Energieunternehmen finden den Atomausstieg 2011 irrational. Außerdem in der Presseschau: Werden Programme die Menschen beim Vertragsschluss ersetzen und hat der Verfassungsschutz die Festnahme der mutmaßlichen NSU-Terroristen vereitelt?
Thema des Tages
BVerfG – Atomausstieg: Wurden durch den beschleunigten Atomausstieg die Energieunternehmen faktisch enteignet? Die am gestrigen Dienstag beim Bundesverfassungsgericht begonnene mündliche Verhandlungen hierüber wird heute fortgesetzt. Die Konzerne Eon, RWE und Vattenfall verlangen Schadensersatz in Milliardenhöhe, weil nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 die im Jahr zuvor beschlossenen Laufzeitverlängerungen für Akw zurückgenommen und einige Meiler sofort stillgelegt wurden. Nach Ansicht der Betreiber sei dies irrational gewesen, denn Fukushima habe keine neuen Erkenntnisse über deutsche Akw ergeben. Die Bundesregierung hingegen betont, die veränderte Risikobewertung unter dem Eindruck des Fukushima-GAU sei legitim gewesen. Es obliege allein dem Gesetzgeber, welches Risiko er für tragbar erachte. Es berichteten die SZ (Wolfgang Janisch), die BadZ (Christian Rath) und der Tsp (Jost Müller-Neuhof).
Wolfgang Janisch (SZ) meint, eine atomrechtliche Betriebserlaubnis sei "keine Baugenehmigung"; sie stehe "unter einem permanenten demokratischen Vorbehalt". Das sei bei der Reichweite der Betreiberrechte zu berücksichtigen. Reinhard Müller (FAZ) hält es für "gut, dass wieder einmal deutlich wird, dass sich weitreichende Regierungsentscheidungen nicht im rechtsfreien Raum bewegen (dürfen)". Joachim Jahn (FAZ) merkt an, es wäre "schade", wenn die Betreiber ein Urteil scheuten, um sich mit der Bundesregierung über Kosten und Haftung zu einigen.
Rechtspolitik
TiSA: Die Rechtsanwälte Christian Hamann und Alina Nowosjolowa erklären auf lto.de das Trade in Services Agreement (TiSA) und die hiergegen vorgebrachte Kritik. Das Abkommen wird seit 2012 zwischen 23 Mitgliedstaaten der WTO ausgehandelt, darunter die USA und die EU.
Urheberrecht: Am heutigen Mittwoch wird der Gesetzentwurf zur Reform des Urheberrechts im Bundeskabinett beraten – nach Protesten von Autoren und Verlegern in abgeänderter Form, etwa hinsichtlich der Frist zur Neuvergabe von Nutzungsrechten, erlaubter Pauschalvergütung und des Umfangs des Auskunftsrecht über die Werknutzung. Die Welt (Christian Meier) erläutert dies ausführlich.
Datenschutzrecht: In einem Gastbeitrag in der FAZ kritisieren die Rechtsanwälte Martin Jaschinski und Carlo Piltz die Ausgestaltung des neuerdings im Unterlassungsklagengesetz (UKlaG) vorgesehenen Verbandsklagerechts. Hiernach können Verbände Unternehmen für Datenschutzverstöße abmahnen oder Zivilklagen erheben. Dass im Verfahren auch die Datenschutzbehörden angehört werden, verstoße gegen den zivilprozessualen Beibringungsgrundsatz und die Waffengleichheit.
Flüchtlinge und die Türkei: Die taz (Christian Rath) befasst sich mit den rechtlichen Möglichkeiten, die Türkei als "sicheren Drittstaat" einzustufen. Da die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) nur mit Regionalvorbehalt ratifiziert hat, so dass sich Syrer in der Türkei nicht auf diese berufen können, sei die Türkei kein "europäischer sicherer Drittstaat" nach Artikel 39 der EU-Asylverfahrensrichtlinie. Sie könne aber ein "sonstiger sicherer Drittstaat" nach Artikel 38 der Richtlinie sein.
