Sexuelle Orientierung kann ein Fluchtgrund sein. Behörden dürfen grundsätzlich auch überprüfen, ob Asylbewerber diesbezüglich die Wahrheit sagen, stellt der EuGH nun klar. Allerdings nur in den engen Grenzen der Grundrechte. Zudringliche Fragen und die Verwertung expliziter Filme sind verboten. Im Ergebnis eine gute und differenzierte Lösung, findet Nils Janson.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) vertritt schon seit längerem die Ansicht, dass die sexuelle Orientierung ein Grund sein kann, in der Europäischen Union (EU) als Flüchtling anerkannt zu werden. Auf die entsprechende Unionsrichtlinie 2004/83/EG (RL) kann sich berufen, wer befürchten muss, wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser sozialen Gruppe in seinem Heimatland derart verfolgt zu werden, dass seine grundlegenden Menschenrechte schwerwiegend verletzt sind.
Doch wie will man eine bestimmte sexuelle Orientierung "beweisen"? Dürfen Behörden überhaupt Nachforschungen anstellen, ob die Bewerber die Wahrheit sagen und gefundene Beweise verwerten? Art. 4 der RL sagt, dass man grundsätzlich auch überprüfen darf, ob die Angaben der Asylsuchenden zum Grund ihrer Flucht aus dem Heimatland der Wahrheit entsprechen. Die Prüfung im Fall der behaupteten Homosexualität ist allerdings komplexer als die Prüfung anderer Verfolgungsgründe.
So sieht es auch der EuGH und hat sich in seiner Entscheidung am Dienstag zu keiner eindeutigen Antwort bekannt. Zwar dürften die Angaben von Asylbewerbern zu ihrer sexuellen Orientierung grundsätzlich überprüft werden. Allerdings ergäben sich in erster Linie aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) deutliche Einschränkungen (Urt. v. 02.12.2014, Az. C-148/13 bis C-150/13).
Pseudo-medizinische Tests, Pornos und zudringliche Fragen
Vom Recht der Überprüfung machten die niederländischen Behörden im Fall von drei Männern Gebrauch, die ihre gleichgeschlechtliche Orientierung als Fluchtgrund angaben. Einer von ihnen hatte sich sogar bereit erklärt, sich einem "Test" zu unterziehen. Damit sind sogenannte phallometrische Tests gemeint, welche die körperliche Reaktion einer Person auf pornografisches Material untersuchen. Ein anderer hatte Filmmaterial vorgelegt, welches ihn beim Sex mit einem Mann zeigte. Dennoch lehnten die Behörden die Anträge ab, weil sie den Männern nicht glaubten.
Der zuständige Minister sagte dazu, das Verhalten des einen sei widersprüchlich gewesen, weil er seinen früheren Asylantrag nicht mit Homosexualität begründet hatte. Der zweite habe seine Gefühle in Bezug auf die eigene Sexualität, seine bisherigen Beziehungen und den Umgang mit dem Erkennen seiner eigenen Ausrichtung in einem muslimischen Land nur vage schildern können.
Der mit der anschließenden Klage befasste Raad van State stellte fest, dass die RL keine Hinweise darauf gebe, inwiefern die Mitgliedstaaten die behauptete sexuelle Ausrichtung in Frage stellen könnten oder ob und welche Grenzen es gebe. Das höchste allgemeine Verwaltungsgericht der Niederlande war aber der Auffassung, die in der Charta garantierten Rechte könnten allein dadurch, dass dem Asylbewerber solche Fragen gestellt würden, in gewissem Maße verletzt werden. Daher hatten die Richter dem EuGH die Frage vorgelegt, welche Grenzen staatliche Institutionen beachten müssen und mit welchen Methoden sie Beweise gewinnen dürfen, wenn sie die Angaben von Asylbewerbern überprüfen.
Überprüfung ja, aber…
Im seinem Urteil bestätigt der EuGH zunächst, dass Nachforschungen seitens der Behörden grundsätzlich erlaubt sind. Damit folgt er der Begründung der Generalanwältin Eleanor Sharpston, die in ihrem Schlussantrag vorgebracht hatte, dass es erforderlich ist, die Integrität des Asylsystems zu schützen und Scheinasylanten zu identifizieren, um denen zu helfen, die tatsächlich Schutz benötigen.
In jedem Fall aber müssten die Aussagen des Asylbewerbers den Ausgangspunkt der Prüfung bilden, denn die persönliche Autonomie schütze auch das Recht des Einzelnen, seine eigene Sexualität zu definieren. Dabei habe dieser das Recht und die Pflicht, die erforderlichen Anhaltspunkte zur Begründung seines Antrags darzulegen. Nur eine individuelle Prüfung der Lage und der persönlichen Umstände des Asylbewerbers könne daher eine taugliche Grundlage für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sein, so die Luxemburger Richter.
Auch wenn die Behörde meint, nicht genügend Beweise für den behaupteten Fluchtgrund zu haben, begrenzt bereits Art. 4 Abs. 5 a bis e der RL die Möglichkeit, weitere Nachforschungen vorzunehmen, wenn der Antragsteller als generell glaubwürdig zu beurteilen ist. Das ist nach der RL der Fall, wenn sich dieser offenkundig bemüht hat, fehlende Beweise herbeizubringen und alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorgetragen hat, seine Aussagen kohärent und plausibel sind und nicht im Widerspruch zu den Informationen der Behörde stehen.
