Zu Weihnachten wird zwar gern davon gesungen, dass jemand im Stall "einsam wacht". Doch eine Würdigung als juristische Figur hat die Stallwache lange nicht mehr erlebt – trotz beachtlicher Bemühungen, sie zu modernisieren.
Bis in den Stall von Bethlehem reicht die Rechtsfigur der "Stallwache" zwar nicht zurück, gleichwohl hat sie eine beachtliche historische Wegstrecke zurückgelegt.
Ihren frühesten und zugleich prominentesten Auftritt hat sie auf dem erlauchtesten Gebiet der deutschen Rechtswissenschaft, also im Staatsrecht, und zwar in Gestalt eines virtuellen Oberstallknechts.
Im Kampf um das Recht als ein solcher anerkannt zu werden, stand beispielsweise der sächsische Kurfürst auf dem Augsburger Reichstag von 1530 vor einem erheblichen verfassungsrechtlichen Problem, folgt man etwa der Darstellung, die der französische Historiker Joseph Barre (1692–1764) in seiner "Allgemeinen Geschichte von Deutschland, vor und nach der Errichtung des Kaiserthums bis auf izige Zeiten" (deutsch 1751) gab.
Eröffnet wurde der Reichstag durch eine "feyerliche Messe des heiligen Geistes", also nach katholischem Ritus. Nach altem Brauch befahl der Kaiser dem Kurfürsten "die Verrichtung eines Erzmarschalls des Reiches dabey auszuüben und das kaiserliche Schwerdt vorzutragen".
Schwerttragender Oberstallwächter
Die weltlichen, zur Wahl des römisch-deutschen Königs befugten Kurfürstenämter waren mit den symbolischen Hoffunktionen des Truchsess, Kämmerers und Mundschenks verbunden – und eben mit dem des Marschalls. Die rituelle Aufgabe dieses ursprünglich mit den Stallfragen bedachten Hofamtes bestand darin, dem Kaiser das Reichsschwert voranzutragen.
In Augsburg befand sich nun der Kurfürst "in einer großen Verwirrung" (Barre). Denn der unlängst zum Lutherischen Bekenntnis übergelaufene Sachse hatte seinen symbolischen Auftritt hier in einer katholischen Glaubensfeier zu absolvieren. Sollte er sich verweigern, drohte sein reichsverfassungsrechtlicher Status der Kur- und damit Kaiserwahlkompetenz auf einen anderen Fürsten umgeschrieben zu werden.
Die sächsischen Rechtsgelehrten schlugen ihrem Fürsten daher vor, die heilige Messe einfach als eine zugleich kirchliche wie weltliche Zeremonie zu betrachten. Das Ehrenamt des Marschalls sollte damit vom katholischen Götzendienst unbefleckt ausgeübt werden können.
Von virtuellen und praktischen Stallwächtern
Von dieser Genialität sächsischer Rechtsgelehrter in der Produktion von Ambiguitätstoleranz ließe sich gewiss noch heute, in Zeiten unaufhörlicher "Kopftuch"-Probleme, profitieren. Doch soll es hier darum gehen, dem Gang der Stallwache durch die Geschichte zu folgen.
Der seit dem späten Mittelalter symbolischen Titel des Marschalls verdankte der Sachsenfürst einem Hofamt, dessen Bezeichnung sich aus den althochdeutschen Wortbestandteilen "marah" für "Pferd, Mähre" und "scalc" für "Knecht, Diener" ableitet.
Infolge der konsequenten Umsetzung des Wettbewerbsföderalismus im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation blieb zwar zu wenig von der Zentralgewalt übrig, als dass ein Fürst tatsächlich über die Reiterei und die Stallungen des Kaisers hätte walten können, das Prestige des Titels "Marschall" färbte aber bekanntlich bis in die Gegenwart ab.
Wie weit sich beispielsweise US-Präsident George Washington (1732–1799) im Jahr 1789 vom alten Glanz inspirieren ließ, als er 13 Justizbeamte mit eher profanem Aufgaben zu den ersten U.S. Marshalls ernannte, lässt sich zwar nicht nachvollziehen. Bedenkenswert ist aber, dass die verfassungspolitische Diskussion seinerzeit auch der Frage nachging, ob das amerikanische Staatsoberhaupt nicht als Kaiseramt auszugestalten wäre.
Dem Titel lag auch 1814 ein Zauber inne. Denn als die 1814 frisch als Königreich organisierten Niederlande ihre Polizeibehörden einrichteten, bezeichnete man sie als eine "Koninklijke Marechaussee", um sich von der verhassten Gendarmerie der französischen Herrschaftszeit abzugrenzen.
2/2: Positivrechtliche Regelungen der Stallwache
Abzugrenzen von der Geschichte des Titels ist die positive Regelung der Stallwache im engeren Sinn.
Deren Funktionen werden beispielsweise in "Seiner Majestät Kurfürstlichen Durchleucht von der Pfalz Kriegs-Reglement für dero sämmtliche Cavallerie" (1780) im Rahmen einer Stallordnung beschrieben. Neben detaillierten Beschreibungen, welche Pferde wie zu füttern seien, finden sich hier Regelungen zur Vermeidung des Feuers im Stall oder zur Gehorsams- und Meldepflicht der Stallwache gegenüber ihren Vorgesetzten. Auf diesen Punkt wird später zurückzukommen sein.
