Britische Diplomaten, die nein und dann ja sagen, eine Menschenrechtsorganisation, die ihre Existenz gegen eine Boulevard-Redaktion verwettet und von Völkern umgesetztes Völkerrecht. Martin Rath über die Geschichte von "Save the Children".
Vor wenigen Tagen folgte die LTO der Idee des Spendenaufrufs 'Lawyers Billable Hours Appeal' des englischen Anwalts Sean Jones und beschloss, diese Aktion auch nach Deutschland zu bringen. Mit dem Projekt 'Juristen helfen Flüchtlingen' sind die Leser derzeit aufgerufen, den Gegenwert von einer Stunde ihrer Arbeitszeit zu spenden. Ihre Spende geht zu gleichen Teilen an "Aktion Deutschland hilft" und an "Save the Children".
Dieser größten unabhängige Kinderrechtsorganisation der Welt widmet sich das Sonntags-Feuilleton. Im Rahmen des Projekts "Flüchtlingskrise: Kinder brauchen dringend Schutz" kümmert sich die Vereinigung um Kinder in den Aufnahmezentren in Lampedusa/Italien und in Griechenland, aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, Somalia und Eritrea.
Die Organisation hat eine weit zurückreichende Geschichte. Im September 1924 beschloss die Völkerbundsversammlung in Genf eine Deklaration über die grundlegenden Rechte des Kindes. Sie zählt zu den ersten Bekundungen grundrechtsähnlicher Normen auf der Ebene internationaler Organisationen, wird oft als Grundlage nachfolgender – unverbindlicher – Erklärungen der United Nations Organisation (UNO) und der – verbindlichen – UN-Kinderrechtskonvention von 1990 genannt.
Erstaunlich ist im Rückblick nicht allein, wie schnell diese Deklaration 1924 auf Initiative der britischen Kinderschutzorganisation "Save the Children Fund" und ihrer Sprecherinnen Eglantyne Jebb (1876-1928) und ihrer Schwester Dorothy Buxton (1881-1963) zustande kam, sondern auch, welche Hoffnungen damals jene gesellschaftlichen Kräfte auf das Völkerrecht und den Völkerbund, der Vorgängerorganisation der UNO, setzten, die man heute als "Zivilgesellschaft" bezeichnet.
Kinder retten, die Briten töten wollen?
Völkerrecht, das die Völker in eine soziale Bewegung versetzt, die so gar nicht den wütenden Online-Protesten gegen finstere Welthandelsabkommen entspricht, sollte man sich näher anschauen.
Davor steht aber ein Blick in die britische Presse, genauer gesagt: die Presse des britischen Weltreichs nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Denn die beiden Damen, die beim Zustandekommen der "Genfer Deklaration über die Rechte des Kindes" eine wesentliche Rolle spielten, hatten mit ihrer Organisation, dem britischen "Save the Chrildren Fund" zunächst eine heftige existenzbedrohende Kontroverse mit einem führenden Boulevardblatt, "The Daily Express" auszufechten.
Warum sollte man Kinder vor dem Hungertod retten, die in 25 Jahren nichts anderes im Kopf haben werden, als uns Briten zu töten? – Diese Frage kreiste nach dem Ende des ersten Weltkriegs nicht allein in den Köpfen paranoid-rechtsradikaler Briten. Der Krieg war mit einem solchen Maß an individueller Gewalterfahrung von Männern und propagandistischer Verhetzung der Frauen einhergegangen, dass die 1919 von Eglantyne Jebb und Dorothy Buxton maßgeblich mitgegründete Hilfsorganisation "Save the Children Fund" (kurz: SCF) ihren Einsatz für – ausländische – Kinder in Not stets rechtfertigen musste.
Modernes Fundraising wird erfunden
Großformatige Anzeigen warben seit 1919 in britischen Zeitungen um Spendengelder zur Rettung von Kindern aus Hunger und der in Zentral- und Osteuropa grassierenden Typhusgefahr. Die anglikanischen und katholischen Erzbischöfe Englands, der Großrabbiner von London und prominente Labour-Politiker unterstützten die ausgesprochen moderne Kampagne. In den Vordergrund gerückt wurden russische Kinder, die in den Wirren des russischen Bürgerkriegs und den Anfangsjahren des kommunistischen Staatsterrorismus besonders darunter zu leiden hatten, dass die Institutionen von Staat und Wirtschaft weitgehend zerrüttet waren.