Darüber hinaus erteilte der EuGH deutliche Hinweise zur Art und Weise, in der die mitgliedstaatlichen Behörden die Prüfung vorzunehmen haben. Auch dürften Befragungen nicht allein auf stereotypen Vorstellungen von Homosexuellen beruhen. Die Frage, ob der Bewerber niederländische Institutionen kennt, welche die Rechte Homosexueller schützen, impliziere aber, dass die Behörde ihrer Beurteilung solche Vorstellungen und nicht die individuelle und persönliche Situation des Asylbewerbers zugrunde gelegt habe.
2/2: Die Grundrechte müssen gewahrt bleiben
Alle Nachforschungen müssten zudem im Einklang mit dem Unionsrecht und den in der Charta garantieren Grundrechten stehen.
Die Behörden dürfen die Antragsteller zwar grundsätzlich zu ihrer behaupteten sexuellen Orientierung befragen. Auf Einzelheiten zu sexuellen Praktiken dürfen sich diese Fragen jedoch nicht beziehen. Dies verstieße nach Auffassung des EuGH gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 7 der Charta.
Auch die Vornahme sexueller Handlungen und das Bereitstellen von Videoaufnahmen intimer Handlungen zum Nachweis der Homosexualität verletzten die in Art. 1 der Charta festgelegte Würde des Menschen. Die eingriffsintensiven und erniedrigenden Methoden wie medizinische oder pseudomedizinische Untersuchungen wie die "Phallometrie" verletzten zudem die Rechte auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Privatleben. Es gebe keine objektive Methode, die von einer Person behauptete sexuelle Ausrichtung mit Bestimmtheit zu beweisen.
Stellten Asylbewerber sich freiwillig für solche "Tests" zu Verfügung, so dürften diese nicht verwertet werden. Abgesehen davon, dass sie nicht zwangsläufig Beweiskraft hätten, würde schon die Zulassung dieser Beweismittel dazu führen, dass solche Beweise auch tatsächlich verlangt würden.
Schließlich, so der EuGH, dürfe die Behörde aus der zögerlichen Offenbarung von Aspekten des Lebens und der Sexualität nicht darauf schließen, dass der Asylbewerber unglaubwürdig sei. Dies ergebe sich aus dem sensiblen Charakter der Informationen, welche die persönliche Sphäre einer Person betreffen.
Zwischen Aufklärungsinteresse und Grundrechtsschutz
Das Urteil des EuGH betrifft hochsensible Fragen von großer Tragweite. Mit dieser differenzierten Entscheidung achtet und schützt der EuGH die Grundrechte von Asylbewerbern, die sich aufgrund ihrer sexuellen Orientierung in ihrem Herkunftsstaat verfolgt fühlen. Zu Recht knüpfen die europäischen Richter dabei die sexuelle Identität auch an die Menschenwürde des Asylbewerbers an. Die Grenzen müssen im hoch privaten Bereich der Sexualität grundrechtlich enger vordeterminiert sein als bei anderen Fluchtgründen. Es bedarf daher schwerwiegender Gründe, um einen Eingriff in den intimsten Bereich des Privatlebens durch behördliche Nachforschungen zu rechtfertigen.
Die Mitgliedstaaten haben allerdings auch ein berechtigtes Interesse daran, zumindest im Rahmen des rechtlich Zulässigen Scheinasylanten die Unterstützung zu verweigern. Daher ist es im Ergebnis nachvollziehbar, dass der EuGH grundsätzlich Nachforschungen zulässt. Andernfalls würde er das Antragsverfahren in diesen Fällen zu einem subjektiven Prozess in der Hand des Einzelnen machen und es jeder Kontrolle – nicht zuletzt seiner eigenen – entziehen. Die Überprüfung deckt sich schließlich auch mit völkerrechtlichen Standards und Vorgaben, wie die am vorliegenden Verfahren beteiligte UR Refugee Agency (UNHCR) bestätigt hat.
Allerdings dürfte es für die Mitgliedstaaten im Bereich der sexuellen Orientierung trotz der Hinweise des EuGH nicht gerade leichter werden, eine klare Linie zwischen Aufklärungsinteresse und Grundrechtsschutz zu finden.
Nach alledem sollte es bei der Überprüfung entscheidend auf die Glaubwürdigkeit der Einlassungen des Asylbewerbers ankommen und nicht auf eine anderweitige Feststellung der sexuellen Orientierung. Dies hatte auch die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen deutlich herausgestellt. Denn wenn die sexuelle Orientierung eines Menschen schon nicht objektiv feststellbar ist, dann sollte sie als Anknüpfungspunkt im Recht weitestgehend vermieden werden.
Nachdem der EuGH bereits entschieden hat, dass man von Asylbewerbern nicht verlangen kann, ihre sexuelle Orientierung zu verstecken und sie im Herkunftsstaat nicht auszuleben, schreitet er mit diesem Urteil konsequent auf seinem Weg einer differenzierten Grundrechtsrechtsprechung fort.
Der Autor Nils Janson ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öffentliches Recht, Abt. I: Europa- und VölkerR, Prof. Dr. Ulrich Haltern, LL.M. (Yale), Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Nils Janson, EuGH zur Überprüfung von Asylbewerbern: Dürfen Behörden die sexuelle Orientierung untersuchen? . In: Legal Tribune Online, 02.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13990/ (abgerufen am: 13.05.2024 )
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