Österreich beschließt Flüchtlings-Obergrenze, Deutschland diskutiert über Konsequenzen in Europa. Außerdem in der Presseschau: BSG bestätigt Sozialhilfe-Ansprüche von EU-Bürgern und Asylsuchende klagen gegen das BAMF.
Thema des Tages
Flüchtlingspolitik – Obergrenze: Österreich will ab sofort die Zahl der aufzunehmenden Flüchtlinge begrenzen – in den kommenden vier Jahren sollen nur noch 127.500 Menschen Zuflucht finden, im Jahr 2016 nur 37.500. Darauf einigten sich Bund, Länder und Kommunen auf einem Asylgipfel am Mittwoch. Zu den Möglichkeiten rechtskonformer Umsetzung und Kontrolle soll es noch zwei Rechtsgutachten geben, bevor Details beschlossen werden. Absprachen mit den Nachbarstaaten stünden noch aus. In Deutschland beharrte Bundeskanzlerin Angela Merkel angesichts dieser Nachrichten auf ihrem Standpunkt, hier werde es eine Obergrenze nicht geben. Stattdessen sei eine europäische Lösung gefragt. Bundespräsident Gauck forderte alle EU-Staaten auf, sich an der Aufnahme von Flüchtlingen zu beteiligen. Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) sprachen sich für eine europaweite Einigung über die Verteilung der Flüchtlinge aus. Die Flüchtlingskrise "wäre keine Krise, wenn sich alle Länder beteiligen würden." Vor diesem Hintergrund sei Österreichs Entscheidung verständlich. Es berichteten die SZ (C. Kahlweit u.a.), die taz (Ralf Leonhard) und spiegel.de.
Heribert Prantl (SZ) meint, diejenigen, die Bundeskanzlerin Merkel für ihre Ablehnung einer Obergrenze kritisierten, wüssten, dass ihr Weg letztlich der richtige sei. Die "Renationalisierung des innereuropäischen Grenzregimes [sei] auch dann ein Fehler, wenn die anderen EU- Staaten diesen Fehler ebenfalls" machten.
Unterdessen haben sich mehrere hochrangige Juristen zur Diskussion um die Obergrenze geäußert, wie die BerlZ (Christian Bommarius) zusammenfasst: So bekräftigte etwa Bundesverfassungsgerichts-Präsident Andreas Voßkuhle im Deutschlandfunk, dass eine Obergrenze unzulässig sein, weil das Asylrecht unbegrenzt für jedermann gelte. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio hingegen ist der Ansicht, Deutschland sei nicht verpflichtet, allen Menschen weltweit Schutz zu gewähren, indem die Einreise faktisch oder rechtlich ermöglicht würde. Eine solche unbegrenzte Rechtspflicht bestehe weder europarechtlich noch völkerrechtlich. Im Gegensatz sei die Bundesregierung zur Sicherung der Landesgrenzen der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, wenn das europäische Grenzsicherungs- und Einwanderungssystem nicht funktioniere.
Flüchtlingspolitik – EU-Recht: In einem Gastbeitrag in der FAZ beleuchtet der Rechtsprofessor Daniel Thym die Diskussion um nationalstaatliche Alleingänge verschiedener EU-Mitgliedstaaten zu Grenzkontrollen vor dem Hintergrund des europäischen Flüchtlingsrechts. Die Möglichkeiten der Mitgliedsstaaten seien durch europarechtliche Vorgaben stark eingeschränkt, die auch Deutschland maßgeblich voran getragen habe. Gleichzeitig aber wären Grenzschließungen auch nach deutschem Recht problematisch – die Lösung müsse auf europäischer oder internationaler Ebene gefunden werden, auch wenn das schwierig sei. Gleichzeitig berichtet die SZ (Cerstin Gammelin) darüber, dass der "Konvent für Deutschland", bestehend aus früheren Spitzenpolitikern, die Missachtung des EU-Rechts durch die Bundesregierung massiv kritisiere. Die Dublin-Abkommen seien "massiv gescheitert", die Schengen-Grenzen seien gefährdet, und Europa werde zunehmend als "rechtsfreier Raum" wahrgenommen. Es bedürfe eines einheitlichen europäischen Asylrechts, wobei das deutsche Grundgesetz jedoch ein ernsthaftes Hindernis darstelle.
