Im Sommer 1947 versuchten zwei Gerichte in einer Zivil- und einer Arbeitsrechtssache, über das Unrecht der Vorjahre zu entscheiden. Ihre Ergebnisse waren unbefriedigend, die Kritik daran aber erstaunlich hellsichtig.
Erst im November 1947, zweieinhalb Jahre nach dem Kriegsende in Europa, sollte die US-Militärregierung für ihre Zone – Bayern, Bremen, Hessen und Nordwürttemberg/Nordbaden – das sogenannte Rückerstattungsgesetz erlassen, mit dem die Eigentums- und Erbschaftsverhältnisse geregelt wurden, die aus der Entrechtung, Vertreibung und Ermordung politischer Gegner und jüdischer Bürger in Deutschland resultierten.
Dieses Gesetz Nr. 59 der Militärregierung klärte unter anderem, wie mit dem Eigentum jener Familien umzugehen war, deren sämtliche Angehörigen ermordet worden waren, stellte Bedingungen für Menschen auf, für die der Gang zum Notar einer Selbstauslieferung an die Gestapo entsprochen hätte und zog den gutgläubigen Erwerb in Frage, wenn sich für die "arischen" neuen Besitzer der legalisierte Raub fremden Eigentums allzu offensichtlich hätte ergeben müssen.
Rechtsunsicherheit für Shoah-Überlebende
Zweieinhalb Jahre sind eine lange Zeit für Überlebende, die über Jahre hinweg systematisch entrechtet, beraubt, in ihrer physischen Existenz bedroht wurden und ihr Überleben in einer Welt vor Erfindung des Sozialstaats sichern mussten.
Die britische Militärverwaltung sollte gar erst im Mai 1949 tätig werden. Dem amerikanischen Vorbild mochte die Labour-geführte Regierung in London nicht ganz folgen. Man sah es nicht gerne, dass herrenlos gewordene Vermögenswerte jüdischen Überlebenden im britischen Mandatsgebiet Palästina zugutekamen.
In der französischen Besatzungszone herrschten noch einmal andere Rechtsverhältnisse, von der sowjetischen ganz zu schweigen.
Noch in die Zeit vor Erlass des Rückerstattungsgesetzes für die US-amerikanische Besatzungszone in Deutschland fallen zwei Entscheidungen, die weniger wegen ihres Inhalts als wegen der hellsichtigen Kritik daran Aufmerksamkeit verdienen – und sei es nur als Anreiz für jeden Nachgeborenen, sich mit dem Geist des bürgerlichen Rechts anzufreunden.
Landesarbeitsgericht Mannheim: Sklavenarbeit
In den Sachverhalt führt das LAG Mannheim wie folgt ein:
"Der Kläger ist staatenlos und jüdischer Abstammung. Er war früher in Polen wohnhaft. Er wurde im Herbst 1942 als Elektriker zu der Beklagten dienstverpflichtet, die damals als Sub-Unternehmerin der Siemens-Bau-Union im Rahmen des Ostbahn-Programms der Deutschen Reichsbahn im Bezirk Krakau Arbeiten auszuführen hatte. Bis 15.12.42 erhielt der Kläger seinen vorgeschriebenen Lohn von 0,60 RM pro Stunde."
Am 14. Dezember 1942 erließ der SS- und Polizeiführer für den Distrikt Krakau eine Verordnung, die es u.a. der Siemens-Tochter verbot, jüdischen Arbeitskräften ein Entgelt zu zahlen. Stattdessen hatten die Unternehmen für jeden jüdischen Zwangsarbeiter eine Gebühr an die SS-Kasse abzuführen, je Mann fünf Zloty, je Frau vier Zloty täglich.
Entsprechend stellte das Unternehmen der Siemens-Gruppe die Zahlung an den Elektriker ein. Der Mann überlebte – im geografischen Zentrum des nationalsozialistischen Mordprogramms – und klagte 1947 auf Zahlung des ausstehenden Lohns.
