Die JZ von 1965 sagt vielleicht nichts über aktuelle Rechtsprobleme. Doch Martin Rath findet darin viele Erkenntnisse, die wir heute als neu erachten. Zum Beispiel das juristische Mantra, das Jurastudium und seine Prüfungen seien reformbedürftig, den Repetitorien sei das Handwerk zu legen. Dass sich an den Zuständen seit Jahrzehnten nichts änderte, machte es dem bestechlichen Richter sicher leichter.
Irgendwo muss es eine Art Sekte geben. Juristenmönche in Robe, die es als ein Mantra wiederholen. Denn es zieht durch die Zeit wie ein rituelles Gebet. Ob sich vor den Türen der rechtswissenschaftlichen Fakultäten Gebetsmühlen mit dem Mantra bewegen? Das mögen die Insassen dieser akademischen Einrichtungen beurteilen.
Sie raunen ein Zitat des 39-jährigen Professors Peter Noll aus Mainz in der "Juristenzeitung" (JZ) von 1965: "Daß das juristische Studium reformbedürftig ist, kann angesichts der offenkundigen Mißstände nicht bestritten werden. Die Durchfallquote beim Referendarexamen, die Zahl der Studierenden, die ihr Studium nicht erfolgreich abschließen, ist hoch. Die Gründe dafür liegen nicht nur bei den Studenten, sondern vor allem beim Studien- und Prüfungssystem." Man mag es sich vorstellen, wie es nicht in heiligem Zorn gepredigt, sondern wie ein stilles Gebet durch Generationen von Juristenköpfen wandert.
Heute, 50 Jahre später, wissen wir, zu welchen Abgründen die nicht besonders menschenfreundliche juristische Prüfungsordnung geführt hat: Jörg L., ehemaliger Referatsleiter im Landesjustizprüfungsamt Niedersachsen, machte sich die Angst und die Existenznöte der Prüflinge zu Nutze und tauschte die Lösungen der Examensklausuren gegen Sex oder Geld. Vielleicht hätte man schon vor vielen Jahren auf den Herrn hören sollen?
Ich habe einen Traum: Lernmaschinen statt Repetitoren
Der Professor setzte das ehrwürdige Mantra sogar noch Klage fort: "Der Prüfungsstoff trägt den individuellen Interessen nicht genügend Rechnung. Die Folge davon ist, daß dieses Interesse schon nach den ersten Semestern bei den meisten erlahmt und einem unschöpferischen Lerneifer weicht, der ganz auf die Prüfungspraxis angerichtet ist, die einseitig die Rechtsanwendungstechnik der Fallösung pflegt."
Er starb vergleichsweise jung, 1982, an Blasenkrebs. Sein Tagebuch "Diktate über Sterben und Tod" machte ihn damals außerhalb der Juristerei bekannt. Doch im Jahr 1965, als die "Juristenzeitung" seine Abrechnung mit dem Studium abdruckte, war von der kritischen Reflexion der eigenen Endlichkeit noch nichts zu spüren, mit der Noll später ein recht weites Publikum finden sollte. Vielmehr ging eine sehr lebhafte Diskussion durchs Blatt, wenn nicht durchs akademisch bewegte Land.
Ingo Richter, ausgewiesen als "Sekretär des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen", gab etwa seinen Traum in den Druck, dass den juristischen Repetitoren das Handwerk gelegt werden könnte. Dem Umstand, dass diese in den "schmalen Etagenwohnungen neben der Universität eine Neben-Universität" aufgebaut hätten, "in der in einigen Städten die Examensvorbereitung und für viele Studenten die Erstvermittlung juristischen Wissens monopolisiert" worden sei, wollte Richter mit moderner Technik begegnen: Durch "Lernmaschinen" könnte den Studenten ein Gutteil des Examensstoffs programmiert in die Köpfe getrichtert werden. Was würde aus Repetitoren, die den "Grundstock positiver Kenntnis des geltenden Rechts" an diese "Lernmaschinen" verlieren? Richters Antwort: "Insoweit würden sie also bald arbeitslos."
"Die Reform ist eine ständige Aufgabe"
Wolfgang Gitter, damals wissenschaftlicher Assistent, später Professor für Sozialrecht, beteiligte sich im reformliebenden Jahr 1965 nicht nur mit der herzhaft zeitlosen Aussage, "daß die Reform des juristischen Studiums eine ständige Aufgabe" sei – das Wort "ständig" sollte Wahrheit werden –, sondern hatte auch von jenen Arbeitsgemeinschaften Gutes zu berichten, die vor 50 Jahren eben erst flächendeckend für die Anfangssemester eingeführt worden waren und zumeist von seinesgleichen, dem gehobenen akademischen Nachwuchs, betrieben wurden.
Einer seiner Assistentenkollegen, der spätere Arbeitsrechtprofessor Peter Hanau, mochte darin allerdings einen Nachteil entdecken: Arbeitsgemeinschaften unter der Federführung der Assistenten? Dabei bediene man sich "wissenschaftlicher Hilfstruppen".
Heute dürften es viele juristische Erstsemester schon als Auszeichnung verstehen, wenn sich Lehrstuhlassistenten bemühen, sie ins Subsumieren einzuführen. Dieses Massengeschäft dürfte kaum ohne hinzugebuchte Hilfskräfte zu bewältigen sein. Doch damals war "Massengeschäft" noch beinahe ein Fremdwort.