Rechtspolitik
Lobbyisten im Bundestag: Im Streit um die Verteilung von Bundestags-Hausausweisen an Interessenvertreter von Firmen und Verbänden hat der Bundestag beschlossen, ein neues Verfahren und mehr Transparenz bei der Vergabe einführen zu wollen. Auf eine Informationsklage hin war im Dezember erstmals offengelegt worden, welche Lobbyisten über Hausausweise verfügten. Die Hälfte erhielten bislang Organisationen von der offiziellen Verbändeliste, die andere Hälfte Vertreter von Firmen, Parteien und parteinahen Stiftungen. Dies berichtet der Tsp (Jost Müller-Neuhof).
EU-Kommission und Fahrzeugkontrollen: Die EU-Kommission möchte in Zukunft das Recht eingeräumt bekommen, selbst Autos vom Markt zu nehmen. Als Reaktion auf die Affäre um manipulierte Abgaswerte wolle sie "nicht-konforme Autos im Falle eines Sicherheitsrisikos oder einer Umweltschädigung" aus dem Verkehr ziehen können. Auch die Mitgliedsstaaten und ihre technischen Prüforganisationen, etwa der TÜV, sollen durch die EU-Kommission überprüft und gegebenenfalls gerügt werden können, meldet die SZ (mbal).
Justiz
BSG zu Sozialleistungen für EU-Bürger: Das Bundessozialgericht hat am gestrigen Mittwoch erneut entschieden, dass EU-Bürger nicht vollständig von Sozialleistungen ausgeschlossen werden dürfen. Zwar könnten die Jobcenter in bestimmten Fällen die Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II verweigern. Dann müssten jedoch Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII geprüft werden, wobei das den Behörden eingeräumte Ermessen nach sechsmonatigem Aufenthalt auf Null reduziert sei. Dies berichten lto.de (Christian Stolz) und die FAZ (Joachim Jahn).
EuGH zu Kartellbehörden: Die EU-Staaten sind hinsichtlich "Kronzeugenregelungen" für Unternehmen, die Kartellrechtsverstöße zugeben, nicht an die Beschlüsse des Europäischen Wettbewerbsnetz (ECN) gebunden. Dieser Arbeitskreis, bestehend aus nationalen Wettbewerbsbehörden und EU-Kommission, kann zwar ebenfalls Kartellverstöße verfolgen und Kronzeugenregelungen aufstellen. Wenn es jedoch bereits eine nationalstaatliche Regelung gibt, geht diese vor, und die Meldung beim ECN führt im Zweifel nicht zu Straffreiheit, entschied der EuGH laut einem Bericht von lto.de (Ulrich Soltész) und der FAZ (Joachim Jahn).
BGH zu Vorfälligkeitsentschädigung: Das Urteil des Bundesgerichtshofs, wonach Sondertilgungen der Verbraucher bei vorzeitigen Darlehensrückzahlungen in die Berechnung der Vorfälligkeitsentschädigung einfließen müssen, wenn durch die Bank Sondertilgungsrechte eingeräumt worden waren, wird nun auf lto.de (Jochen Strohmeyer) ausführlich besprochen. Maßgebliches Argument ist, dass es zu einer Überkompensation der Bank führe, wenn Sondertilgungsrechte bei der Berechnung der Vorfälligkeitsentschädigung generell nicht zu berücksichtigen wären.
BGH zu Gebühren- und Vergütungsvereinbarungen: Rechtsanwalt Hans-Jochem Mayer befasst sich auf blog.beck.de mit einem Urteil des Bundesgerichtshofs, in dem es um die Voraussetzungen von formfreien Vergütungsvereinbarung für anwaltliche Beratungstätigkeiten gemäß § 34 RVG geht. Zudem definiert das Gericht, wann eine Vergütungsvereinbarung von anderen Vereinbarungen mit Ausnahme der Auftragserteilung im Sinne von § 3 a I 2 RVG deutlich abgesetzt ist.
BGH zu Genossenschaft als Zwischenmieterin: § 565 BGB normiert, dass im Falle einer Zwischenvermietung nach deren Ende der Vermieter in die Rechte und Pflichten des Zwischenmieters aus dem Vertrag mit dem Dritten eintritt – der Dritte also geschützt ist. Das gilt nach Ansicht des Bundesgerichtshofs jedoch nicht, wenn die Zwischenmieterin eine Genossenschaft ist, meldet lto.de (Ulf Nadarzinski).
BVerwG zu Säumniszuschlägen bei einstweiligem Rechtsschutz: Säumniszuschläge, die bei Nichtzahlung kraft Gesetzes anfallen, müssen nicht beglichen werden, wenn der Betroffene im gerichtlichen Eilverfahren die aufschiebende Wirkung des Bescheids erreicht. Das entschied jetzt das Bundesverwaltungsgericht nach einer Meldung von lto.de.
