifelhaft.
Die Charta selbst hält zwar keine Definition des "bewaffneten Angriffs" bereit – dennoch wird häufig auf die Definition der "Aggression" in Art. 1 der Resolution der Generalversammlung 3314 (XXIX) von 1974 zurückgegriffen: "Aggression ist die Anwendung von Waffengewalt durch einen Staat, die gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates gerichtet oder sonst mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar ist, wie in dieser Definition ausgeführt."
Das wäre grundsätzlich möglich, weil die Definition des Begriffs sich insoweit von der oben genannten im Rahmen der Genfer Konvention unterscheiden kann – seit dem 11. September gehen viele Völkerrechtler davon aus, dass auch der Angriff einer nicht-staatlichen Gruppierung das Selbstverteidigungsrecht auslösen kann. Aber auch, wenn man dies bejaht, stellt sich die Frage, ob die Angriffe durch den IS noch gegenwärtig sind, also noch andauern. Die USA hatten sich im Rahmen des Kampfes gegen den Terrorismus auf die Existenz einer Dauergefahr gestützt. Danach drohten ständig neue Anschläge. Eine ähnliche Argumentation könnte Frankreich hier auch vorbringen.
Liegt hingegen keine Dauergefahr vor, müsste man von einem sog. Präventivschlag sprechen, und ein solcher ist nur in sehr engen Grenzen zulässig.
Eine deutlich stabilere Grundlage wäre allerdings ein entsprechendes Mandat des VN-Sicherheitsrats nach Artikel 42 VN-Charta "zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit". In der Folge von 9/11 hat der Sicherheitsrat ein solches Mandat erteilt – auch Frankreich hat bereits beantragt, dass der Rat sich nach den Pariser Anschlägen mit dieser Frage befassen soll.
"Bündnisfall schafft Beistandsrecht – nicht Beistandspflicht"
LTO: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hält es für möglich, dass die NATO einen sog. Bündnisfall ausrufen wird, auch dies war nach dem 11. September 2001 der Fall. Damals konnten die Terroranschläge zumindest auch dem afghanischen Taliban-Staat zugerechnet werden, der al-Qaida gewähren ließ und unterstützte. Wären die Voraussetzungen auch dieses Mal gegeben?
Fenrich: Ein Bündnisfall tritt nach Art. 5 NATO Vertrag nur ein, wenn ein "bewaffneter Angriff" vorliegt. Nur ein solcher Angriff gegen eine Bündnispartei in Europa oder Nordamerika wird als Angriff gegen alle Nato-Staaten angesehen und gibt ihnen das Recht der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung. Insofern decken sich die Voraussetzungen des Art. 51 UN Charta und des Art. 5 NATO Vertrag.
Sollte jedoch Art. 51 UN Charta anwendbar sein, müsste Frankreich noch einen entsprechenden Antrag stellen, den die NATO prüfen müsste. Nur dann könnten sich auch andere Staaten auf das kollektive Selbstverteidigungsrecht Frankreichs stützen.
Allerdings löst der Bündnisfall nur ein militärisches Beistandsrecht und keine Beistandspflicht aus. Die Mitgliedstaaten entscheiden grundsätzlich selbst, in welcher Art sie unterstützen wollen. Das weitere Vorgehen liegt somit im Rahmen des jeweiligen nationalen Ermessens.
"Bundeswehreinsatz erfordert Zustimmung des Parlaments"
LTO: Was würde dann auf nationaler Ebene passieren – müsste der Bundestag bei jedem weiteren Einsatz der deutschen Bundeswehr beteiligt werden, oder würde in Eilfällen auch ein Befehl der Regierung reichen?
Fenrich: In Deutschland sind Bundeswehreinsätze grundsätzlich zustimmungsbedürftig durch den Bundestag aufgrund des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts. Daher bedürfte es prinzipiell, anders als in Frankreich, eines parlamentarischen Zustimmungsaktes.
Bei Gefahr in Verzug kann die Bundesregierung ausnahmsweise vorläufig alleine beschließen, muss den Bundestag jedoch umfassend informieren und schnellstmöglich Gelegenheit zur Abstimmung geben.
Im Extremfall müssten die Streitkräfte auf Verlangen des Bundestages zurückgerufen werden.
LTO: Frau Fenrich, vielen Dank für das Gespräch.
Katrin Fenrich ist seit November 2014 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) der Ruhr-Universität Bochum beschäftigt. Dort setzt sie sich mit dem Völkerrecht und insbesondere dem Kriegsrecht auseinander. Ihre Promotion verfasst sie im Bereich des Internationalen Verfahrensrechts.
Anne-Christine Herr, Militäreinsätze nach Paris-Attentaten und das Völkerrecht: Ist Frankreich im Krieg? . In: Legal Tribune Online, 17.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17566/ (abgerufen am: 01.12.2023 )
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