Überwacht wurden die Blogger von Netzpolitik.org während der Ermittlungen wegen angeblichen Landesverrats nicht. Nach Einsichtnahme mutmaßen sie aber, dass die Akten frisiert wurden. Auch die Bundesregierung beantwortet wichtige Fragen nicht.
Die Ungereimtheiten um die netzpolitik-Affäre bleiben. Auch nach der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen, nach der Einsichtnahme von netzpolitik.org in die Ermittlungsakten und nach weiteren Investigativrecherchen des Verbunds von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR besteht der größte Widerspruch fort.
Die Bundesregierung bleibt bei der Behauptung, Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) habe im Rahmen des Ermittlungsverfahrens unter anderem gegen Markus Beckedahl und André Meister zu keinem Zeitpunkt von seinem Weisungsrecht gegenüber dem Generalbundesanwalt (GBA) Gebrauch gemacht. Vielmehr sei man Ende Juli "gemeinsam überein gekommen," dass der externe Gutachtenauftrag, den Range vergeben hatte, "durch ein internes Gutachten aus dem Ministerium obsolet werde". Eine schriftliche Fixierung dieser Vereinbarung gebe es nicht. Es "besteht kein Schriftwechsel, da die maßgeblichen Gespräche zwischen BMJV und GBA telefonisch geführt wurden", heißt es in der Antwort der Bundesregierung.
Harald Range hatte behauptet, Maas habe ihn per Weisung angewiesen, das Gutachten zu der Frage, ob netzpolitik.org Staatsgeheimnisse veröffentlicht hatte, zu stoppen. Ranges öffentliche Stellungnahme, derzufolge dies einen "unerträglichen Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz" darstelle, führte zu seiner Versetzung in den einstweiligen Ruhestand, weil der Justizminister das Vertrauensverhältnis zwischen sich und dem Generalbundesanwalt als zerstört ansah.
Range: "Das BMJV drohte mir"
Das war wohl erst seit den Ermittlungen gegen die Journalisten der Fall. Schließlich begründet die Bundesregierung die fehlende schriftliche Fixierung einer Verabredung zwischen Range und dem BMJV an anderer Stelle damit, dass eine solche "aufgrund der bisherigen vertrauensvollen Zusammenarbeit nicht für notwendig erachtet" worden sei.
Scheinbar sah Ex-GBA Range das anders. Laut Bericht der SZ machte er eine Notiz über das Telefonat mit Stefanie Hubig, der Staatssekretärin im Bundesjustizministerium (BMJV): "Das BMJV drohte mir: Entweder das externe Gutachten wird zurückgezogen, oder ich bin meinen Job los."
Die Notiz ist eine von wenigen. Übereinstimmend berichten sowohl die Journalisten von netzpolitik.org unter Bezugnahme auf die Akteneinsicht ihrer Anwälte als auch die SZ, dass sich in der Akte nicht viele Vermerke über den Inhalt von Telefongesprächen und erstaunlich wenige E-Mails fänden.
Womöglich erachteten auch das Bundesamt für Verassungsschutz, das Innen- und das Justizministerium die gesamte Zusammenarbeit als so vertrauensvoll, dass es vieler schriftlicher Notizen nicht bedurfte.
Netzpolitik.org geht von frisierten Akten aus
Die Journalisten von netzpolitik.org gehen aber davon aus, dass die Akten "frisiert" worden seien: "Die Gespräche und Mails sind zwar in aktenkundigen Briefwechseln erwähnt, aber was darin besprochen und geschrieben wurde, bleibt unklar. Unsere Anwälte können sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie eine extra für die Akteneinsicht erstellte Akte bekommen haben", so mehrere Journalisten der Plattform am gestrigen Sonntag.
Befürchtungen, dass Telefone abgehört oder andere, mit einschneidenden Grundrechtseingriffen verbundene Ermittlungsmaßnahmen gegen sie eingeleitet wurden, haben die Journalisten jedoch offenbar nicht mehr. Es gab keine Durchsuchungen von Redaktions- oder Privaträumen, auch andere Obersvationsmaßnahmen wurden offenbar nicht ergriffen.
"Der Ermittlungsauftrag des GBA an das BKA umfasste seit dem 13. Mai ausschließlich standardisierte, niedrigschwellige Erkenntnisanfragen. Exakt in diesem Rahmen bewegte sich das LKA", so formuliert es die Bundesregierung. Range selbst hat nach Angaben der Bundesregierung am 19. Mai angeordnet, dass es nicht zu "Exekutivmaßnahmen" gegen Beckedahl und Meister kommen dürfe.
2/2: GBA war bei Gutachten-Auftrag in Kontakt mit BMJV
Widersprüchlich sind die Angaben der Bundesregierung zum Zeitpunkt dieser Anordnung. So heißt es in ihrer Antwort, Range habe die Anordnung "zum selben Zeitpunkt" getroffen wie diejenige, dass ein externes Gutachten (bei dem Juraprofessor Jan-Hendrik Dietrich von der Fachhochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung) eingeholt werden solle.