Die Obliegenheiten der Stallwache wurden in der Literatur immer weiter verfeinert. Ein Werk unter dem hübschen Titel "Der vollkommene Preußische Soldat im Kriege und im Frieden" klärt etwa 1836 über den Umgang mit Betriebsmitteln auf: Streng untersagt sei es der menschlichen Stallwache beispielsweise – neben jeder Unordnung, dem Tabakrauchen, Singen, Pfeifen –, sich selbst in Pferdedecken warmzuhalten.
Theodor von Bockum-Dolffs arbeitet in seinem Handbuch für den Escadron-Dienst (1842) unter anderem weiter aus, dass die Zuteilung von Stallwachdiensten sowie die Besonderheiten der Pferde dem in Frage kommenden Personal mittels Wachbuch- und einer im Stall angebrachten Schautafel näherzubringen seien.
Ihren Weg in die moderne Verwaltung fanden die Maßgaben des militärischen Stallwachenwesens schließlich u.a. über die Instruktionen für die Berliner Feuerwehr (1880). Die Einsatzfähigkeit des königlich-preußischen Polizei- und Feuerwehrpferdes wurde etwa dadurch gesichert, dass die Stallwache "nur mit Erlaubnis des die Aufsicht führenden Oberfeuermannes und nach Anordnung einer Vertretung durch den letzteren austreten" durfte.
Verfall des deutschen Stallkulturvorbilds
Bis in die 1960er Jahre motorisierte sich bekanntlich zunächst das Militär und schließlich die Landwirtschaft, mit der Konsequenz, dass sich das deutsche Volk weitgehend vom Pferd und der mit der haferbasierten Mobilität verbundenen Stallkultur entfremdete.
Statt jedem wehrpflichtigen jungen Mann den Genuss eines Stallwachentrainings mit vierbeinigem Feedback zur Qualität dieser Wachleistung zu verhelfen, ist das Stallwesen heute ausdifferenziert in die freizeitaffine Fraktion der Reitsportfreundinnen (m/w) sowie die von der menschlichen Lebenswelt abgeschotteten Fabriken der landwirtschaftlichen Tierkörperproduktion.
In der Konsequenz dieses Kulturverfalls ist kaum ein heutiger Dienstvorgesetzter in der Lage, die Gehorsams- und Meldepflichten einer Stallwache noch mit jener Präzision zu beschreiben, die etwa im kavelleristischen Kriegs-Reglement von 1780 zu finden war.
Wie tief die Hilflosigkeit reicht, lässt etwa der Rechtsstreit zwischen einem Rechtsanwalt und seiner früheren Anwaltsgehilfin erkennen, in dem das Arbeitsgericht Köln mit Urteil vom 26. Februar 2004 entschied (Az. 8 Ca 13761/02): Der ehemaligen Mitarbeiterin machte der Anwalt u.a. zum Vorwurf, dass diese während eines von ihm absolvierten fünftägigen Urlaubs 6 Minuten und 8 Sekunden telefoniert hatte sowie insgesamt 6 Stunden im Internet war – ein 2002 vielerorts noch denkunmöglicher Vorgang.
Das Gericht hielt dem Anwalt vor, nicht dargelegt zu haben, inwieweit Arbeit liegen geblieben sei, habe er die Gehilfin doch im Wesentlichen in die "'Stallwache' und Verfügbarkeit für eventuell kontaktierende Mandanten oder sonstige Geschäftspartner" eingewiesen.
Gemessen daran, dass das ältere preußische Reglement sogar noch vorgab, wann einer Stallwache erlaubt sei, die Toilette zu benutzen (1880) und dem "perfekten Preußischen Soldaten" 1836 vermittelt wurde, dass ihm der Gebrauch der Betriebsmittel nicht zusteht, hat sich mithin ein bis zur Inhalts-, ja Sinnlosigkeit offener Begriff der "Stallwache" eingeschlichen.
Reaktivierung des Stallwachenbegriffs?
Einen beachtlichen Versuch, dem Begriff der Stallwache nicht nur neues Leben einzuhauchen, sondern sie gleichsam zum juristischen Ordnungsmodell zu erheben, machte Bernd Hartmann, Professor für öffentliches Recht in Osnabrück im Jahr 2013.
Unter dem Titel "Spielverbote in Spielbanken und Spielhallen" bezeichnet Hartmann die vornehmlich auf Einlassbeschränkungen begrenzte Sozialkontrolle über Spielsüchtige in Spielbanken als einem "Burgtor-Prinzip" unterworfen. In Spielhallen herrsche dagegen das "Stallwachen-Prinzip": "Der Zugang wird nur im Sinn des Jugendschutzes überwacht, und die Instrumente zum Schutz vor pathologischem Spielverhalten greifen nahezu ausschließlich erst innerhalb der Spielhalle. […] Die Stallwache hält der Knecht, der ab und zu vorbeikommt, um nach dem Rechten zu sehen, und der denjenigen verscheucht, der im Stall nichts zu suchen hat" (LKRZ 2013, 489–492).
So gefällt die Lehre vom öffentlichen Recht!
Nicht im zwar machtpolitisch wichtigen, aber symbolisch leeren Amt des historischen Erzmarschalls liegen Lern- und Lehrpotenziale, sondern in den lebensklug geregelten Obliegenheiten der praktischen Stallwache.
Es bleibt zu hoffen, dass diese Erkenntnis über das Vorbild der Stallwache für eine mehr oder weniger wünschenswerte Sozialkontrolle nicht auf Osnabrück beschränkt bleibt, also jenen niedersächsisch-westfälischen Landstrich, der durch seine Affinität zu Vierbeinern ohnehin schon besonders gesegnet ist.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Die Stallwache: Allein in der (heiligen) Nacht . In: Legal Tribune Online, 24.12.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26175/ (abgerufen am: 01.05.2024 )
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