Das Arbeits- und das Landesarbeitsgericht Mannheim (Urt. v. 26.06.1947, Az. Ss 7/47) befanden aber, dass Siemens durch die Verordnung des SS-Polizeiführers in eine Lage "nachträglich eintretender, unverschuldeter Leistungsunmöglichkeit" geraten sei, die das Unternehmen nach § 323 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB, a.F.) von der Leistungspflicht befreit habe. Nicht nur der Kläger, nach Ansicht des Gerichts "auch die Beklagte verlor jede Möglichkeit auf die Gestaltung des Arbeitsverhältnisses einzuwirken."
Anderer Ansicht: Adolf Arndt
In der "Süddeutschen Juristen-Zeitung" erschien das klageabweisende Urteil mit einer sehr kritischen Anmerkung des hessischen Ministerialdirektors Adolf Arndt (1904–1974).
Die Mannheimer Richter hätten mit ihrem Urteil eine "rechtsbegründende Kraft des SS-Befehls" angenommen: "Da eine solche Annahme, will man nicht die Sklaverei als Einrichtung unseres Rechts anerkennen, schlechterdings indiskutabel ist, … so kann die Zahlung der Beklagten an die Emissionsbank [der SS] einzig auf Grund eines tatsächlichen Müssens, eines Weichens vor der Gewalt geschehen sein und ist rechtlich nicht anders zu beurteilen, als wenn Räuber oder Diebe die bereitgestellten Lohntüten aus der Kasse der Beklagten gestohlen hätten. Die Beklagte ist also … nicht gegenüber dem Kläger von ihrer Leistung frei geworden; ihr vorübergehendes Unvermögen zur Zahlung, weil ihr damals der Terror der SS nicht zumutbar war, besteht heute nicht mehr fort, so daß sie dem Kläger Arbeitslohn schuldet, da er unstreitig für sie Arbeit geleistet hat."
Statt schlicht nach dem "niemals aufgehobenen BGB" (Arndt) zu entscheiden, verteile das Gericht "den von der Gewaltmaßnahme der SS verursachten Schaden auf die Masse der als Sklaven behandelten Arbeitnehmer" und suche sein Heil in einer gesetzgeberischen Regulierung derartiger Fälle.
2/2: Oberlandesgericht Kiel: Treuhänder ohne Ehrgefühl
"Der Antragsteller ist Jude. Er war Inhaber eines Konfektionsgeschäftes in B. Am 13.12.1938 wurde ihm durch Verfügung des RegPräs. in Sch. aufgegeben, seinen Gewerbebetrieb bis zum 15.1.1939 zu veräußern. Zur einstweiligen Fortführung des Betriebes und zur Herbeiführung der Veräußerung wurde gleichzeitig der Antragsgegner als Treuhänder eingesetzt. Dieser führte die Veräußerung des Gewerbebetriebes nach Maßgabe der ihm vom RegPräs. erteilten Weisungen durch."
In Kiel suchte ein Überlebender der Shoah rechtliches Gehör auf der Grundlage des Armenrechts, der Vorläuferin der heutigen Prozesskostenhilfe. Dazu hatte das OLG Kiel über die Erfolgsaussichten seines Anliegens zu befinden:
Zum Jahreswechsel 1938/39 war das Kleidungsgeschäft des Klägers jüdischer Herkunft in die Verwaltung eines Treuhänders geraten, der auf der Grundlage der "Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens" vom 3. Dezember 1938 eingesetzt worden war.
Von diesem Treuhänder begehrte der aus seinem Eigentum verdrängte Geschäftsmann nun Schadensersatz in Höhe von mindestens 15.000 Reichsmark, gestützt auf § 826 BGB mit der Begründung, dieser "habe gegen die guten Sitten verstoßen, indem er unsittliche Maßnahmen des Staates durchgeführt habe".
Das OLG Kiel verneinte einen Schadenersatzanspruch gegen den Treuhänder, da diesem nicht nachzuweisen sei, dass er das Geschäft zu Schleuderpreisen veräußert habe. Er habe vielmehr im Rahmen seiner Treuhänderpflichten gehandelt und komme daher – bei allen sittlichen Zweifeln an der offensichtlich jedem bürgerlichen Rechtsverständnis hohnsprechenden NS-Verordnung – in den Genuss des Beamtenprivilegs aus § 839 BGB, Art. 131 Reichsverfassung von 1919, das solcherart mit staatlichen Aufgaben beliehene Personen begünstigte.