Justiz
BVerfG zur Melloni-Entscheidung des EuGH: Juwiss.de (Christopher Bilz) befasst sich mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem vergangenen Dezember, mit dem dieses sich erstmals auf den entwickelten "Identitätsvorbehalt" gegenüber EU-Recht gestützt und geprüft hat, ob eine nach Europarecht zwingende Auslieferung auch nach deutschem Verfassungsrecht zulässig ist. Dies sei nicht ohne Weiteres mit der Rechtsprechung des EuGH zum Verhältnis von nationalen Grundrechten zu den europarechtlichen Garantien vereinbar.
BGH zu Boykottaufruf als Meinungsäußerung: Die Forderung des Deutschen Tierschutzbüros an eine Bank, das Konto eines Pelztierzüchters zu kündigen, ist eine zulässige Meinungsäußerung, entschied der Bundesgerichtshof. Die Meinungsfreiheit überwiege hier das Persönlichkeitsrecht des Züchters, berichtet lto.de.
OLG München – NSU: Am 270. Verhandlungstag des Prozesses um die mutmaßlichen Terroristen der Zwickauer Zelle haben Nebenklagevertreter dem Verfassungsschutz vorgeworfen, die Mordserie mit ermöglicht zu haben. Die Behörde habe "1998 die Ergreifung der drei untergetauchten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe allein aus Gründen des Quellenschutzes vereitelt". Das berichtet spiegel.de (Wiebke Ramm). Ein weiteres wichtiges Thema im Prozesses ist zurzeit, inwieweit die Hauptangeklagte Beate Zschäpe am Bekennervideo des Trios beteiligt war, erläutert zeit.de (Tom Sundermann).
LG Hannover – Anschlag auf Flüchtlingsunterkunft: Die SZ (Annette Ramelsberger) schildert den Fall zweier Männer und einer Frau, die sich wegen des Brandanschlags auf ein Flüchtlingsheim in Salzhemmendorf wegen versuchten Mordes vor Gericht verantworten müssen. Während die Angeklagten die Tat als "Ausrutscher" dazustellen versuchten, offenbarten sich im Laufe der Verhandlung diverse Anzeichen einer rechtsradikalen Überzeugung hinter der Tat.
FG Köln zu Scheidungskosten: Das mit einer Änderung des Einkommenssteuergesetzes eingeführte Verbot der steuerlichen Berücksichtigung von Prozesskosten gilt nicht für Scheidungsverfahren, wie lto.de meldet. Diese sind nach einer Entscheidung des Finanzgerichts Köln damit weiterhin steuerlich absetzbar.
LG Leipzig zu Fahrstuhl-Mord: In Leipzip ist ein heute 30-Jähriger wegen Mordes und versuchten Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden, berichtet die FAZ (Stefan Locke). Er hatte einen 22-Jährigen in einen Fahrstuhlschacht gestoßen und einen 20-Jährigen betäubt und auf Bahngleise gelegt, um zu vertuschen, dass er auf die Namen der beiden Opfer illegale Internetgeschäfte abwickelte.
LG Braunschweig – VW-Skandal: In der Affäre um manipulierte Abgaswerte hat nun eine Gruppe von 278 Großaktionären Klage gegen den Automobilkonzern eingereicht, mit der 3,255 Milliarden Euro Schadensersatz gefordert werden, meldet lto.de. Das Hbl. (Martin Murphy u.a.) gibt eine Übersicht über die gegen den Konzern geführten Klagen und porträtiert den juristischen Leiter des Rechtsressorts bei VW, Manfred Döss.
Elektronisches Anwaltspostfach: Der im Streit um die Einrichtung des besonderen elektronischen Anwaltspostfaches (beA) zwischen der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) und zwei Rechtsanwälten Ende Februar geschlossene Vergleich wird von der BRAK widerrufen werden. Die Kammer hatte hierin zugesagt, die betreffenden Postfächer nicht einzurichten. Individuelle Lösungen seien jedoch technisch nicht möglich, berichtet lto.de (Pia Lorenz).
Recht in der Welt
Norwegen – Anders Breivik: In dem Verfahren des verurteilten Massenmörders Anders Breivik gegen seine Haftbedingungen hat die Staatsanwaltschaft am gestrigen Dienstag ausführlich Breiviks Haftbedingungen erläutert, die danach nicht gegen Menschenrechte verstießen, wie spiegel.de (Espen A. Eik/Gerald Traufetter) berichtet. Per Hinrichs (Die Welt) meint dazu, auch ein Massenmörder könne die Einhaltung seiner Rechte überprüfen lassen – im Umgang mit seinen schlimmsten Gegnern beweise der Rechtsstaat seinen hohen Standard.
