Ein Parteiverbot der AfD anzustrengen, ist umstritten. Doch es wäre nicht das einzige Instrument gegen Verfassungsfeinde, das im Grundgesetz vorgesehen ist. Das BVerfG könnte auch einzelnen Personen die Ausübung von Grundrechten versagen.
Deutsche Staatsbürger, die einem nicht "deutsch" genug sind, nach Afrika abschieben – das klingt absurd. Doch ist die Möglichkeit, dass entsprechende Pläne in die Tat umgesetzt werden, durchaus real, wie eine vielbeachtete Correctiv-Recherche warnt. Dort soll der österreichische Rechtsextreme Martin Sellner unter dem Euphemismus der "Remigration" einen solchen "Geheimplan" vorgestellt haben. Auch AfD-Politiker sollen dabei gewesen sein: ein Landesfraktionschef, ein Bundestagsabgeordneter und ein persönlicher Referent von Alice Weidel.
Die Recherche befeuert die Diskussion um ein mögliches AfD-Parteiverbot, die ohnehin seit Wochen läuft. Weniger Aufmerksamkeit bekommt bislang ein zweites Instrument der "wehrhaften Demokratie": die Verwirkung von Grundrechten gemäß Art. 18 Grundgesetz (GG).
Die ehemalige Verfassungsrichterin Prof. Dr. Gertrude Lübbe-Wolff hatte diese Möglichkeit im Oktober ins Spiel gebracht, Verfassungsrechtler Prof. Dr. Christian Waldhoff bestätigte diese Option am Donnerstagabend im ZDF "heute Journal". Zudem existiert eine Online-Petition, die darauf hinwirken will, dass die Bundesregierung gegen den Thüringer AfD-Chef Björn Höcke ein Verwirkungsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anstößt. Ihr Unterschriftenziel von 500.000 hat sie beinahe erreicht. Rechtlich zu bestimmten Handlungen verpflichten würde die Petition weder die Bundesregierung noch die Fraktionschefs "der demokratischen Parteien", an die sie sich richtet. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema wäre aber unausweichlich.
Was Art. 18 GG wann erlaubt
Entscheiden kann über die Verwirkung von Grundrechten – ebenso wie über ein Parteiverbot – nur das BVerfG (Art. 18 S. 2 GG). Initiieren können das Verfahren der Bundestag, die Bundesregierung oder eine Landesregierung (§ 36 Bundesverfassungsgerichtsgesetz, BVerfGG).
Oft ist das bislang nicht vorgekommen – und die wenigen Anträge waren bislang alle erfolglos, so etwa 1974 ein Antrag der Bundesregierung gegen den Herausgeber der Deutschen "Nationalzeitung" Gerhard Frey (Beschl. v. 02.07.1974, Az. 2 BvA 1/69). Ob eine Grundrechtsverwirkung im Fall von Björn Höcke und anderer AfD-Politiker mit Kontakten in rechtsextreme Kreise realistisch wäre, ist fraglich. "Die Hürden sind hoch, aber es spricht einiges dafür, dass die Voraussetzungen in diesem Fall vorliegen", sagt Verfassungsrechtler Prof. Dr. Alexander Thiele gegenüber LTO.
Art. 18 GG koppelt die Rechtsfolge der Verwirkung eines Grundrechts an den vorherigen "Missbrauch" desselben Grundrechts "zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung" (FDGO). In Betracht kommen nur bestimmte Grundrechte, z.B. die sog. Kommunikationsgrundrechte der Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1), der Lehrfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), und die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG).
Das heißt: Wer seine Meinungsfreiheit zum Kampf gegen die FDGO missbraucht, kann für die Zukunft das Recht verlieren, sich auf die Meinungsfreiheit zu berufen. Eine Meinung äußern kann der Betroffene dann immer noch. Wird er aber durch Hoheitsträger daran gehindert oder dafür sanktioniert, ist ihm eine Berufung auf Art. 5 Abs. 1 GG jedenfalls fortan versagt.
"Geheimplan gegen Deutschland" sicherlich FDGO-feindlich
Der Begriff der FDGO hat im Laufe der Zeit Konkretisierung erfahren. Schon in den 50er Jahren legte das BVerfG Kernelemente fest: Die FDGO setze Rechtsstaatlichkeit, demokratische Repräsentation sowie Freiheit und Gleichheit der Bürger voraus, schließe dagegen "jegliche Gewalt und Willkürherrschaft" aus. Für einen "Kampf" gegen die FDGO verlangt das BVerfG eine in der Zukunft bestehende "Gefährlichkeit" des Betroffenen. Neben den vertretenen Inhalten sei dafür auch die Reichweite der Person entscheidend. Weil es in Bezug auf Freys "Nationalzeitung" laut BVerfG hieran fehlte, lehnte es eine ernsthafte Gefahr in seinem Fall ab.