Anderer Ansicht: Otto Küster
Der Stuttgarter Rechtsanwalt Otto Küster kommentierte den Kieler Beschluss (v. 10.07.1947, Az. 2 W 248/47) mit dem kühlem Wort: "Rez. glaubt nicht, daß damit Recht gesprochen ist."
Vorweg ist zu sagen: Anders als heute, war der Fiskus des Jahres 1947 kein solventer Schuldner. Dem faktisch enteigneten jüdischen Händler war daher nicht damit gedient, dass das OLG Kiel ihm den Staat als Ersatzadresse für Schadensersatzansprüche empfahl.
Köster bedauert, dass dem jüdischen Kläger durch den abweisenden Beschluss zur Prozesskostenhilfe der Weg abgeschnitten wurde, sein Vorbringen zu § 826 BGB prüfen zu lassen.
Die Haftung des Treuhänders nach den Grundsätzen der Beamtenhaftung negativ zu prognostizieren sei eine Sache. Auch sei das hilfsweise Vorbringen des Klägers, das alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 10, das rassistische Diskriminierungen aufhob, als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB heranzuziehen, vom OLG Kiel wohl zu Recht abgewiesen worden – 1938/39 habe es antirassistische Schutzgesetze in Deutschland nun einmal noch nicht gegeben.
Allerdings wäre es – so Küster – ein durchaus vertretbares Anliegen gewesen, den Treuhänder als Verursacher einer sittenwidrigen Schädigung in Anspruch zu nehmen – nicht, weil er in seiner Tätigkeit als Treuhänder das Eigentum des jüdischen Mitmenschen geschädigt habe – was wohl gar nicht zur Diskussion stand –, sondern bereits, weil er dieses Amt überhaupt übernommen hatte.
Anders als manchem Mitläufer und Mittäter in den mörderischen Gewaltapparaten des Nazi-Staates habe den nach NS-Recht legalisierten Räubern, Dieben und Betrügern regelmäßig die schlichte Alternative zur Wahl gestanden, nicht mitzumachen.
Helle Köpfe in der Nachkriegszeit
Während der hessische Beamte Adolf Arndt jedenfalls Kennern der jungen Bundesrepublik ein Begriff ist – der Jurist zählte als Bundestagsabgeordneter und als SPD-Vorstandsmitglied zu den wichtigen Stimmen dieser Zeit –, steht der Bekanntheitsgrad von Otto Küster (1907–1989) in einem denkbar ungünstigen Verhältnis zu dem Renommee, das sich die deutsche Anwaltschaft mit Köpfen wie ihm verdienen könnte.
Beide, Küster wie Arndt, zeigten bereits 1947, dass ein ethisch gut geeichter Kompass und das BGB für gutes Recht genügten – eine Botschaft, die vor allem der Zivil- und Arbeitsrechtler Bernd Rüthers (1930–) seit seiner Schrift "Die unbegrenzte Auslegung" (1968) immer wieder beredt, wenn auch nicht unbedingt erfolgreich verkündet.
Nicht zuletzt machen Köpfe wie Adolf Arndt auf die Defizite in unseren zeithistorischen Vorverständnissen aufmerksam – nicht nur in der Aufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts. Indem Arndt beispielsweise dafür eintrat, dass sich die SPD 1959 eindeutiger zum Grundgesetz bekannte, als sie es eigentlich vorhatte, führte das wohl mit zur Blutleere, mit der 1989/90 über die heutige Verfassung des wiedervereinigten Deutschlands gesprochen wurde.
Es gibt gute Gründe, über die junge Bundesrepublik und ihre Vorgeschichte mindestens so viel wissen zu wollen wie über die Weimarer Republik oder die NS-Zeit.
Hinweis: Die Entscheidungen und ihre Besprechungen sind zu finden in der Süddeutschen Juristen-Zeitung von 1947, Spalten 511 bis 519.
Martin Rath, Nachkriegsrecht: "Rez. glaubt nicht, daß damit Recht gesprochen ist" . In: Legal Tribune Online, 23.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23557/ (abgerufen am: 01.06.2023 )
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