Ein Ermittlungsverfahren wird zur Justiz-, vielleicht bald zur Staatsaffäre. Niemanden sollte das mehr interessieren als die (jungen) Juristen dieses Landes. Es ist Zeit, die Skripten wegzulegen und die Zeitung aufzuschlagen – ein Appell.
Der Landesverrat, § 94* Strafgesetzbuch, gehört nicht zum Prüfungsstoff des ersten oder zweiten Staatsexamens. Ebenso wenig das Weisungsrecht des Justizministers gegenüber dem Generalbundesanwalt aus § 147 Nr. 1 Gerichtsverfassungsgesetz oder dessen Stellung als politischer Beamter aus § 54 Abs. 1 Nr. 5 Bundesbeamtengesetz. Für das Rechtsstaats- und das Legalitätsprinzip hat man vielleicht gerade so eine Definition parat, falls ein übereifriger mündlicher Prüfer nachhakt – wie war noch gleich der Unterschied zum Opportunitätsprinzip? Und was sagt eigentlich die hemmer-Methode dazu?
Die Bestimmungen, die in der Ausbildung nie und auch in der beruflichen Praxis nur selten relevant werden, bilden die Eckpfeiler einer Affäre, die seit einer Woche das Land erschüttert. Seinen höchsten Ankläger hat sie schon zu Fall gebracht, weitere obere Stellen im Justiz- und Innenministerium oder beim Verfassungsschutz könnte sie in den Abgrund reißen. Der Fall Netzpolitik ist längst zum Politikum geworden. Die Vorgänge aber, die ihn in Gang gesetzt haben, sind zutiefst juristisch.
Gerade junge Juristen sind gefordert
Es ist ein fataler Irrtum, zu glauben, man müsse sich dafür nicht interessieren, weil es nicht Prüfungsstoff ist. Oder weil es einen persönlich nicht berührt. Es geht um nicht weniger als Grundfragen unseres Rechtsstaats – und was oben schief läuft, strahlt nach unten aus. Fragen, die in der Grundrechte-Vorlesung noch furchtbar langweilig und abstrakt klangen, finden im Verfahren gegen Netzpolitik.org und in anderen bedeutenden Justizfällen (Gustl Mollath, der NSU etc) ihren realen Kristallisationspunkt – und das gilt manchmal auch dort, wo gerade nichts passiert, Stichwort NSA.
Eine Bürgerschaft, die sich für all das nicht interessiert, bekommt die Gesetze und die Regierung, die sie verdient. Und niemanden sollte es mehr interessieren als Juristen, die durch ihre Ausbildung besser als alle anderen in der Lage sind, die feinen Verästelungen und weitreichenden Implikationen des Geschehens zu begreifen. Die jung genug sind, um darauf ohne Zynismus zu blicken und alt genug, um sich einzumischen, laut zu werden, Aufklärung einzufordern.
Aber tun sie das auch? Versuchen sie es? Wie viele Professoren haben in ihre Vorlesungen zum Straf(prozess)- und zum Verfassungsrecht die aktuellen Geschehnisse eingebracht? Wie viele Kommilitonen haben darüber am Kaffeeautomaten hitzig debattiert? Wie viele Vereinigungen von Jurastudenten haben offene Briefe geschrieben oder Forderungen formuliert? Drückt ihr bei Facebook eher auf den "Teilen"-Button, wenn es um netzpolitik.org geht, oder wenn ein junges Paar beim Sex im Schwimmbad erwischt wurde? Die letzte ist eine rhetorische Frage. Der Autor kennt die Zahlen. Sie sind beschämend.
Was wollt ihr sein – Komparse oder Kritiker?
Was interessieren sollte, und was tatsächlich interessiert, ist oft verschieden. Man muss nicht erst Journalist werden, um das zu begreifen. Wird man es doch, stellen sich andere Fragen, zum Beispiel, wie man das eine so verpacken kann, dass es zum anderen wird, ohne es dabei zu verfälschen. Wer das nicht tut, hat aufgegeben.
Denkt euch also, wenn es denn sein muss, die Netzpolitik-Affäre wie die Handlung einer Serie. Mit vielschichtigen Rollen, plötzlichen Wendungen, einem Spannungsbogen und einem großen Finale. Mit finsteren Scharfmachern, willfährigen Erfüllungsgehilfen, aalglatten Haien und düsteren Demagogen – aber legt euch nicht zu schnell fest, wer eigentlich wer ist. Auch die Serie wird erst spannend, wenn man dran bleibt, das Geschehen verfolgt und nicht bloß jede zehnte Folge schaut. Oft steht die Auflösung erst ganz am Ende. Und manchmal bleibt das Ende offen.
Der Unterschied ist allerdings, dass ihr hier nicht die Zuschauer seid. Wenn ihr wegschaut, dann seid ihr die Komparsen, die bei der Verfolgungsjagd über den Haufen gerannt werden und am Wegesrand liegen bleiben. Wenn ihr hinseht, dann seid ihr die Kritiker, die das Geschehen bewerten und Impulse für die Handlung setzen. Die Techniker, die Ton und Licht der Szene setzen. Vielleicht eines Tages sogar die Drehbuchschreiber, die den weiteren Verlauf bestimmen.
Eine Rolle habt ihr immer. Welche, das liegt bei euch.
Folgen Sie dem Autor hier auf Twitter.
* Anm. d. Red.: Hier stand zunächst 95. Geändert am 7.8.2015, 11:59
Constantin Baron van Lijnden, Aufruf an die Juristenschaft: . In: Legal Tribune Online, 07.08.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16530 (abgerufen am: 12.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag