Der nächtliche Diebstahl einiger Äpfel zog vor 200 Jahren in Bayern einen kolossalen juristischen Aufwand nach sich. Schließlich befasste sich die bayerische Justiz sogar mit dem Sündenfall von Adam und Eva.
Ganz ohne die kleinen Schrulligkeiten, durch die sich die Führung des bayerischen Staates jedenfalls in früheren Epochen immer wieder auszeichnete, sollte die Sache nicht beendet werden. Zu klären waren aber zunächst wichtige Fragen des modernen Straf- und Staatsrechts – und zwar in einem Fall, der wenig herzugeben scheint, sieht man vom Lebensschicksal der Angeklagten einmal ab.
Ein kleiner Aufsatz aus dem Jahr 1821, herausgebracht in der juristischen Fachzeitschrift "Neues Archiv des Criminalrechts" der Professoren Carl Joseph Anton Mittermaier (1787–1867), Gallus Aloys Kleinschrod (1762–1824) und Christian Gottlieb Konopack (1767–1841), geht auf den Fall eines nächtlichen Diebstahls von Äpfeln im Königreich Bayern ein, der sieben Jahre zuvor die Aufmerksamkeit der Richter, des Ministeriums und schließlich auch des Königs erregt hatte.
Der Sachverhalt beginnt in einer zeitgenössischen Darstellung wie folgt:
"Anna K. befand sich in einem Alter von 41 Jahren in der Ehe mit dem erst 26 Jahre alten Georg K. im siebenten Monat ihrer Schwangerschaft; sie konnte während derselben einige Zeit lang von ihren eigenen Speisen nichts essen, und hatte nur zu fremden Sachen Lust; Speise aber, die sie von fremden Leuten erhielt, schlugen ihr gut an. In der Nacht vom 26. September 1814 kam sie auf den Einfall, sie wollte Äpfel aus dem Dorfe P. haben, welches eine Stunde von ihrem dermaligen Wohnorte entfernt liegt. Sie war dort geboren und erzogen, und meinte nun, sie müßte eben jetzt solche Äpfel haben."
Nächtlicher Heißhunger auf Äpfel aus dem Nachbardorf
Andere Äpfel, die im Haus durchaus vorhanden waren, das Anna K. mit ihrem Ehemann und ihren wohlhabenden Schwiegereltern bewohnte, lehnte sie als zu sauer ab. Das Angebot, gleich am nächsten Tag die gewünschten Äpfel einkaufen zu gehen, wies die schwangere Frau von sich – gleich jetzt müsse sie das begehrte Obst bekommen.
Die Drohung der Schwiegereltern und des Mannes, dass sie dann unbegleitet in die Gefahren "dieser nächtlichen Wanderung in einer unfreundlichen kalten Septembernacht für sich und ihre Leibesfrucht" aufbrechen müsse, schüchterte sie nicht ein.
Am Ende gab der Mann nach, könne er "doch seine Ehefrau in der Nacht diesen gefährlichen Weg nicht allein machen lassen". An der "Obst-Entwendung" beteiligen wolle er sich jedoch nicht: "Sie war damit zufrieden, nahm einen Tragkorb zu sich, und so giengen die Eheleute nach P."
Am Ziel angekommen, der Obstwiese eines ihrer Verwandten, sammelte Anna K. zunächst Äpfel vom Boden "und ihr Mann, damit sie nicht in der Schwangerschaft von dem Bücken Schaden leide, half ihr beim Auflesen, und zog einige Äste herab, damit sie die Äpfel bequemer abbrechen könne. Der Werth der genommenen Äpfel ward auf 1 Gulden geschätzt."
Vom Eigentümer der Obstbäume auf frischer Tat gestellt, kam es zum Streit um Ersatz des Schadens. Statt sachlich angemessener drei verlangte er 30 Gulden und brachte die Sache zur Anzeige. Weil nach damaliger Gesetzeslage "die nächtlichen Entwendungen an Feld- und Gartenfrüchten ohne Rücksicht auf den Werth des Entwendeten als ausgezeichnete Diebstähle mit einer Kriminalstrafe von 1 bis 3 Jahren Arbeitshaus belegt waren", leitete das Gericht ein Ermittlungsverfahren ein.
