BVerfG verhandelt über Tarifeinheitsgesetz: Lex Bahn auf dem Prüfstand

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In Karlsruhe geht es um das Tarifeinheitsgesetz. Das ist seit über einem Jahr in Kraft, wird aber nicht angewendet. Und bedroht dennoch die Macht kleiner Gewerkschaften.
Einige Gewerkschaften sind schon gescheitert, nun versuchen Verdi, der Beamtenbund dbb, die Luftverkehrsgewerkschaften Ufo und Vereinigung Cockpit sowie die Ärztegewerkschaft Marburger Bund in Karlsruhe gegen das Tarifeinheitsgesetz vorzugehen (Az. 1 BvR 1571/15 u.a.). Von insgesamt elf anhängigen Verfassungsbeschwerden werden stellvertretend fünf verhandelt. Zwei Tage hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) dafür angesetzt.
In dem Verfahren geht es um nicht weniger als die Existenz dieser Gewerkschaften. Denn das nach kontroversen Diskussionen im Juli 2015 in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles kehrt zurück zu dem Prinzip "Ein Betrieb – ein Tarifvertrag". Existieren in einem Betrieb mehrere Gewerkschaften, gilt nach dem Gesetz nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft, die zum Zeitpunkt des jüngsten Abschlusses im Betrieb die meisten Mitglieder hatte.
Der Begriff des Betriebs ist dabei der im arbeitsrechtlichen Sinne und nicht mit dem Unternehmen gleichzusetzen. Nach dem Bundesarbeitsgericht (BAG) ist ein Betrieb "eine organisatorische Einheit, innerhalb derer der Arbeitgeber zusammen mit den von ihm beschäftigten Arbeitnehmern bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt" (BAG, Urt. v. 09.12.2009, Az. 7 ABR 38/08).
Exodus der Spartengewerkschaften?
Für kleine Spartengewerkschaften bedeutet dieses Gesetz, dass ihr Einfluss in Unternehmen so gut wie ausgeschaltet werden kann. Eine Konkurrenzvereinigung, die nicht an den Verhandlungen beteiligt war, hat lediglich noch ein Anhörungsrecht beim Arbeitgeber und kann den Vertrag nachzeichnen.
Für die Unternehmen kann das Gesetz ein wichtiges Pfund sein: Das Tarifeinheitsgesetz soll verhindern, dass auch kleine Gewerkschaften mit Arbeitskampfmaßnahmen den Betrieb faktisch lahm legen können, die einen großen Anteil der Mitarbeiter gar nicht repräsentieren.
Schließlich musste sich in der Vergangenheit die Deutsche Bahn erheblich von der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GdL) unter Druck setzen lassen, obgleich die Lokführer, die sie vertritt, bei der Bahn nur einen vergleichsweise geringen Anteil der Mitarbeiter ausmachen. Ähnlich ergeht es Fluggesellschaften mit der nur das Cockpitpersonal vertretenden Vereinigung Cockpit, deren Streiks erhebliche Kosten verursachen.
Es gehe nicht darum, das Streikrecht zu beschränken, sagte Arbeitsministerin Andrea Nahles vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Neuregelung sei auch nicht mit dem Hintergedanken erlassen worden, darüber kleine Gewerkschaften zu bekämpfen. "Das ist weder Ziel noch Wirkung des Gesetzes", sagte die SPD-Politikerin am Dienstag in der Verhandlung in Karlsruhe.
Möglich gemacht hatte das Nebeneinander mehrerer Gewerkschaften ein Urteil des BAG. Das Gericht hatte im Jahr 2010 den bis dahin jahrzehntelang geltenden Grundsatz der Tarifeinheit gekippt, nach dem bei mehreren Tarifverträgen in einem Betrieb das Arbeitsgericht den anzuwendenden Tarifvertrag bestimmte. Der zehnte Senat sagte seinerzeit sehr deutlich: "Es gibt keinen übergeordneten Grundsatz, dass für verschiedene Arbeitsverhältnisse derselben Art in einem Betrieb nur einheitliche Tarifregelungen zur Anwendung kommen können." Seitdem konnten im selben Betrieb für gleiche Beschäftigtengruppen verschiedene Tarifverträge gelten.