OLG München – NSU: Am 256. Verhandlungstag im Münchner Terroristenprozess ist der Staatsanwalt Gerwin Moldenhauer als Zeuge über die Erkenntnisse zur Aufklärungshilfe durch die Mitangeklagten Carsten S. und Holger G. gehört worden und hatte viel Lob für diese übrig. "Ohne die Angaben von Herrn G. hätte der dringende Tatverdacht gegen Herrn Wohlleben und später auch gegen Herrn Carsten S. nicht begründet werden können", sagte der Beamte nach einem Bericht von spiegel.de (Wiebke Ramm). Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe will sich indes am heutige Donnerstag erneut zu den Fragen des Vorsitzenden Richters äußern, meldet die taz (Konrad Litschko).
OLG Düsseldorf – Islamistenprozess: Zum Beginn des Prozesses um die sogenannte Lohberger Brigade hat der 25-jährige Angeklagte viel über seine schwierige Jugendzeit, aber wenig über seine Radikalisierung und seine Erfahrungen als Kämpfer beim "Islamischen Staat" in Syrien erzählt, berichten die FAZ (Reiner Burger) und die SZ (Kristiana Ludwig). Ihm wird vorgeworfen, sich von Oktober 2013 bis November 2014 in Syrien aufgehalten und dort verschiedene Funktionen übernommen zu haben – unter anderem soll er im "Sturmtrupp" gewesen sein, auch "Gestapo des IS" genannt. Er gilt als einer der wichtigsten Zeugen der islamistischen Szene in Deutschland, der in anderen Verfahren bereits über IS-Organisationsstrukturen und Zusammenhänge ausgesagt hat.
OLG Frankfurt – Schadensersatz für Kachelnmann: Im Schadensersatzprozess des ehemaligen Wettermoderators Jörg Kachelmann gegen seine Ex-Geliebte deutete der Vorsitzende Richter an, dass Aussicht auf Erfolg bestehe. Kachelmann fordert 13.352,69 Euro für den Ersatz von Gutachterkosten im Strafprozess, der gegen ihn wegen eines Vergewaltigungsvorwurfs geführt worden war, von dem er letztlich freigesprochen wurde. Zur ausschlaggebenden Frage der Herkunft von Verletzungen der Frau wurde ein Gutachter gehört, berichtet lto.de.
LG Augsburg zu Uli Hoeneß: Auf Beck-Blog beschäftigt sich Rechtsprofessor Henning Ernst Müller mit den Voraussetzungen der Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung nach § 57 Abs.2 Nr. 2 des Strafgesetzbuches und kommt zu dem Ergebnis, dass die Strafvollstreckungskammer die Norm richtig angewandt habe.
Generalbundesanwalt – Islamistischer Terror: Die Bundesanwaltschaft hat im vergangenen Jahr in 136 Verfahren gegen 199 Beschuldigte geführt, denen Beteiligung am islamistischen Terror vorgeworfen wird – das stellt im Vergleich zum Vorjahr einen sprunghaften Anstieg dar. Generbundesanwalt Peter Frank bekräftigte, die Teilnahme am Bürgerkrieg in Syrien und im Irak sei keine Bagatelle und würde konsequent geahndet; mittlerweile seien 17 Anklagen erhoben worden und sieben Urteile ergangen. Da die direkte Beteiligung an Tötungshandlungen oft sehr viel schwerer nachzuweisen sei als der Aufenthalt in Kriegsgebieten, sprach sich der Generalbundesanwalt für eine Bestrafung auch wegen indirekter Handlungen, die einen Beitrag zur Tötung leisteten, aus, berichtet die SZ (Wolfgang Janisch).
Untätigkeitsklagen gegen das BAMF: Weil ihre Asylanträge teilweise seit über einem Jahr unbearbeitet geblieben sind, haben mehr als 200 Asylbewerber insbesondere aus Syrien und Eritrea vor den Verwaltungsgerichten in Nordrhein-Westfalen Klagen gegen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eingereicht, wie spiegel.de meldet. Die langen Wartezeiten und die Ungewissheit seien eine große Belastung. Dies sehe auch der nordrhein-westfälische Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) ein.
