Druckversion
Donnerstag, 8.06.2023, 07:13 Uhr


Legal Tribune Online
Schriftgröße: abc | abc | abc
https://www.lto.de//recht/nachrichten/n/bverfg-1bvr2447-19-prozesskostenhilfe-schwierige-rechtsfragen-abwaegung-grundrechte/
Fenster schließen
Artikel drucken
42302

BVerfG zur Prozesskostenhilfe: Abwä­gung in ein­zel­fal­laf­finen Rechts­ge­bieten erlaubt

24.07.2020

Ein Stapel Zeitungen

(c) BillionPhotos.com - stock.adobe.com

Wenn Gerichte über Prozesskostenhilfeanträge entscheiden, dürfen sie schwierige Rechtsfragen nicht vorab klären. In einzelfallaffinen Rechtsgebieten ist aber zumindest eine Abwägung grundrechtlich geschützter Interessen erlaubt, so das BVerfG.

Anzeige

Wer sich gegen schlechte Presse über seine Person vor Gericht wehren will, hat nicht unbedingt Anspruch auf Prozesskostenhilfe (PKH). Das stellte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einem am Freitag veröffentlichten Beschluss klar. Um niemandem den Zugang zu einem Gerichtsverfahren zu verbauen, darf die Entscheidung, ob es Prozesskostenhilfe gibt, grundsätzlich nicht mit der Vorabklärung schwieriger Rechtsfragen verbunden sein - denn genau das gehört in den eigentlichen Prozess. Die für presserechtliche Streitigkeiten typische Einzelfallabwägung gehört dazu aber nicht, wie das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe kürzlich entschied (Beschl. v. 07.07.2020, Az. 1 BvR 2447/19).

Geklagt hatte ein Mann, der 2018 wegen Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. Darüber berichtete der örtliche Ableger einer großen Tageszeitung im Internet unter der Überschrift: "Supermarkt-Chef, Kollegen und Schulleiterin verprügelt - Vorsicht, Student sieht Rot!" Ein Foto des Verurteilten war um die Augen unkenntlich gemacht, Vorname und Alter wurden aber genannt. Der Artikel berichtet in zuspitzender Form über die Taten und verschiedene Äußerungen des Mannes im Strafverfahren, wobei ihm unter anderem ein "Hang zur Gewalt" und zu anlasslosen "Ausrastern" attestiert wird.

Der Mann wollte gegen den Bericht vorgehen, sein Prozesskostenhilfegesuch wurde vom Landgericht (LG) Berlin und danach auch vom Kammergericht (KG) jedoch mangels hinreichender Erfolgsaussichten zurückgewiesen. Auch nicht schwerwiegende Gewalttaten und deren konkrete Umstände und Täter gehörten je nach Einzelfall zu dem die Öffentlichkeit berechtigterweise interessierenden Zeitgeschehen, so die Zivilgerichte. Darüber auch individualisierend zu berichten, sei der Presse erlaubt. Die besondere Begehungsweise und impulsive Aggressivität der Taten haben laut LG und KG ein hinreichendes Interesse an dem Bericht begründet.

BVerfG: In einzelfallaffinen Rechtsgebieten darf hinsichtlich PKH abgewogen werden

Darin, dass die Gerichte vorab abgewogen und ihm daraufhin die PKH verweigert hätten, sah der Mann seinen Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit verletzt. Er zog nach Karlsruhe. Schwierige, nicht geklärte Rechtsfragen dürften nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden, so der Mann zur Begründung seiner Verfassungsbeschwerde.

Das BVerfG nahm diese aber nicht zur Entscheidung an. Die Gerichte seien zu Recht davon ausgegangen, dass eine Klage keine großen Erfolgsaussichten haben würde. Soweit die generellen Maßstäbe der Abwägung hinreichend geklärt seien, dürfe eine fachgerichtliche Voreinschätzung im Verfahren der Prozesskostenhilfe Berücksichtigung finden. Andernfalls, so das BVerfG, wäre Prozesskostenhilfe in einzelfallaffinen Rechtsbereichen wie etwa im Äußerungsrecht, um das es in seinem Fall gehe, fast immer zu gewähren. Dies sei mit dem Verbot, "schwierige, bislang ungeklärte Rechtsfragen" im Prozesskostenhilfeverfahren zu entscheiden, aber nicht gemeint.

