Der Brexit wird die Attraktivität des Gerichtsandortes London beeinträchtigen, ein Londoner Urteil innerhalb der EU zu vollstrecken wird aufwendiger und risikoreicher. Dimitrios Christopoulos zu dieser Konsequenz des Brexits.
Derzeit ist London einer der attraktivsten Gerichts- und Schiedsstandorte weltweit. Internationale Verträge werden meist auf Englisch verfasst. So liegt es für die Vertragsparteien oft nahe, den Vertrag auch englischem Recht zu unterwerfen und London als Gerichtsstand oder Schiedsgerichtsort zu vereinbaren.
Mit dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) stellt sich die Frage, ob dies existierende Gerichtstandvereinbarungen beeinflusst und der Gerichtstandort London künftig unattraktiver wird. Besonders relevant ist dabei, ob ein britisches Urteil nach dem Brexit in der EU von der obsiegenden Partei noch vollstreckt werden kann. Sonst ist das Urteil wertlos.
Dank der Europäischen Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüssel Ia-VO) kann aktuell in Verträgen, die mindestens von einer in der EU ansässigen Partei geschlossen werden, ein Gerichtsstandort in Großbritannien vereinbart werden. Ein britisches Urteil kann derzeit auch nach Artikel 39 Brüssel Ia-VO ohne gesonderte Vollstreckbarerklärung in jedem Mitgliedstaat der EU vollstreckt werden.
Mit dem Abschluss des Austrittsverfahrens nach Artikel 50 Vertrag über die Europäische Union (EUV) wäre Großbritannien im Verhältnis zur EU allerdings ein Drittstaat. Für diese finden weder europäisches Primär- noch Sekundärrecht Anwendung. Die Brüssel Ia-VO wäre als Sekundärrecht auf Großbritannien nicht mehr anwendbar. Auf das weitgehend parallel zur Brüssel Ia-VO ausgestaltete Lugano-Übereinkommen zwischen der EU, Norwegen, Island und der Schweiz könnte ebenfalls nicht zurückgegriffen werden, weil Großbritannien selbst kein eigenständiger Vertragspartner ist. Die Anerkennung und Vollstreckung britischer Urteile richtet sich dann entweder nach völkerrechtlichen Verträgen zwischen Großbritannien und dem anderen Staat oder nach dem Recht des Staates, in dem das britische Urteil zu vollstrecken wäre.
Das EuGVÜ von 1972 würde wieder aufleben
Die Brüssel Ia-VO trat 2002 an die Stelle des Abkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ). Hierbei handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Irland, Luxemburg, den Niederlanden, Portugal, Spanien und eben Großbritannien. Daher würde das EuGVÜ nach dem Brexit für Großbritannien im Verhältnis zu den anderen Vertragsstaaten wieder aufleben.
Innerhalb des Anwendungsbereichs des EuGVÜ sieht Artikel 17 ausdrücklich vor, dass Gerichtsstandklauseln die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte eines Vertragsstaates begründen können. Die Voraussetzungen des Artikel 17 EuGVÜ entsprechen dabei weitestgehend denen des Artikel 25 Brüssel Ia-VO. Die überwiegende Anzahl von Gerichtstandvereinbarungen, die heute unter der Brüssel Ia-VO als wirksam anzusehen sind, würden also wirksam bleiben. Da aber erst die Brüssel Ia-VO das Exequatur-Verfahren abgeschafft hatte, wäre die Vollstreckung britischer Urteile in anderen Vertragsstaaten künftig aufwendiger: Nach Art. 31 EuGVÜ bedarf es hierfür einer gesonderten Vollstreckbarkeitserklärung. Dadurch entsteht ein deutlicher Mehraufwand.
Rückgriff auf bilaterale Abkommen
In Staaten, die nicht Vertragspartei des EuGVÜ sind, verbliebe zur Anerkennung britischer Urteile nur der Rückgriff auf bilaterale Abkommen, sofern solche existieren. Gleiches würde im Übrigen auch für Vertragsstaaten der EuGVÜ gelten, wenn man entgegen der hier vertretenen Ansicht davon ausginge, dass das EuGVÜ keine Anwendung findet.
Großbritannien hat mit sechs EU-Staaten Abkommen über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen getroffen. Solche Abkommen bestehen mit Frankreich, Belgien, Deutschland, Österreich, Italien und den Niederlanden. Mit Ausnahme Österreichs handelt es sich dabei also um Staaten, die auch Vertragsstaaten des EuGVÜ sind.
Für das Verhältnis zwischen Deutschland und Großbritannien lässt sich sagen: Selbst wenn die Meinung vertreten werden sollte, dass das EuGVÜ nicht anwendbar sei, gilt weiterhin das deutsch-britische Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen über Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen von 1960 (DBA). Artikel 3 DBA bestimmt, dass Urteile eines Gerichts des jeweils anderen Staates grundsätzlich anerkannt werden. Um dann ein britisches Urteil in Deutschland vollstrecken zu können, müsste die Vollstreckbarkeitserklärung nach Artikel 7 DBA beantragt werden. Die Rechtslage wäre dabei aber nicht wesentlich ungünstiger als bei Anwendung des EuGVÜ.
