Ein Glas Milch, das zu teuer verkauft wird, ein Redakteur, der Lästerliches über einen Priester schreibt: Es waren kleine und komische Verfahren, aus denen die Gerichtsreporterin Gabriele Tergit kleine, aber großartige Literatur machte. Ein Beitrag aus der Serie zum "Schreiben über Justiz", von Martin Rath.
"'Ich habe das bisschen Geld, das ich noch hatte, in dem Restaurant zugebuttert, ich kann es nicht mehr halten', sagte die müde Frau", angeklagt vor dem Wuchergericht zu Berlin. Es ist eine bittere Geschichte, die wohl in der Existenzvernichtung einer Gastwirtin endet. Sie spielt in den Zeiten der deutschen Sondergerichte. Gabriele Tergit, die bekannteste Gerichtsjournalistin der 1920er- und 1930er-Jahre, erzählte aus einer Welt, in der Preise sich nicht am Markt bilden durften: "Ein Angestellter, der 250 Mark im Monat verdient, hatte einen Ausflug gemacht", ins fragliche Restaurant bei Berlin, den Sommerabendstraum der 1920er-Jahre träumend, Schnitzel mit Bratkartoffeln, "war eingekehrt und hatte –– kann man bescheidener sein? – für sich und seine Frau zwei Gläser Milch bestellt, für die er 1,35 Mark zahlen musste. Er war empört und brachte die Sache zur Anzeige."
Reporterin in Zeiten der Gerichtssozialdramen
Die Sache kam zur Verhandlung, es folgte die Anklage wegen Verstoßes gegen eine der zahllosen wirtschaftsstrafrechtlichen Vorschriften, mit denen das Kaiserreich im Krieg und die junge Weimarer Republik die Preisbildung zu kontrollieren versuchten, insbesondere bei Gütern des täglichen Bedarfs. Im November 1919 wurde dazu mit den Wuchergerichten eine Sondergerichtsbarkeit eingerichtet. Mancher Paragraph dürfte noch heute die Augen hartherziger Rechtspolitiker zu Tränen rühren. Untersuchungshaft wegen Fluchtverdachts dufte beispielsweise angeordnet werden, "ohne daß der Verdacht der Flucht einer weiteren Begründung bedarf".
Tergits Bericht vom Prozess gegen die Gastwirtin beschreibt melancholisch den Irrsinn des Wirtschaftsstrafrechts im Jahr 1925: Der Preis für die strittigen Gläser Milch lag circa beim Sechsfachen des Einkaufspreises. Ein Sachverständiger rechnete das durch. Das Argument der Wirtin, die Pachtkosten für ihr Lokal könnten anders nicht erwirtschaftet werden, stieß auf taube Ohren. Die Gerichtsjournalistin schloss, dass das Leben in der Großstadt doch ein trauriges sei, wenn kleine Gastwirtinnen ihren kleinen Gästen keine günstigeren Bedingungen bieten könnten.
Gabriele Tergit, eine immer wieder zu Entdeckende
Anders als ihr großes Vorbild, der berühmte und zurzeit mit "Der Mensch, der schießt" wieder im Buchhandel greifbare Gerichtsjournalist Paul Schlesinger (1887-1928), hat seine jüngere Kollegin, die 1894 in Berlin als Elise Hirschmann geborene, 1982 im Londoner Exil verstorbene Gabriele Tergit bislang in Deutschland nur eine bescheidene Renaissance erlebt, beispielsweise mit einer wunderbaren Sammlung ihrer Gerichtsreportagen, die 1999 unter dem Titel "Wer schießt aus Liebe?" erschien.
Schade, dass sie nicht mehr Beachtung findet, denn Tergit ist in ihren Beobachtungen bei Gericht witzig, wo man es nicht vermuten möchte: "In Wien hat ein Polizeibeamter seine Frau ermordet. Dieser Wachtmeister hatte [während des Weltkriegs] eine Bauerntochter mit ehrbarer Mitgift geheiratet zu einer Zeit, da es im verhungernden Wien weder Brot noch Fleisch, weder Eier noch Fett gab. Aber Brot und Fett kamen wieder, die Bauernmagd blieb jedoch eine Bauernmagd, wurde weder eine fesche noch eine leichtlebige Wienerin, sondern dem Wachtmeister peinlich. Er jagte sie davon, doch die Arme, die ihn liebte, kam zurück, schlicht und einfältig, wie sie war, bis der Rohling sie erschlug."
2/2: Darf oder kann man so heute noch erzählen?