Fragen nach der Tatbeteiligung …
In erster Instanz wurden beide Eheleute wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr im Arbeitshaus verurteilt, die zweite Instanz bestätigte dieses Urteil für Anna K., wollte Georg K. jedoch "nicht als Miturheber, sondern nur als Gehülfen" betrachten und verurteilte ihn nun zu sechs Monaten Gefängnis – ihm wurde zugutegehalten, dass er "lange und nachdrücklich die Begleitung verweigerte und sich zu derselben erst auf Zureden seines Vaters und dessen Bemerkung entschloß, daß er doch in dieser Nachtzeit sein Weib nicht allein gehen lassen könne".
Fraglich schien jedoch, ob dann das Tatgeschehen auf der nächtlichen Obstwiese das mildere Urteil der bloßen Beihilfe rechtfertigte: "Die Hülfe bei dem Aufsammeln der Äpfel und bei Darreichung der Äste hat mehr den Anschein einer rechtswidrigen Absicht, besonders weil damit die Protestation im Widerspruche steht, welche der Georg K. vor der Begleitung seines Eheweibs geäußert hatte. Allein auch in Ansehung dieser Hülfe ist der Mangel an rechtswidriger Absicht mehr als wahrscheinlich. War die Absicht seiner Begleitung überhaupt auf Bewahrung seines schwangeren Weibes bei dieser nächtlichen Wanderung gerichtet, so darf man sich nur in seine Lage bei der Ankunft an dem Orte der Entwendung und bei dem Anblicke seines Weibes denken, wie sie zur Befriedigung ihrer Gelüste sich beeiferte, die abgefallenen Äpfel mühsam vom Boden aufzulesen." Hier sei Georg K. "zum Beistand augenblicklich hingerissen" gewesen, er habe keinen Gedanken auf die Zueignung des Obstes verschwendet.
… und Fragen nach der Zurechnungsfähigkeit
Schwerer taten sich die Richter mit der Frage, ob die schwangere Frau überhaupt zu bestrafen war. Im "Strafgesezbuche für das Königreich Baiern" (1813) – das "y" setzte sich erst später infolge einer royalen Griechenland-Marotte durch – hieß es in Artikel 120 u. a.: "Es sind insbesondere gegen alle Strafe entschuldigt: 1) Kinder unter acht Jahren; 2) Rasende, Wahnsinnige, und überhaupt solche Personen, welche den Gebrauch ihres Verstandes durch Melancholie oder andere schwere Gemüthskrankheit völlig verloren und in diesem Zustande ein Verbrechen begangen haben …"
Zudem forderte dieses moderne Strafgesetz in Artikel 39, dass die Person "sich der Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit des Entschlusses bewußt gewesen" sein musste.
In ihren Vernehmungen hatte Anna K. sehr offenherzig geäußert, im Glauben gehandelt zu haben, dass es ihr als schwangerer Frau erlaubt gewesen sei, ihrem nächtlichen Heißhunger auf die Äpfel zu folgen. Das weckte Zweifel daran, ob sie sich der Strafbarkeit ihres Tuns bewusst gewesen war.
Nach Auffassung einer hinzugezogenen Mediziner-Kommission kam auch die Unzurechnungsfähigkeit nach Artikel 120 in Betracht, weil diese eigenartige Begierde nach den Äpfeln für einen vorübergehenden Wahn spreche. Die schwangere Frau sei in eine Art infantilen Zustand zurückgefallen, der sie trotz der ungünstigen Nachtzeit motiviert habe, den weiten Weg in das Dorf ihrer Kindheit zu gehen, um ihren Heißhunger zu befriedigen.
