Erneut wendet sich ein Gericht wegen der Cannabis-Verbotsvorschriften im BtMG an das BVerfG. Nach Meinung des AG Pasewalk seien diese verfassungswidrig – auch von der entsprechenden Untätigkeit des Gesetzgebers ist das Gericht nicht begeistert.
"Das Gericht lehnt die Eröffnung des Verfahrens mit dem Hinweis auf die mögliche Verfassungswidrigkeit der zugrunde liegenden Vorschriften ab."
Diesen Satz liest man derzeit immer häufiger in amtsgerichtlichen Beschlüssen, in denen es um die Strafbarkeit von Cannabis-Besitz geht. Nach den Amtsgerichten (AG) Bernau und Münster hat sich nun auch das AG Pasewalk wegen diverser, aus seiner Sicht verfassungswidriger Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) per Richtervorlage nach Art. 100 Abs.1 Grundgesetz (GG) an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gewandt (Beschl.v.29.06.2021, Az. 307 Ds 159/21).
So verletzten die § 29 Abs.1 Nr.3, 29a und 31a BtMG, soweit sie den Besitz von Cannabisprodukten unter Strafe stellen, eine Vielzahl von Grundrechten und verfassungsrechtliche Vorgaben (Art. 2 Abs. 1 GG Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG). Auch genügten sie nicht mehr dem Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103 Abs.2 GG, da nicht ersichtlich sei, wann von einer "geringen Menge zum Eigenbedarf" auszugehen sei, die nach § 31a BtMG die Einstellung des Strafverfahrens ermögliche.
Kritik an uneinheitlicher Einstellungspraxis
Dem Gesetzgeber warf das Gericht vor, es bis heute nicht geschafft zu haben, verbindliche Vorgaben für eine einheitliche Einstellungspraxis zu machen, obwohl dies vom BVerfG bereits 1994 gefordert worden sei (BVerfG 90, 145-226). Die derzeit in den Bundesländern höchst unterschiedliche Verfolgungspraxis bewertet die Richterin am AG vor diesem Hintergrund als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art.3 Abs.1 GG. So variiere die Schwankungsbreite von Kann-Einstellungen in den Bundesländern von sechs über zehn bis 15 Gramm. Außer im Land Berlin werde zudem "jedwede Einstellung in das Ermessen der Staatsanwaltschaft gestellt, wobei die Richtlinien nicht zeigen, in welch unterschiedlichem Ausmaß die Staatsanwaltschaften von dem gewährten Ermessen Gebrauch zu machen haben." Kritik übte das Gericht hier auch an der eigenen Landesregierung: "In Mecklenburg-Vorpommern existiert weder ein Gesetz noch eine Verordnung oder Richtlinie o.ä., die die Einstellungspraxis regeln würde."
Beseitigt werde die Ungleichbehandlung auf Bundesebene auch nicht durch die sog. "prozessuale Lösung" der Einstellung nach § 31a BtMG, nach §§ 153, 153a Strafprozessordnung (StPO) oder §§ 45, 47 Jugendgerichtsgesetz (JGG). Denn letztlich, so das AG, könne auch eine Einstellung des Verfahrens nicht die diskriminierende Wirkung einer Durchsuchung der Person oder der Wohnung vor Zeugen, der Aufnahme in die im Volksmund als Verbrecherkartei benannte Erkennungsdienstliche Maßnahmendatei oder einer peinlichen Beschuldigtenvernehmung beseitigen. "Ermittlungen sind bereits so intensive Eingriffe, dass auch sie bundeseinheitlicher Lösung unterworfen werden müssen."
Cannabis als "gefährliche Droge"?
Auch aus anderen Gründen kritisiert das mecklenburg-vorpommersche AG in seinem Beschluss den Gesetzgeber: So lägen längst neue Tatsachen vor, die für eine geringere Gefährlichkeit des Cannabiskonsums sprechen, als etwa noch 1994 allgemein angenommen. Damit rücke auch die Abwägungsentscheidung zwischen Präventionsbedarf und den Eingriffen und Nebenfolgen einer Kriminalisierung in ein "grundlegend neues Licht".
Obwohl die UN-Suchtkommission am 2. Dezember 2020 Cannabis von der Liste gefährlicher Drogen gestrichen habe, werde die "Heilpflanze Cannabis" in Deutschland noch immer in der Anlage I des § 1 Abs.1 BtMG neben Heroin, Kokain etc. aufgeführt, beklagt die Richterin.
Der Bundesregierung wirft das Gericht in diesem Kontext Inkonsequenz vor: Wenn sie in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen (BT-Drs. 19/22651) erkläre, dass sie die Ziele und Grundsätze der internationalen Drogenpolitik unterstütze, sei auch zu erwarten, "dass aktuelle Entscheidungen insbesondere von Kommissionen der Vereinten Nationen sowie aktuellste wissenschaftliche Forschungen bei der Ausübung der Einschätzungsprärogative immer wieder neu einbezogen und Gesetze umgehend daran anpasst werden".
