Der Berliner Verfassungsgerichtshof verhandelt am Mittwoch über die chaotischen Wahlen zum Abgeordnetenhaus - und hält auch eine vollständige Wiederholung der Wahl für möglich. So jedenfalls die vorläufige Rechtseinschätzung.
Zu Beginn der Verhandlung im großen Hörsaal der FU Berlin zeigt sich, dass es für alle Berlinerinnen und Berliner spannend wird: Die Präsidentin des Berliner Verfassungsgerichtshofs (VerfGH), Ludgera Selting, machte deutlich, dass der VerfGH eine vollständige Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksversammlungen für möglich hält.
Der VerfGH betonte zu Beginn der Verhandlung, es sei unmöglich, das genaue Ausmaß der Wahlfehler zu ermitteln. Die Niederschriften der 2.256 Wahllokale zeigten jedoch, dass es be den Wahlen am 26. September 2021 flächendeckend zu chaotischen Zuständen gekommen sei. Man gehe davon aus, dass die dokumentierten Wahlfehler nur "die Spitze des Eisbergs" seien, so Selting.
Schon die Vorbereitung sei nach den bisherigen Erkenntnissen des VerfGH fehlerhaft gewesen. So seien Wahllokale nicht ausreichend mit Wahlkabinen und Wahlzetteln ausgestattet gewesen. Hinzu kämen zahlreiche schwerwiegende Fehler am Wahltag selbst, viele Menschen hätten wegen langer Schlangen, fehlender oder ungültiger Stimmen nicht, nicht unter zumutbaren Bedingungen oder nicht wirksam wählen können.
Nach vorläufiger Rechtsauffassung gehen die Berliner Verfassungsrichterinnen- und -richter davon aus, dass es bei der Vorbereitung und der Durchführung zu schwerwiegenden Fehlern kam und diese Fehler auch mandatsrelevant sind. Es sehe danach aus, dass nur eine vollständige Wiederholung der Wahl das Vertrauen in die Demokratie wiederherstellen könne. Sollte es dazu kommen, blieben das Abgeordnetenhaus und die Bezirksversammlungen jedoch bis zur Neuwahl handlungsfähig.
Update: Deutliche Worte der VerfGH-Präsidentin
Vor dem VerfGH werden zunächst die Beschwerden der Landeswahlleitung, der Senatsverwaltung für Inneres, Digitalisierung und Sport sowie der politischen Parteien Die Partei (vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Sebastian Roßner von LLR Rechtsanwälte) und AfD (vertreten durch Rechtsanwalt Uwe Wolfgang Kasper) verhandelt. Am Verfahren beteiligen können sich aber auch der Präsident des Abgeordnetenhauses, die Vorstehenden der Bezirksverordnetenversammlungen, die Bezirkswahlleitenden sowie Wahlbewerber, Abgeordnete und Bezirksverordnete. Angesichts der zahlreichen Beteiligten, Öffentlichkeit und Presse konnte der Verfassungsgerichtshof nicht im Kammergericht tagen, sondern nutzte den großen Hörsaal der Freien Universität Berlin.
Die sehr deutlichen Worte der VerfGH-Präsidentin Selting zu Beginn waren eine Überraschung: Würde der VerfGH tatsächlich die gesamte Wahl für ungültig erklären, ginge dies über die Anträge hinaus. Die Partei und die AfD, die beide grundsätzliche Bedenken gegen die Wahl hegen, hätten gegen dieses Ergebnis zwar nichts einzuwenden. Die Landeswahlleiterin und die Senatsverwaltung für Inneres versuchten jedoch, ihre Einsprüche auf einige wenige Fälle zu begrenzen und argumentierten damit, dass die Fehler zwar ärgerlich, aber weder flächendeckend vorgekommen noch letztlich relevant für den Ausgang der Wahl gewesen seien.
Anwälte des Berliner Senats: Lange Schlangen kein schwerwiegender Wahlfehler
Die Senatsverwaltung wurde dabei vertreten von der Berliner Kanzlei Redeker Sellner Dahs - und deren Anwälte nahmen die vorläufige Rechtsauffassung des Verfassungsgerichtshofs gründlich auseinander. Dr. Ulrich Karpenstein zitierte nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern griff auch auf Rechtsprechung aus der Weimarer Republik zurück, um zu zeigen: Lange Schlangen vor den Wahllokalen mögen unangenehm sein, ein schwerwiegender Wahlfehler liege darin jedoch nicht.
Vermutungen und Spekulationen zu weiteren als den dokumentierten Wahlfehlern dürften keine Rolle spielen. Wolle der Verfassungsgerichtshof vom strengen Maßstab des Bundesverfassungsgerichts abweichen, müsse er diese divergierende Rechtsprechung den Karlsruher Richtern vorlegen. Zudem sei nicht zu erkennen, dass die Fehler mandatsrelevant seien.
Karpensteins Kollegin Dr. Roya Sangi warf dem VerfGH vor: "Sie wollen aus dem diffusen Gefühl, da ist etwas in Berlin schief gelaufen, über die heute vorhanden Einsprüche hinausgehen." Das Wahlprüfungsverfahren sei aber keine Sanktion für eine womöglich schlecht organisierte Wahl, sondern diene nur dazu, konkrete Wahlfehler zu überprüfen. Auch sie betonte, es gehe um die Demokratie: "Fehlerfreie Wahlen gab es nie - wenn man nun von den Maßstäben des Bundesverfassunggerichts abweicht, wird jede künftige Wahl leicht zu sabotieren sein", so Sangi weiter.
Die Aussage Karpensteins, "irgendeine Spaßpartei" könnte künftig planmäßig für lange Schlangen sorgen, sorgte allerdings für Lacher im Saal. Dr. Roßner als Vertreter der erklärten Spaßpartei "Die Partei" hielt dagegen, Spaßpartei sei hier dann wohl die Landeswahlleitung gewesen.
Vertrauen in die Demokratie erschüttert?
Der VerfGH wird nun in den weiteren Beratungen grundsätzliche Überlegungen dazu anstellen müssen, wie schwerwiegend die Fehler waren, nach welchen Maßstäben sich die Mandatsrelevanz ermitteln lässt und inwiefern das Vertrauen in die Demokratie erschüttert ist - aber auch zu vielen Detailfragen, wie etwa der, ob in Abstimmung mit der Landeswahlleitung kopierte Stimmzettel "amtlich hergestellt" und damit gültig sind oder nicht.
Eine Entscheidung wird voraussichtlich in den kommenden drei Monaten verkündet. Möglich ist, dass dann alle Berlinerinnen und Berliner erneut wählen müssen - sicher ist das aber noch nicht.
VerfGH zur "Pannenwahl" 2021: . In: Legal Tribune Online, 28.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49756 (abgerufen am: 12.12.2024 )
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