2/2: Alle Alternativen machen die Vollstreckung aufwendiger
Das DBA trifft keine Aussage über die Anforderungen an Gerichtsstandklauseln, setzt aber die Zulässigkeit in Artikel 4 voraus. Dort heißt es nämlich, dass die Zuständigkeit eines Gerichts für nur zwischen Parteien wirkende Urteile durch eine vor Beginn des Rechtsstreits getroffene Vereinbarung – also eine Gerichtstandvereinbarung – begründet werden kann. Dies lässt allerding die Möglichkeit offen, die Wirksamkeit der Klauseln nach nationalem Recht zu beurteilen. Dieses Szenario wäre dann aufgrund des erhöhten Beratungsbedarfes und Durchsetzungsrisikos deutlich unerfreulicher als die Lösung über das EuGVÜ.
Muss ein Londoner Urteil in einem EU-Staat vollstreckt werden, der nicht Vertragspartei des EuGVÜ ist und mit dem auch kein bilaterales Abkommen existiert, richtet sich die Anerkennung und Vollstreckung nach dem Brexit ausschließlich nach dem nationalen Recht dieses Staates. Hier können sich für die Partei, die dort aus einem Londoner Urteil vollstrecken will, noch weitreichendere Risiken ergeben.
Weitere Risiken für den Gerichtstandort London
Tendenzen zeigen, dass die EU ein großes Interesse daran hat, Rechtsstreitigkeiten mit Bezug zum Binnenmarkt auch vor einem Gericht eines Mitgliedstaates entscheiden zu lassen. Der Trend in Brüssel kann daher auch dahin gehen, Unternehmen aus Drittstaaten vorzuschreiben, ihren EU-Kunden einen Gerichtsstand in einem Mitgliedstaat anbieten zu müssen. Dieser Ansatz findet sich bereits in Artikel 46 Absatz 6 der Verordnung (EU) Nr. 600/2014 vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente. Macht diese Beispiel Schule, wäre der Zugang zum Binnenmarkt für britische Unternehmen faktisch nur in Verbindung mit einem Gerichtsstand in der EU möglich. Das schließt in diesen Bereichen nach dem Brexit zugleich einen Gerichtsstand in London aus.
Steht fest, dass ein britisches Urteil auch nach einem Brexit in Großbritannien oder einem EU-Staat vollstreckt werden muss, der Vertragsstaat des EuGVÜ ist, oder zwischen dem und Großbritannien ein bilaterales Abkommen existiert, ist das Risiko einer Gerichtstandwahl zugunsten Londons noch vorhersehbar. Muss aber ausschließlich oder auch in anderen EU-Staaten – und das ist immerhin die Mehrzahl – vollstreckt werden, hat der Vollstreckungsgläubiger bestenfalls einen erheblichen Mehr- und Kostenaufwand. Im Worst Case wird ein Londoner Urteil dort künftig nicht mehr vollsteckbar sein.
London als Gerichtsstandort mit Nachteilen schon vor dem Brexit
London war als Gerichtstandort ohnehin überbewertet. Zwar kann man vor Londoner Gerichten perfekt auf Englisch und vor erfahrenen Richtern verhandeln. Dies mag im internationalen Rechtsverkehr von Vorteil sein, wenn der Vertrag dem Common-Law unterliegt. Auf Englisch können Partien aber auch vor Schiedsgerichten in fast jedem anderen Land verhandeln und dort auch die Schiedsordnung und Schiedsrichter frei wählen. Die Vollstreckbarkeit dieser Schiedssprüche wird sich in der Regel nach dem New Yorker Übereinkommen vom 10. Juni 1958 richten, das 156 Vertragsstaaten umfasst. Daher wird der – ebenfalls sehr gefragte – Schiedsgerichtsort London vom Brexit kaum tangiert werden.
Verfahren in London sind zudem unabhängig vom Brexit schon immer zeit- und kostenintensiv gewesen. Langwierige Anträge auf Urkundenvorlegung (Disclosure), tagelange Verhandlungen und Kreuzverhöre von Zeugen, und die Zweiteilung der englischen Anwaltschaft in Solicitor und Barrister mit hohen Stundensätzen tun das ihre. An kaum einem Ort lässt sich teurer streiten als in London. Es wäre auch kein Einzelfall, dass die Verfahrenskosten eine Klageforderung im mittleren sechsstelligen Euro-Bereich aufzehren. Mit Verfahren in London ist es wie mit Maßanzügen von der Savile Row: Sicher hervorragend, aber man wartet lange und es wird teuer. Und ein Qualitätsmonopol haben auch die Schneider der Savile Row schon lange nicht mehr.
Dimitrios Christopoulos ist Partner im Düsseldorfer Büro der Wirtschaftskanzlei ARQIS und spezialisiert auf Litigation und Dispute Resolution.
Dimitrios Christopoulos, Der Brexit und britische Zivilurteile: Ende des Gerichtstandortes London? . In: Legal Tribune Online, 15.07.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20018/ (abgerufen am: 02.12.2023 )
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