Griechenland – Anti-Folter-Komitee: Der stellvertretende Direktor beim Kommissar für Menschenrechte des Europarats Nikolaos Sitaropoulos erläutert auf verfassungsblog.de in englischer Sprache den neusten Griechenland-Bericht des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe beim Europarat (CPT). In dem Bericht werde rechtswidrige Gewaltausübung durch Exekutivorgane kritisiert und eine wirkungsvolle Strategie hiergegen gefordert.
Großbritannien – Scheidungsurteil: In einem Scheidungsverfahren in England hat ein Richter der Ehefrau 90 Prozent des Ehevermögens von umgerechnet rund 700.000 Euro zugesprochen, weil diese einen Ausgleich dafür benötige, zugunsten der Familie ihre Karriere aufgegeben zu haben. Aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters habe sie nun nur geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt, wohingegen ihr Ex-Mann durch Einkommen und Rentenansprüche gut abgesichert sei. Dies berichtet spiegel.de.
Polen – Verfassungsgericht: Wie die FAZ (Konrad Schuller) berichtet, stellt die polnische Regierung das europäische Rechtsstaatsverfahren in Frage. Die vergangene Woche veröffentlichte Stellungnahme der Venedig-Kommission beim Europarat nehme er "ernst", so der Vorsitzende der Regierungspartei Pis, Jaroslaw Kaczynski, jedoch werde sie nur "im Rahmen des polnischen Rechts und der polnischen Verfassung" beachtet werden.
Südafrika – Südafrika, Sudan und IStGH: Das oberste Gericht Südafrikas hat entschieden, Südafrika hätte Sudans Präsidenten Omar Hassan al-Bashir bei seinem Besuch im Juni 2015 festnehmen lassen müssen. Indem es ihm die Ausreise ermöglichte, habe das Land seine Verpflichtungen gegenüber dem IStGH verletzt. Der IStGH fahndet nach dem sudanesischen Staatschef per Haftbefehl wegen Völkermordes, so die taz.
Sonstiges
Fischer zu Rache: In seiner aktuellen Kolumne beschäftigt sich Bundesrichter Thomas Fischer auf zeit.de mit Rache in der zivilisierten Gesellschaft und welche Rolle das Strafrecht dabei spielt. Rache sei Vergeltung von Übel an einem dafür Verantwortlichen und das Strafrecht sei ein Ersatz für Rache, um deren gemeinschaftsschädliche Wirkung abzumildern. Aus Fischers Sicht hängt damit beides unmittelbar zusammen oder anders gesagt: "Rache ist zugleich Voraussetzung, Inhalt, Negierung und Untergrabung dessen, was wir uns heute als staatliches 'Strafrecht' vorstellen".
"Smart Contracts": In einem Gastbeitrag in der FAZ befasst sich der Rechtsanwalt Markus Kaulartz mit sogenannten Blockchains, mit denen Daten verschlüsselt und signiert durch Transaktionen ausgetauscht werden können. Diese seien auch für Juristen interessant, denn es könnten hiermit Willenserklärungen für "Smart Contracts" übermittelt werden – automatisierte und vorprogrammierte Verträge, die keiner menschlichen Mitwirkung bedürften.
Das Letzte zum Schluss
Doppelt ist nicht besser: In Hamburg ist ein Raubüberfall auf eine Spielhalle gescheitert, weil der mutmaßliche Täter sich durch eine zufällig vorbeifahrende Polizeistreife entdeckt fühlte und flüchtete. Als er jedoch merkte, dass ihm doch nicht die erwartete Aufmerksamkeit zuteil wurde, kehrte er kurzerhand zur Spielhalle zurück. Die Angestellte hatte jedoch bereits die Tür abgeschlossen. Unschlüssig klopfte er noch einmal vorsichtig und gab, als ihm niemand öffnete, endgültig auf. Das schreibt die taz Nord.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/lil
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 16. März 2016: Enteignung durch Atomausstieg? / Verfassungsschutz mitschuld am NSU? / Vertragsschluss ohne Mensche . In: Legal Tribune Online, 16.03.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18792/ (abgerufen am: 29.04.2024 )
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