Wird dem Strafprozess nun schon seit Jahren angekreidet, er sei zu täterorientiert, als ob das sinnvoll auch anders sein könnte, erwartet das lesende Publikum heute womöglich doch mehr Empathie mit den Opfern. Ob die Tergit ihr mit wenigen Worten bissig gezeichnetes Beziehungsdrama von einer Ehe aus wirtschaftlichen Motiven und von dem Mord, bedingt durch krankhafte Bindungswünsche, so kurz und herzlos heute noch erzählen dürfte?
Um das Beispiel zu wechseln: Ein linksradikaler Redakteur schrieb über einen Priester, der in einem Bordell angetroffen worden war, "mit einem Drittel Ehrlichkeit, einem Drittel Pikanterie und einem Drittel Schlagworten und wirft der katholischen Kirche Erziehung zu Betrug, Heuchelei und Perversität vor." Wegen dieser "Gotteslästerung" angeklagt, strafbar nach § 166 Reichsstrafgesetzbuch, äußert sich der jugendliche Linksradikale zur Sache und zur Person, es "beginnt seine ausführliche Verhedderung, die man Weltanschauung nennt", womit Tergit eine griffige Definition von "Weltanschauung" liefert.
Vertrauenskrise der Justiz
Der Gotteslästerer lässt sich im Anschluss an seine Verhedderung – auf die Frage des Richters, ob er glaube, freigesprochen zu werden! – noch dahin ein, dass es ihm gleichgültig sei, O-Ton: "Er sagt lächelnd: 'Ich lebe in einer anderen Welt', wobei sein Stenograph sich niederbeugt und es mitschreibt." Tergit bemerkte dazu, dass sich "diese modernen Christusse" zwar gerne kreuzigen ließen, "aber der Stenograph muß es für die Nachwelt aufzeichnen".
So sehr Tergits Gerichtsberichte hübsche, böse Miniaturen sind, sind sie Zeugnisse einer – hoffentlich – untergegangenen Welt. Das Kaiserreich kannte, erst mit dem strafrechtlichen Schutz von Glaube, Sitte und Moral, dann durch die kriegswirtschaftlichen Vorschriften, die noch in die staatlich gesteuerte Nachkriegswirtschaft verlängert wurden, eine dramatische Überdehnung des Strafrechts: Ein überteuertes Glas Milch genügte, eine schlichte Gastwirtin vors Sondergericht zu bringen.
Gustav Radbruch (1878-1949), der Rechtsphilosoph und SPD-Politiker – Nachgeborenen ist er von der "Radbruch’schen Formel bekannt", mit der er 1946 der Rechtsdogmatik soweit die Schnürsenkel lockerte, dass Juristen noch heute darüber stolpern – rief 1926 eine "Vertrauenskrise der Justiz" aus. Auf Fehlurteile oder strafbares Verhalten in der Richterschaft reagiere die Justiz durch "(g)ekränkte Zurückweisung der Vorwürfe, halbgewollte Blindheit gegen Mißstände, überlegene Gleichgültigkeit gegen den Tadel, jedenfalls Mangel, jedes Willens, sich mit dem bedrohlich gewachsenen Mißtrauen … sachlich auseinanderzusetzen".
Daran, dass man der Justiz nicht den Auftrag geben sollte, ein völlig überdehntes materielles Strafrecht anzuwenden, dachte der Gelehrte dabei weniger. Sanktionsgläubige Rechtspolitiker ließen sich schon damals ihr Spielzeug ungern nehmen. Das Protokoll der Reichskabinettssitzung, in der die Abschaffung der Wuchergerichtsordnung auf der Tagesordnung stand, verzeichnet beispielsweise von Seiten des Arbeitsministers Bedenken, weil die Preise vielfach noch außergewöhnlich hoch seien, während der Justizminister darauf hinwies, dass "keinesfalls materielle Wucherbestimmungen aufgehoben würden".
Gabriele Tergit hat wunderbare Gerichtsreportagen geschrieben, die zu lesen unbedingt lohnt. Sollte ihr oft bissiger und melancholischer Ton, in dem sie den Untergang der kleinen Leute vor den Schranken der Justiz schilderte, in die heutige Gerichtsberichterstattung wieder einziehen, dann wüssten wir: Das Strafrecht ist – wieder – hoffnungslos überdehnt.
Literatur: Gabriele Tergit: "Wer schießt aus Liebe?", herausgegeben von Jens Brüning, Verlag das Neue Berlin, 1999. Robert Kuhn: "Die Vertrauenskrise der Justiz", Köln 1983.
Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Gerichtsjournalismus: Scharfe Worte für eine überdehnte Justiz . In: Legal Tribune Online, 20.04.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11745/ (abgerufen am: 28.04.2024 )
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