Der SCF setzte im Fundraising modernste Methoden ein, beispielsweise stammen die ersten Film-Dokumente über diese erste Hungerkatastrophe in der frühen Sowjetunion aus den Kampagnen der britischen Kinder-Wohltäterinnen. Auch erfand man eine Technik, die heute einen Gutteil der Öffentlichkeitsarbeit nicht nur humanitärer Verbände ausmacht: Der SCF lancierte Pressemitteilungen, die man – als Beleg für die selbst getätigten Tatsachenbehauptungen über die Versorgungslage in Russland – wiederum im Verbandsblatt zitierte.
Weit über ein journalistisches Aufklärungsinteresse, das solche weniger feinen, damals noch eher ungewohnten Methoden rechtfertigten, ging das seinerzeit äußerst bedeutende Boulevardblatt "The Daily Express" unter seinem Chefredakteur Ralph David Blumenfeld (1864-1948) gegen die Schützer unbritischer Kinder vor. Der Kampagnenverlauf erinnert an heutige Boulevardstrategien. Behauptung: In Russland gibt es gar keinen Hunger (und außerdem werden uns die ausgewachsenen Bolschewistenkinder später töten).
Gegenbeweis: Der hoch angesehene erste Hochkommissar für Flüchtlinge, Fridtjof Nansen (1861-1930) bestätigt telegraphisch vor Ort, dass es in der Ukraine und in Sibirien wirklich eine Hungersnot gibt. Aber darf man einem solchen Norweger glauben, wo doch ehrbare britische Boulevardzeitungszeugen in Moskau und Petrograd gesättigte Menschen gesehen haben wollen?
Et cetera. Am Ende dieser Auseinandersetzung standen die hohen Eigenkosten für Öffentlichkeitsarbeit und die – bis dahin unbekannte – Fundraising-Organisation im Fokus des "Daily Express". Der SCF ließ nun, grob wiedergegeben erklären: Wir lassen einen vom "Daily Express" bestellten öffentlichen Buchprüfer unsere Geschäfte untersuchen. Sollte es etwas zu beanstanden geben, schließen wir unseren Betrieb.
2/2: Wette gegen Boulevardpresse gewonnen
Diese 'Wette' gewann "Save the Children" und man schloss bis heute nicht. Die Kosten für professionelle Fundraiser wurden zwar wiederum skandalisiert, aber letztlich setzte sich das Modell, nicht traditionell um Spenden zu werben, unter den Hilfsorganisationen durch. Die Boulevardpresse hielt sich nach Appellen an den patriotischen Sportsgeist zurück: Als führende Nation sollten die Briten doch nicht geiziger bei der Rettung der gefährlichen Bolschewistenkinder sein als der Papst, die Franzosen oder Amerikaner, die sich jeweils mit Millionen Lira, Franc und Dollar engagierten.
Angesichts der ambivalenten Haltung daheim war es nicht selbstverständlich, dass "Save the Children" im Verein mit Partnern unter anderem aus Belgien und der Schweiz im Jahr 1924 eine Kinderrechtsdeklaration des Völkerbunds auf den Weg bringen konnte. Es gab weitgehende Ideen, beispielsweise, das Amt eines Hochkommissars für Kinderrechte zu schaffen. Angesichts der materiellen Notlage von Millionen Kindern, auch in Europa, war das kein Gedanke, bei dem man das näselig-unsinnige Herbert-Grönemeyer-Lied "Kinder an die Macht" im Sinn haben müsste.
Die Ausgangslage für menschenrechtliche Deklarationen schien im frisch gegründeten Völkerbund allerdings nicht allzu gut. Bereits in den Vorkriegsjahren waren die britischen Minister allen Bemühungen abgeneigt, kollektive völkerrechtliche Erklärungen zu unterstützen, die dazu geeignet sein könnten, eine britische oder fremdländische Regierung zu "beschämen". Der Resonanzraum des internationalen diplomatischen Betriebs sollte nach dieser Auffassung nicht dazu dienen, Klagen über die desolate Menschenrechtslage in irgendeinem Land weltweites Gehör zu verschaffen.