Über mehrere Seiten des insgesamt 65-seitigen Beschlusses begründet das AG Pasewalk schließlich auch - ähnlich wie Jugendrichter Müller vom AG Bernau in seiner Vorlage an das BVerfG - warum die unterschiedliche rechtliche Behandlung von Cannabis gegenüber dem Alkohol in Deutschland "grob willkürlich" sei und einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. I GG darstelle.
"Legalisierung aus medizinischer Sicht unbedenklich"
Die sachlichen Gründe für eine Differenzierung zwischen Alkohol- und Cannabisprodukten, die das BVerfG in seiner Entscheidung von 1994 aufführte, greifen laut AG Pasewalk aus der Sicht heutiger Erkenntnisse und Entwicklungen längst nicht mehr und ließen eine Kriminalisierung von Cannabisprodukten neben dem erlaubten Konsum von Alkohol und Tabak nicht länger aufrechterhalten. "Inzwischen kann als gesichert gelten, dass bei Legalisierung von Cannabis aus medizinischer Sicht kein Schaden angerichtet wird", heißt es in dem richterlichen Beschluss unter Verweis auf einen Artikel des Ärzteblatts.
Außerdem komme eine britische Vergleichsstudie zum Ergebnis, dass von Alkohol und Tabak ein wesentlich höherer Schädigungsgrad ausgehe. "Die Minderheit der Cannabiskonsumenten in der Bundesrepublik Deutschland ist die Gruppe, die ohne sachlichen Grund strafrechtlich am meisten in Mitleidenschaft gezogen wird", heißt es im Beschluss.
Das BVerfG hatte 1994 die Ungleichbehandlung zwischen Cannabis und Alkohol u.a. auch deswegen als verfassungskonform angesehen, weil die Konsumgewohnheiten in Deutschland und dem gesamten europäischen Kulturkreis eine effektive Unterbindung von Alkohol unmöglich machten, dies für die "kulturfremde Droge Cannabis" jedoch nicht gelte.
AG: Cannabis mittlerweile "Alltagsdroge"
Diese Einschätzung hält das AG Pasewalk heute für überholt: "Die Zahl der Gelegenheitskonsumenten in der Bundesrepublik wird mit bis zu vier Millionen angegeben. Die Zahl der Bürgerinnen und Bürger, die Cannabis bisher probiert haben, ist vermutlich wesentlich höher. Von einer kulturfremden Droge kann heutzutage nicht mehr gesprochen werden. Cannabis ist in der heutigen Gesellschaft dermaßen weit verbreitet, dass von einer Alltagsdroge gesprochen werden müsse."
Im konkreten Strafverfahren, das das AG Pasewalk nun ausgesetzt und dem BVerfG vorgelegt hat, warf die Staatsanwaltschaft einem Mann den Besitz von rund 57 Gramm Marihuana-Blüten und 14 Gramm Haschisch vor. Da das AG keinen Spielraum für eine verfassungskonforme Auslegung der in Betracht kommenden Strafvorschriften sah, lehnte es die Eröffnung des Hauptverfahrens ab.
AG Bernau 2004 noch mit Vorlage gescheitert
Wann das BVerfG über die gerichtlichen Normenkontrollanträge zum Thema Cannabis entscheiden wird, ist noch offen. BVerfG-Sprecher Pascal Schellenberg rechnet in diesem Jahr nicht mehr mit einer Entscheidung, teilte er auf LTO-Anfrage mit.
2004 hatten die Karlsruher Richter:innen eine Richtervorlage des AG Bernau u.a. mit der Begründung für unzulässig erklärt, dass sie an die Entscheidung von 1994 nach § 31 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz gebunden seien (Beschl. v. 29.06.2004, Az. 2 BvL 8/02). Das AG habe keine neuen Tatsachen dargelegt, "die geeignet seien, eine von der früheren Erkenntnis des BVerfG abweichende Entscheidung zu ermöglichen", hieß es 2004.
Doch nicht zuletzt nachdem inzwischen auch eine Reihe anderer Staaten positive Erfahrungen mit der Legalisierung von Cannabis gemacht haben, hoffen Cannabis-Aktivist:innen 17 Jahre später auf eine verfassungsrechtliche Neubewertung durch das Karlsruher Gericht. Oder auf eine Bundesregierung, die in der Drogenpolitik einen anderen Kurs fährt.
Richtervorlage des AG Pasewalk: . In: Legal Tribune Online, 27.08.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45842 (abgerufen am: 11.12.2024 )
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