2/2: Aushöhlung der Freiheitsrechte
Gegen das Tarifeinheitsgesetz geklagt haben auch die Lokführergewerkschaft GDL und der Deutsche Journalisten-Verband (DJV). Drei Eilanträge gegen das im Sommer 2015 in Kraft getretene Gesetz hatten die Verfassungsrichter im Oktober 2015 abgewiesen - die Nachteile seien nicht derart schwerwiegend oder gar existenzgefährdend, dass sie eine einstweilige Anordnung rechtfertigen würden. Bereits gescheitert mit ihren Verfassungsbeschwerden gegen das Tarifeinheitsgesetz sind bereits die Deutsche Feuerwehr-Gewerkschaft (DFeuG) sowie die Neue Assekuranz Gewerkschaft (NAG). Das heißt aber nicht, dass die aktuellen Verfassungsbeschwerden nicht trotzdem Erfolg haben können.
Die Kläger jedenfalls zeigen sich siegesgewiss. "Das Grundgesetz sagt, dass die Menschen Gewerkschaften bilden dürfen", sagt dbb-Chef Klaus Dauderstädt. "Dieses Freiheitsrecht wird unterhöhlt, wenn der Gesetzgeber vorschreibt, welche Gewerkschaften sich um die Arbeitsbedingungen, das Gehalt oder die Urlaubstage der Arbeitnehmer kümmern dürfen und welche nicht." Unter den 42 Mitgliedsgewerkschaften des dbb ist auch die GDL.
Juristisch betritt das Gericht nach Worten seines Vizepräsidenten Ferdinand Kirchhof in dem Verfahren Neuland. Zu klären seien daher "zahlreiche komplizierte und neue Fragen», sagte er zum Auftakt. In dem Bereich gebe es "bislang kaum verfassungsrechtliche Rechtsprechung". Denn der Gesetzgeber habe sich bei der Regelung der Konkurrenz im Arbeitnehmerlager bisher zurückgehalten.
In der Praxis übrigens haben die Unternehmen das Tarifeinheitsgesetz bisher kaum angewendet: "Bislang sind die Auswirkungen auf die Praxis begrenzt, was aber auch auf die Regelung zum Inkrafttreten zurückzuführen ist", sagt Thomas Ubber, Partner bei der Kanzlei Allen & Overy. Ubber ist regelmäßig für die Deutsche Bahn und die Lufthansa tätig. "Das Gesetz greift eben nur, wenn beide konkurrierenden Tarifverträge nach dem 20. Juli 2015 abgeschlossen wurden. Schon jetzt zeigt sich aber, dass das Entstehen neuer Spartengewerkschaften durch das Gesetz ausgebremst wurde. Künftig wird sich das Tarifeinheitsgesetz sicherlich in einigen Branchen auswirken, besonders in Verkehrsbetrieben und in Krankenhäusern.
Wie würden Sie entscheiden?
Über die Frage, wie das BVerfG über die Verfassungsbeschwerden entscheiden wird, lässt sich derzeit nur spekulieren. "Nach § 4a Abs. 2 Satz 2 Tarifvertragsgesetz (TVG) sind bei kollidierenden Tarifverträgen im Betrieb nur die Rechtsnormen derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat", erklärt Prof. Dr. Georg Annuß, Partner bei Linklaters in München. "Darin liegt nach meiner Einschätzung – die verbreitet geteilt wird – in Bezug auf Regelungen zu den Rechten und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis ein Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG), der ja auch eine koalitionsentsprechende Betätigung und Wirkung schützt.
Thomas Ubber mag dieser Einschätzung nicht folgen: "Wenn man Gerüchten glaubt, wird das Bundesverfassungsgericht den Verfassungsbeschwerden stattgeben", sagt der Anwalt."Daran glaube ich nicht. Der Senat macht sich die Sache nicht leicht, worauf auch schon die umfangreiche mündliche Verhandlung hindeutet. Wenn ich wetten müsste, würde ich auf die Verfassungsmäßigkeit setzen – allerdings nur mit kleinem Wetteinsatz."
Mit Material von dpa