Deutschland fragt sich, warum der türkische Präsident Jan Böhmermanns Strafverfolgung verlangt. Für Gül Pinar ist das kein Wunder, die türkischen Instanzgerichte täten längst, was Erdogan will. Er habe ein System der Angst etabliert.
LTO: In der Türkei gab es nach Informationen des Handelsblatts 1.845 Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung – allein in den ersten 1,5 Jahren der Präsidentschaft von Recep Tayyip Erdogan. Können Sie uns diese Empfindlichkeit eines Mannes erklären, der so viel Macht hat wie der türkische Präsident?
Pinar: Das ist nicht nur Überempfindlichkeit, sondern extrem ausgeprägtes Machtgehabe. Vorab muss man wissen, dass es etwas wie Satire im orientalischen Selbstverständnis so nicht gibt.
Zudem hat Erdogan zwar viel Macht, aber er wird von mindestens 50 Prozent der türkischen Bevölkerung nicht anerkannt. Vermutlich deshalb hat er oft das Gefühl, sich in der öffentlichen Wahrnehmung behaupten zu müssen. Wenn wir dazu das türkische Wahlrecht berücksichtigen, wonach eine Partei die 10-Prozent- Hürde überwinden muss, dann wurde er von faktisch nur 30 Prozent gewählt. Die Macht ist also nur groß, wenn sie großgeredet und mit entsprechender Angstmache aufrechterhalten wird.
Deswegen setzt er Angst und Schrecken ein. Wer etwas gegen ihn sagt, muss damit rechnen, im Gefängnis zu landen. Er lässt selbst Minderjährige wegen Beleidigung seiner Person in sozialen Netzwerken festnehmen. Ähnlich verhält er sich derzeit auch Deutschland gegenüber, weil er weiß, dass man ihn hier im Moment braucht. Aber das ist ein hausgemachtes Problem der Bundesregierung.
Gegenseitigkeit: Präsidentenbeleidigung durch Ausländer auch in der Türkei strafbar
LTO: § 103 StGB, die Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten, ist in Deutschland völlig unbekannt. Die Norm wird fast nie angewendet, sie setzt aber voraus, dass der Staat, dessen Oberhaupt von einem Deutschen beleidigt wurde, ähnliche Schutzvorschriften für das deutsche Staatsoberhaupt hat. Gibt es eine entsprechende Vorschrift im türkischen Strafrecht, welche ausländische Staatsoberhäupter vor einer Beleidigung schützt?
Pinar: Tatsächlich musste ich danach in Vorbereitung auf unser Gespräch eine vor Ort ansässige Kollegin fragen – auch in der Türkei ist das natürlich nicht gerade eine täglich genutzte Norm. Die Istanbuler Rechtsanwältin Ayse Bingol ließ mich aber wissen, dass auch ein türkischer Staatsbürger sich strafbar machen kann, wenn er sich beleidigend über ein ausländisches Staatsoberhaupt äußert.
Die Strafe erhöht sich gemäß Art. 340 des türkischen Strafgesetzbuches um ein Achtel, wenn eine Handlung sich gegen ein ausländisches Staatsoberhaupt richtet. Wenn, wie nach Art. 125 des türkischen Strafgesetzbuchs im Fall der Beleidigung, ein Strafantrag des Geschädigten Voraussetzung der Strafverfolgung ist, braucht es dann eine Beschwerde des betroffenen Staates.
Insgesamt verhält es sich nach den Informationen der Kollegin Bingol also wie im deutschen Recht, die von Ihnen angesprochene Gegenseitigkeit ist somit gegeben: Wenn ein türkischer Staatsangehöriger sich beleidigend über ein ausländisches Staatsoberhaupt äußert, das betroffene Land dasselbe Prozedere vorsieht und ein Strafverlangen des ausländischen Staates vorliegt, kann die Tat in der Türkei verfolgt werden.
2/2: Theorie: türkische Strafrechtslehre entspricht deutscher
LTO: Wie definiert das türkische Strafrecht denn Beleidigungen, und gibt es einen besonderen Maßstab für solche des Staatsoberhauptes?
Pinar: Eine Beleidigung ist auch im türkischen Recht eine bewusst herabwürdigende Äußerung über eine Person. Der Maßstab für die Präsidentenbeleidigung ist kein anderer. Das wird nur im Strafmaß anders berücksichtigt.