Nüchtern merkte der zeitgenössische juristische Kommentar an, dass ein Richter als Mann diese mentalen Zustände der Schwangerschaft kaum aus eigener innerer Anschauung würde beurteilen können, weshalb es sich um eine Frage der äußeren Glaubwürdigkeit handle – hier zählten etwa die beschworenden Aussagen der Schwiegereltern zum Verhalten der Frau.
Dass die Familie über ein Vermögen von mehreren tausend Gulden verfügte, sodass der Apfeldiebstahl keine Sache von Armut war, sprach wohl auch für die juristische Würdigung, es mit wahnhaftem Verhalten zu tun zu haben – der berühmte Satz von Anatole France (1844–1924), wonach das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit Reichen wie Armen verbiete, unter Brücken zu schlafen oder Brot zu stehlen, ging hier also sehr viel subtiler auf als in seiner meist grobschlächtigen Deutung.
König entscheidet zugunsten der Apfeldiebin
Selbst wenn bereits das Gericht zweiter Instanz eine Abmilderung der Strafe – ein Jahr Arbeitshaus für sie, ein halbes Jahr Gefängnis für ihn – auf dem Gnadenwege angeregt hatte, es hielt eine 24-stündige Gefängnishaft für tatangemessen, lag in der Rechtskraft seines Urteils ein erheblicher Nachteil. Denn das Gesetz sah vor, dass durch sie auch die Standesehre beschädigt werde. Im Fall der bürgerlichen Eheleute Georg und Anna K. wog dies zwar nicht ganz so schwer. Adlige Verurteilte verloren jedoch, daher rührte weiterführendes juristisches Interesse, selbst im Fall einer gnadenhalber stark reduzierten Strafe ihre Standesvorrechte.
Maximilian I. Joseph (1756–1825), seit 1806 eher von Napoleons als "von Gottes Gnaden König von Baiern", befasste sich mit der Sache daher nicht nur auf dem Gnadenwege, sondern wies in seiner Funktion als höchster Richter das Appellationsgericht an, den nächtlichen Apfeldiebstahl entsprechend dem medizinischen Gutachten dahingehend zu würdigen, dass "1) die Anna K. die That in dem Zustand jener krankhaften Lüsternheit unternommen habe, und daß 2) Personen in diesem Zustand" – also bei schwangerschaftsbedingtem, Vernunftgründen nicht zugänglichem Heißhunger – "hinsichtlich der darauf sich beziehenden Handlungen Kindern gleich zu achten seyen".
Mehr als Schadensersatz sollte nach allerhöchstem königlichem Entschluss von den Eheleuten K. nicht geleistet werden müssen.
In dem überlieferten Schriftsatz, den das königlich-baierische Innenministerium zur juristischen Würdigung des krankhaften Heißhungers von Schwangeren diesem fürstlichen Entschluss noch mit auf den Weg gab, heißt es am 15. Mai 1815 abschließend: "Hierorts glaubt man, daß keine Erbsünde auf dem Menschengeschlechte lasten würde, wenn Eva sich in dem Zustande der [Anna] K. befunden hätte, als sie in Gesellschaft ihres Mannes den Apfel vom Baume brach."
Wie freilich die biblische Eva von ihrem Adam hätte schwanger und dann heißhungrig werden können, ohne zuvor vom Obstbaum der – nicht zuletzt sexuellen – Erkenntnis genascht zu haben, ist leider seit 1815 das Rätsel aller baierischen und bayerischen Staatsregierungen geblieben.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor in Ohligs.
Quellen: Die ausführliche Falldarstellung findet sich in Band 2 der "Jahrbücher der Gesetzgebung und Rechtspflege im Königreiche Baiern" (1819), S. 324–355. Kürzer, mit einem rechtsvergleichenden Versuch, den neuartigen Entschuldigungsgrund für Schwangere restriktiv zu handhaben: "Neues Archiv des Criminalrechts", Band 4 (1821), S. 632–637.
Apfeldiebstahl einer Schwangeren: . In: Legal Tribune Online, 05.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46834 (abgerufen am: 12.12.2024 )
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