Immerhin waren sich britische Minister damals noch zu fein, ihr "Nein" offen in die Welt zu posaunen. Man entsandte einfach zu den entsprechenden Konferenzen intellektuell unbedarfte Diplomaten ohne Entscheidungsmacht, um gleichzeitig Präsenz zu zeigen und die jeweilige Sache zunichte zu machen.
Kinderrechte aus Sicht der Völkerbundversammlung
Die kanadische Historikerin Dominique Marshall, die das fast irrwitzige Geflecht an widerläufigen diplomatischen Positionen und Aktivitäten der Kinder- und Menschenrechtsverfechter in der Frühzeit des Völkerbunds am Beispiel der Kinderrechtserklärung aufgeschlüsselt hat, sah schließlich in einem schlichten Klüngel der britischen Upper Class den auslösenden Impuls für das Zurückweichen des britischen Widerstands: Neben den berühmten Jebb-Schwestern, Gründerinnen von "Save the Children", war auch Schwager und Gatte Charles Roden Buxton (1875-1942) mit im Spiel.
Buxton hatte als radikal linksliberaler, dann Labourabgeordneter und Freund des ersten sozialistischen Premierministers Ramsay MacDonald (1866-1937) die Möglichkeit, an höherer Stelle zu antichambrieren, der Haltung der britischen Außenpolitik informell zu begegnen. Beschlossen wurde schließlich von der Völkerbundsversammlung dieser teilweise etwas frömmelnde Text:
Humanitäres Völkerrecht als Bewegung der Völker
Die Aktivistinnen und Aktivisten von "Save the Children", ihre Verbündeten bei den Rot-Kreuz-Gesellschaften und den nationalen Kinderschutz- und -rechtsbewegungen verlegten sich nach der Verabschiedung der Deklaration von 1924 nicht darauf, Lobbyarbeit für weitergehende und völkerrechtlich verbindliche Normen zu betreiben.
Vielmehr wurde die Deklaration als Ausgangspunkt für die Formulierung nationaler Kinderrechtschartas genommen, die auf die jeweiligen vor allem juristischen Problemlagen vor Ort zu sprechen kamen. In den europäischen Ländern soll dieses Anliegen, so die Historikerin Marshall, recht großen Anklang gefunden haben.
Heute hat das Wort von der "Zivilgesellschaft" einen etwas ungünstigen Beiklang bekommen, weil es mitunter den Anschein hat, dass internationale Organisationen sich aus den Leuten vor Ort Akteure nach ihrem Geschmack zurechtmachen, die dann als "Zivilgesellschaft" firmieren und die Verhältnisse zügig umbauen sollen. Im schlimmsten Fall kommen so demokratische Revolutionäre, wie bei den "Farbrevolutionen" in der Ukraine, in Georgien oder in Jugoslawien in den Ruf, nichts weiter als Agenten fremder Mächte zu sein.
Die Kinderrechtsaktivisten von "Save the Children" waren – dank des zähen Widerstands ihrer eigenen Regierung – jedenfalls solchen Vorwürfen nicht ausgesetzt. Das Modell, international eingeforderte Rechte nicht mittels internationaler Kommissare oder der Bindung nationaler Gerichte an das Völkerrecht durchzusetzen, sondern völkerrechtliche Absichtserklärungen vor Ort mit Kampagnenarbeit zugunsten einer Verbesserung inländischer Normen zu nutzen, gewinnt vielleicht auch heute wieder an Charme.
Literatur:
Mahood, Linda; Satzewich, Vic (2009): The Save the Children Fund and the Russian Famine of 1921–23: Claims and Counter-Claims about Feeding "Bolshevik” Children. In: Journal of Historical Sociology (22), S. 55–83.
Marshall, Dominique (1999): The construction of children as an object of international relations: The Declaration of Children’s Rights and the Child Welfare Committee of League of Nations, 1900–1924. In: The International Journal of Children’s Rights (7), S. 103–147.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Die Geschichte hinter "Save the Children": Die Kinder und das Völkerrecht . In: Legal Tribune Online, 13.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16877/ (abgerufen am: 05.05.2024 )
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