StA Verden – 3. Generation RAF: Angesichts der mutmaßlichen neuen Straftaten von Mitgliedern der RAF meint Reinhard Müller (FAZ), der Rechtsstaat werde dies aushalten. Es müsse hart gegen jede Art von Gewalt durchgegriffen werden, allerdings hätten viele der teilweise erheblichen Bedrohungen in Europa "die Freiheit der Bürger und das Funktionieren der staatlichen Organe bislang nicht wesentlich beeinträchtigen können".
Wolfgang Schnur gestorben: DDR-Anwalt Wolfgang Schnur ist im Alter von 71 Jahren verstorben. Schnur, der für seinen Einsatz für DDR-Bürgerrechtler und Dissidenten bekannt wurde, war auch Gründer der Oppositionsbewegung Demokratischer Aufbruch – und machte Angela Merkel zu seiner Pressesprecherin, womit ihr Aufstieg in der Politik begann. Nachdem er als Stasi-Spitzel enttarnt worden war, wurde ihm 1993 die Anwaltszulassung entzogen. Hierzu schreiben Joachim Käppner (SZ) und die FAZ.
Recht in der Welt
China - "Fernsehpranger": In China hat es sich eingebürgert, dass festgenommene Dissidenten, Rechtsanwälte oder Bürgerrechtler im Propagandasender CCTV auftreten müssen und dort Reue zeigen, auch wenn noch gar kein Gerichtsverfahren gegen sie läuft. Der Schwede Peter Dahlin, Gründer der Nichtregierungsorganisation "Chinese Urgent Action Working Group", war nun der erste Ausländer, der sich auf diesem Weg dafür entschuldigen musste, "die Gefühle des chinesischen Volkes verletzt" und "Gesetze gebrochen" zu haben. In den chinesischen Staatsmedien heißt es, mit seiner NGO, die Rechtsanwälte weiterbildet und Rechtshilfe leistet, habe Dahlin "die Sicherheit des Staates gefährdet". Dies berichtet die SZ (Kai Strittmatter).
Polen – Verfassungsgericht: Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle hat sich zu den aktuellen Beschränkungen des polnischen Verfassugsgerichts besorgt geäußert. Darüber müsse man ins Gespräch kommen – er hoffe auf einen Erfolg der Verhandlungen mit der EU. lto.de fasst die Debatte zusammen.
USA – Entschädigung für Haft: Zwei Männer, die in den USA jahrzehntelang unschuldig in Haft gesessen haben, erhalten Entschädigungen in Millionenhöhe. Kash Register, der seit einem ihm im Jahr 1979 angelasteten tödlichen Überfalls 34 Jahre in Haft verbrachte, erhält 16,7 Millionen Dollar. Bruce Lisker, der 26 Jahre inhaftiert war, erhält 7,6 Millionen Dollar. Das berichtet spiegel.de.
Frankreich – Überwachung: Fünf Sonderberichterstatter des UN-Menschrechtsrats haben Frankreich für den Ausbau von flächendeckender Überwachung kritisiert. Im Fokus stehen das Gesetz zum Ausnahmezustand sowie verschiedene Maßnahmen, die "exzessiv, unverhältnismäßig und im klaren Widerspruch zu internationalen Abkommen" seien, schreibt netzpolitik.org.
Sonstiges
Bürgerwehren: Wolfgang Janisch (SZ) warnt angesichts vermehrt auftauchender Bürgerwehren, dass der Staat sich das Gewaltmonopol nicht aus der Hand nehmen lassen solle – mit einer solchen Negation könne die Erosion beginnen. Zudem bestünden die Bürgerwehren neben "besorgten Bürgern" auch aus Neonazis und Rechtsradikalen, denen es um die Abschaffung des Staates, nicht um seinen Schutz ginge.
Das Letzte zum Schluss
Zehnjähriger im Terrorhaus: Die Polizei in England hat einen muslimischen Schüler verhört, weil dieser in einem Schulaufsatz schrieb, er lebe in einem "Terroristenhaus" - gemeint war allerdings "terraced house", nicht "terrorist house", er hatte sich verschrieben. Den geltenden Anti-Terror-Gesetzen zufolge meldeten die Lehrer den Vorfall, woraufhin die Polizei das Kind in seinem Elternhaus aufsuchte. Die Familie fordert eine Entschuldigung, berichtet spiegel.de.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/lil
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 21. Januar 2016: Flüchtlings-Obergrenze in Österreich / EU-Bürger haben Recht auf Sozialhilfe / Islamisten-Prozess in Düsseldorf . In: Legal Tribune Online, 21.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18203/ (abgerufen am: 16.05.2024 )
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