LTO: Gibt es gravierende Unterschiede gegenüber der deutschen rechtlichen Bewertung von Äußerungen als Beleidigung? Wie bewertet das türkische Recht Meinungs- und Kunstfreiheit in diesem Kontext?
Pinar: Die türkische Strafrechtslehre entspricht ganz genau der deutschen, weil sie aus dem deutschen Recht stammt. Auch das türkische Strafrecht definiert Beleidigung als eine herabwürdigende Äußerung über menschliche Schwächen. Das wird geregelt im § 299 des Türkischen Strafgesetzbuchs. Da steht aber nur, dass, wer den Präsidenten beleidigt, bestraft wird. In der Literatur wird dann erläutert, dass nicht die Funktionsweise des Amtes, sondern nur seine Ehre geschützt wird. Auch die türkische Rechtswissenschaft geht davon aus, dass die Äußerung auch gesellschaftlich als herabwürdigend angesehen werden muss, also nicht nur von der betroffenen Person so empfunden werden darf.
Außerdem muss die Äußerung ernst gemeint sein. Bei der Satire liegt die Grenze zur Strafbarkeit bei der Frage, ob die Überzeichnung der menschlichen Schwächen ernst gemeint ist in Bezug auf diese Person. Auch eine Satire kann beleidigend sein, wenn diese Schwelle überschritten ist. Nämlich dann, wenn man die menschliche Schwäche ganz speziell hervorhebt, um eine Herabwürdigung der Person zu erreichen.
Praxis: "Die Instanzrichter unterschreiben, was kommt"
LTO: Sie kritisieren immer wieder heftig den Umgang der Türkei mit grundlegenden Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, unter anderem in Bezug auf Anwälte, die dort an ihrer Berufsausübung gehindert werden. Hat sich Ihrer Meinung nach unter Präsident Erdogan auch die Bewertung von Kunst und Meinungsfreiheit durch die Justiz verändert?
Pinar: Von Gesetzes wegen werden Kunst- und Meinungsfreiheit in der Türkei genauso bewertet wie in Deutschland. Das türkische Verfassungsgericht entscheidet auch häufig für die Meinungsfreiheit, zuletzt bei den wegen Spionage und Umsturzversuchs inhaftierten Journalisten der Zeitung Cumhuriyet. Ihre Haftbefehle hob das Verfassungsgericht im Februar auf, wenn auch wegen mangelnder Fluchtgefahr.
In der praktischen Handhabung an den türkischen Instanzgerichten sieht das anders aus. Die Richter dort unterschreiben alles, was kommt. Sie haben so viel Angst, versetzt oder gar verhaftet zu werden, dass in der Justiz nicht allzu viel Freiheit herrscht.
Die Bewertung von Kunst- und Meinungsfreiheit hat sich insofern unter Erdogan sehr verändert - wobei auch die Vorgängerregierung nicht besonders rechtsstaatlich war. Aber mit den heutigen Zahlen, nicht nur zur Präsidentenbeleidigung, waren die Zustände damals nicht vergleichbar.
"Böhmermann hat vieles richtig gemacht"
LTO: Sie als Strafverteidigerin: Wagen Sie eine Einschätzung, ob Jan Böhmermann sich mit seinem Erdogan-Gedicht strafbar gemacht hat?
Pinar: Ob nach deutschem oder nach dem im Wesentlichen gleichen türkischen Recht: Das Gedicht allein hätte ohne den Kontext seiner Ankündigung die Grenze meines Erachtens überschritten. Aber die angekündigte Überspitzung und der Kunstgriff, Erdogan zu erklären, was in Deutschland strafbar wäre, exkulpiert ihn meines Erachtens letztendlich. Entscheiden muss das natürlich die Staatsanwaltschaft, aber wenn ich seine Verteidigerin wäre, würde ich so argumentieren.
Jan Böhmermann hat sicherlich aus seiner Sicht vieles richtig gemacht. Er bekommt maximal eine Geldstrafe, aber eine bessere Bühne gibt es für ihn doch gar nicht. Und mindestens 50 Prozent der türkischen Bevölkerung spricht Jan Böhmermann sicherlich aus der Seele.
Gül Pinar ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Strafrecht in Hamburg. Für den Deutschen Anwaltverein beobachtet sie die Justiz in der Türkei.
Die Fragen stellte Pia Lorenz.
Pia Lorenz, Erdogan und die Justiz: "Vielen Türken spricht Böhmermann aus der Seele" . In: Legal Tribune Online, 12.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19044/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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