So diskutierte 1965 der Ministerialrat Wilhelm Sirp die "Berufsaussichten der jungen Juristen" vor dem Hintergrund, dass die Statistik für Westdeutschland inklusive Berlin (West) knapp 20.000 Rechtsanwälte auswies – und fragte sich wahrhaftig, ob es für Nordrhein-Westfalen ein gutes oder ein schlechtes Zeichen sei, wenn die Zahl neueingestellter Referendare dort von 1.023 im Jahr 1960 auf 640 im Jahr 1964 zurückgegangen sei – Tendenz weiter fallend.
2/2: Was man damals schon über pädophile Pädagogen sagte
Das 50 Jahre alte Blatt bietet auch wirklich gruselige Seiten. Ein wenig fassungslos darf man sich über dem, was man 1965 wusste oder wissen musste, und dem, was dann noch 40, 50 Jahre Zukunft vor sich hatte, die Augen reiben: 1965 berichtet die "Juristenzeitung" von einer Konferenz über "Das sexuell gefährdete und geschädigte Kind", an der "Mediziner, Juristen, Psychologen, Theologen und Sozialarbeiter" teilnahmen. Hochkarätig besetzt, darf man dazu sagen. Sie verhandelte unter anderem sexuellen Missbrauch durch Pädagogen.
Der als Strafrechtskommentator bekannte Karl Lackner vertrat hier beispielsweise "die Auffassung, daß der Schwerpunkt bei der Bekämpfung der Sittlichkeitsdelikte an Kindern auf den Maßregeln liegen müsse". Trotz allgemeinem Fortschrittsglaubens vertrat ein weiterer Referent: "Bestrafung ohne Behandlung sei gegenüber pädophilen Sexualdelinquenten ebenso unangemessen wie bloße Behandlung ohne Strafe". Referentinnen mahnten 1965 einen klugen Umgang mit kindlichen Zeugen im Strafprozess an. Zwei Referenten beschrieben eine Persönlichkeitsstruktur, die des Öfteren bei pädosexuellen Pädagogen zu finden sei, die sich "gerade mit solchen Zöglingen ein[lassen], die charakterlich schwierig seien und keine persönlichen Bindungen entwickelten".
1969 wird ein Gerold Becker Leiter der Odenwaldschule. Das war eine Schule, auf die nicht zuletzt die sogenannte Elite ihre Kinder schickt – unter den Schülern findet man die Namen Dumont, von Weizsäcker, Dohnanyi. Er war viele Jahre später der Verursacher eines bundesdeutschen Skandals größten Formats. Die skandalösen Zustände, hier wie in diversen anderen Bildungseinrichtungen, wurden erst um die Jahrtausendwende öffentlich.
Immerhin setzen sich die offenbar sachdienlichen Erkenntnisse zum mancherorts regelrecht systematischen pädosexuellen Missbrauch, dessen kriminologisch-forensische Seite 1965 gelehrt vorgestellt wurde, seit den 1990er-Jahren allmählich durch.
Bauer und das Abendland
Wenn ein Strafjurist gegen Repression argumentiert, wird es oft interessant. Der berühmte hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968) diskutiert in der alten JZ das seiner Auffassung nach verfassungsrechtlich grenzwertige "Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften" nach damaligem Verkündigungsstand.
Das Gesetz wendet sich 1965 nicht allein gegen evidente Pornographie, sondern soll – nach Ansicht führender Kommentatoren – die lesende Jugend vor Literatur schützen, die nicht dem "christlich-abendländischen" Geist entspreche. Asphaltliteratur, Großstadt – alles, was nicht Goethe ist, sei gefährlich. Die Idee, das christliche Abendland unter Schutz zu stellen, hält Bauer für "nichtssagend, zumal eine christlich-abendländische Weltanschauung mitunter recht schwer von einer unchristlich-abendländischen zu unterscheiden sein dürfte".
Baur und die Paralleljustiz
Sein Beinahe-Namensvetter, der Zivilprozessgelehrte Fritz Baur (1911-1992), diskutierte ein soziales Phänomen, das nach 50 Jahren eine ähnliche Mischung aus Relevanz und Befremden auslöst wie überbordende Liebe zur diffusen Figur des "christlichen Abendlands": die Paralleljustiz.
1964 hatte das Bundesarbeitsgericht für Recht erkannt, dass einem Mann gekündigt worden war, der sich vor staatlichen Gerichten gegen eine Entscheidung durch die sogenannte "Hausjustiz" seines Betriebes gewehrt hatte. In erster Linie setzte sich Baur 1965 mit der verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit jedenfalls einer – mitunter auch in Strafsachen aktiven – Betriebsjustiz auseinander.
Offenbar, rechtssoziologisch wird dies leider nicht vertieft, existierte 1965 ein möglicherweise weit verbreitetes System der erweiterten betrieblichen Selbstjustiz, die sich Konflikten am Arbeitsplatz über eine rein schiedsrichterliche Schlichtung hinaus annahm. Wenn derlei heute von bärtigen Männern in der sogenannten Parallelgesellschaft betrieben wird, scheint es zumindest keine ganz neue Herausforderung für den Rechtsstaat zu sein. Allein, das BAG sollte man in diesem Zusammenhang vielleicht nicht zitieren.
Der Jahrgang 1965 einer rechtswissenschaftlichen Zeitschrift, er ist ein Archiv an belanglos gewordenen, an unfassbar unbearbeiteten, an vielleicht nie zu lösenden sozialen und Rechtsproblemen. Er rückt die 50 Jahre jüngere Gegenwart ein wenig zurecht, ohne in eine völlig fremde Welt zu entführen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, "Aktuelle" Rechtsgeschichten - von 1965: Die Jura-Reform, die es nie gab . In: Legal Tribune Online, 01.03.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14817/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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