Der schriftliche Gutachtensauftrag datiert auch nach Angaben der Bundesregierung aber erst vom 2. Juli 2015. Das deckt sich auch mit Informationen von LTO. Die Bundesanwaltschaft hat übrigens, so die Bundesregierung, bei der Frage der Vergabe des Sachverständigengutachtens mit dem BMJV in Kontakt gestanden. Wie sich das mit der angeblichen Warnung vor Ermittlungen gegen die Journalisten verträgt, die das BMJV bereits frühzeitig gegeben haben will, beantwortet die Bundesregierung ebenso wenig wie die Frage, wieso die Beauftragung von Dietrich über einen Monat in Anspruch nahm.
Nach Informationen des Rechercheverbundes von SZ, WDR und NDR nutzten die Ermittler die Zwischenzeit, um sich nach den finanziellen Verhältnissen der Blogger zu erkundigen. Am Ende hätten sie neun Seiten von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht erhalten.
Und keiner hat's gewusst ...
Zu einer Bestätigung des Anfangsverdachts gegen die Journalisten führte diese Suche offenbar nicht; auch nicht zu näheren Informationen über die Whistleblower, welche Netzpolitik.org mit den Informationen aus dem Verfassungsschutz versorgt hatten. Das Ermittlungsverfahren gegen sie wegen des Verrats von Dienstgeheimnissen führt nun die zuständige Staatsanwaltschaft Berlin weiter.
Auch in ihrer Antwort auf die ausführliche Kleine Anfrage der Grünen legt die Bundesregierung großen Wert darauf, dass gegen die Quellen der Journalisten, in Sicherheitskreisen gern als "Durchstecher" bezeichnet, ermittelt wurde.
Von den Ermittlungen aufgrund der Veröffentlichung von Verschlusssachen auf Netzpolitik.org wusste man auch im Innenministerium von Thomas de Maizière, dem das BfV untersteht. Es seien aber, da es um die Ermittlungen gegen die Quellen der Blogger ging, immer nur die Sicherheitsstaatssekretärin und der fachlich zuständige Abteilungsleiter informiert worden. Der Innenminister selbst habe "nach seiner Erinnerung Ende Juli 2015 von den Strafanzeigen und dem Ermittlungsverfahren erfahren. Seine Einlassungen ergeben sich aus den öffentlichen Verlautbarungen der Regierungspressekonferenz".
... außer allen im BfV
Zwar hätten de Maizières Leute von den Strafanzeigen des BfV gewusst. Den Minister persönlich zu unterrichten, sei in Übereinstimmung mit § 13 Abs. 3 Nr. 1 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien erst erforderlich geworden, als die Sache grundsätzliche politische Bedeutung erlangte. Das, so die Bundesregierung, sei erst durch die "aktuelle Mediendiskussion" geschehen.
Im Bundeskanzleramt schließlich will man zwar von den Anzeigen des BfV gegen Unbekannt zwar schon am 21. April gehört haben - auch hier wird jedoch großer Wert auf die Feststellung gelegt, dass nicht klar war, dass die Ermittlungen sich auch gegen Journalisten richten würden. Man bleibt zudem bei der bislang gewählten Formulierung, wonach die Sache "am Rande einer Besprechung" erwähnt wurde, "mündlich und in allgemeiner Form". An diesen Besprechungen nehme "in der Regel" auch der Chef des Bundeskanzleramts teil, heißt es wörtlich. Ob Peter Altmaier anwesend war, bleibt offen. "Über die weiteren Einzelheiten der vom BfV gestellten Strafanzeigen sowie des Ermittlungsverfahrens des LKA Berlin und des GBA ist das Bundeskanzleramt im Vorfeld der Presseveröffentlichungen vom 30. Juli 2015 nicht informiert worden".
Dass nur so wenige der politisch Verantwortlichen von irgendetwas gewusst haben wollen, ist vor allem deshalb umso verwunderlicher, weil nach Wochen voller Behauptungen und gegenseitiger Beschuldigungen eigentlich nur eines fest steht: Es gab über zumindest eines der angeblichen Staatsgeheimnisse zuvor einen Bericht im Plenum des Deutschen Bundestags - wenn auch, wie die Bundesregierung meint, nur über offene, nicht aber über sensible Informationen. Allein im Bundesamt für Verfassungsschutz gab es dutzende Mitwisser, die Kenntnis hatten von den Dokumenten. Ein Ermittlungsverfahren gegen bestimmte Personen wurde bislang nicht eingeleitet.
Pia Lorenz, Landesverrats-Verdacht gegen Netzpolitik-Journalisten: Offene Fragen auch nach Akteneinsicht . In: Legal Tribune Online, 08.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16829/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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