Bei Politikern einer Partei, die in bundesweiten Umfragen bei über 20 Prozent liegt, lässt sich die Relevanz nicht verneinen. Und wenn AfD-Politiker tatsächlich planen sollten, deutsche Staatsbürger abzuschieben, lässt sich ein Angriff auf die FDGO wohl bejahen. Denn dieser mutmaßliche Plan erinnert stark an NS-Willkür, Rassengesetze und Deportationen – und das Grundgesetz ist laut BVerfG ein "Gegenentwurf" dazu. Es sei, so das Gericht in seiner Wunsiedel-Entscheidung, "von seinem Aufbau bis in viele Details hin darauf ausgerichtet, aus den geschichtlichen Erfahrungen zu lernen und eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen".
Ob allen Teilnehmern des kolportierten "Geheimtreffens" Angriffe auf die FDGO nachzuweisen sind, ist fraglich und müsste sorgfältig geprüft werden. Auch wenn Höcke beim Treffen nicht dabei gewesen ist, könnte eine Verwirkungsentscheidung in seinem Fall weniger problematisch sein: Der Thüringer AfD-Landesverband ist vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft worden, die Aussagen und Verbindungen von Landeschef Höcke sind einer, wenn nicht der zentrale Grund dafür. Daher erscheint nicht ausgeschlossen, dass Ermittler auf belastbare Beweise nicht nur für ein Verbot des AfD-Landesverbandes, sondern auch für ein Verwirkungsverfahren gegen Höcke oder andere Personen stoßen.
Ausschluss von der Wahl möglich
Würde die Bundesregierung, der Bundestag oder eine Landesregierung tatsächlich den Antrag nach Art. 18 S. 2 GG stellen, müsste das BVerfG zunächst in einem Vorverfahren nach § 37 BVerfGG prüfen, ob der Antrag als unzulässig oder als nicht hinreichend begründet zurückzuweisen ist. Der von der Verwirkung Betroffene wäre vorher anzuhören. Zudem könnte das Gericht zur weiteren Vorbereitung einer mündlichen Verhandlung in Karlsruhe eine Voruntersuchung sowie Durchsuchungen und Beschlagnahmen nach der Strafprozessordnung anordnen (§ 38 BVerfGG). Wie lange ein solches Verfahren dauern würde, ist laut Staatsrechtler Thiele aufgrund der kaum vorhandenen Erfahrungen mit dieser Verfahrensart kaum abzuschätzen. Die bisherigen vier Verfahren dauerten jeweils mehrere Jahre.
Hält das BVerfG die Voraussetzungen des Art. 18 S. 1 GG für gegeben, kann es diese Verwirkungsfolge auf eine bestimmte Zeit oder bestimmte Tätigkeiten beschränken (§ 39 BVerfGG). Ist die Verwirkung unbefristet ausgesprochen und liegen ihre Voraussetzungen nach Ansicht des Betroffenen nicht mehr vor, kann er das BVerfG um die Aufhebung der Verwirkung anrufen. Dafür müssen seit der Verwirkungsentscheidung aber zwei Jahre vergangen sein. Das Gericht kann die Verwirkung aufheben, sie beschränken oder befristen (§ 40 BVerfGG).
Thiele weist noch auf eine weitere, fast versteckte, aber sehr wichtige Rechtsfolge hin: Obwohl Art. 18 nur die genannten Grundrechte erwähnt, erlaubt § 39 Abs. 2 BVerfGG dem BVerfG, zusätzlich zur Verwirkung des missbrauchten Grundrechts auch das aktive und passive Wahlrecht sowie die "Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter" abzuerkennen. Im Fall hochrangiger Politiker läge es dann sicherlich nahe, sie vom Wahlzettel zu streichen, auch wenn das BVerfG sicherlich nicht vor der Thüringer Landtagswahl im September entscheiden würde.
Insofern ist das Verwirkungsverfahren eine personenbezogene Alternative zum Parteiverbot. Strategisch sprechen damit auch ähnliche Argumente dafür wie dagegen. Hinzu kommt laut Thiele allerdings, dass ein Verwirkungsverfahren ohne gleichzeitiges Parteiverbot den Betroffenen nicht daran hindern würde, weiterhin informell Einfluss auf die Partei zu nehmen. Höcke würde womöglich als "Märtyrer" gefeiert werden.
Alternativen zum AfD-Parteiverbot: . In: Legal Tribune Online, 12.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53628 (abgerufen am: 09.11.2024 )
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