Nach Auffassung der Karlsruher Richter haben LG und KG bei ihren Entscheidungen die Anforderungen an die Rechtsschutzgleichheit gewahrt. Die Einschätzung der Erfolgsaussichten sei nicht derart schwierig oder maßstäblich offen, dass sie einer Vorabwürdigung im Verfahren der Prozesskostenhilfe entgegenstünde. Außerdem sei die für die Einschätzung maßgebliche Tatsachengrundlage aus den Akten ersichtlich gewesen, denn der beanstandete Bericht und das zugrundeliegende Strafurteil seien bereits vorab bekannt gewesen.

Die Verfassungsrichter stellten in ihrer Entscheidung auch noch einmal klar, dass eine identifizierende Berichterstattung über Straftäter nicht nur bei schweren Gewalttaten oder Prominenten zulässig ist. Es komme immer auf die Umstände und das öffentliche Interesse im Einzelfall an, betonte das BVerfG.

acr/LTO-Redaktion

mit Materialien der dpa

  • Drucken
  • Senden
  • Zitieren
Zitiervorschlag

BVerfG zur Prozesskostenhilfe: Abwägung in einzelfallaffinen Rechtsgebieten erlaubt . In: Legal Tribune Online, 24.07.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42302/ (abgerufen am: 08.06.2023 )

Infos zum Zitiervorschlag
  • Mehr zum Thema
    • Zivil- und Zivilverfahrensrecht
    • Grundrechte
    • Journalismus
    • Medien
    • Persönlichkeitsrecht
    • Prozesskostenhilfe
  • Gerichte
    • Bundesverfassungsgericht (BVerfG)
02.06.2023
Medien

Durchsuchungen in Hessen:

Neues Fein­des­listen-Straf­recht im Ein­satz gegen Jour­na­listen

Eine 2021 eingeführte Vorschrift soll die Erstellung von "Feindeslisten" bestrafen. Ein diplomatisch heikler Fall aus Darmstadt zeigt nun, dass deutsche Staatsanwaltschaften damit auch Journalisten verfolgen können.

Artikel lesen
26.05.2023
Zivilprozess

BVerfG rügt das LG Berlin:

Wieder ein Ver­stoß gegen den Grund­satz der pro­zes­sualen Waf­fen­g­leich­heit

Die Pressekammer des LG Berlin hat in Karlsruhe einen schweren Stand: Wieder hat das BVerfG einen Verstoß gegen die prozessuale Waffengleichheit festgestellt, weil in einer presserechtlichen Streitigkeit erneut die Anhörung ausgeblieben war.

Artikel lesen
07.06.2023
Klimaproteste

LTO liegt Beschluss vor:

Durfte die Polizei "letz­te­ge­ne­ra­tion.de" kapern?

Warum wurde die Webseite der "Letzten Generation" im Zuge der Razzia komplett abgeschaltet – und war das verhältnismäßig? Darf die Polizei eine Webseite für ihre eigene Warnung nutzen? Ein Gerichtsbeschluss wirft neue Fragen auf.

Artikel lesen
07.06.2023
Volksabstimmung

Vorerst kein neues Radgesetz für Bayern:

Ver­fas­sungs­ge­richtshof hält Volks­be­gehren für unzu­lässig

Ein neues Radgesetz sollte in Bayern für besser ausgebaute Radwege sorgen. Knapp 30.000 Menschen unterzeichneten ein entsprechendes Volksbegehren. Nun stellt sich jedoch der BayVerfGH in die Quere: das Volksbegehren sei unzulässig.

Artikel lesen
07.06.2023
Diskriminierung

Diskriminierungsvorwurf in München:

Jura­fa­kultät der LMU dis­tan­ziert sich von Semina­ran­kün­di­gung

An der LMU sorgt eine Seminarankündigung zum Arbeitsrecht für Aufsehen. Die zu diskutierenden Rechtsfragen darin seien diskriminierend und herablassend formuliert worden. Nun distanziert sich das Professorium von den Passagen seines Kollegen.

Artikel lesen
06.06.2023
Justiz

Die Justiz braucht nicht mehr Personal, sondern Effizienz:

Was Staats­an­wälte und Richter ein­fach besser machen müssen

Statt mehr Personal zu fordern, sollten Richter und Staatsanwälte zuerst auf sich selbst schauen: Mit effizienteren Arbeitsabläufen ließen sich viele Verfahren schneller und besser erledigen, meint Strafverteidiger Sebastian T. Vogel.

Artikel lesen
TopJOBS
Sta­ti­ons­re­fe­ren­da­re (m/w/x)

Freshfields Bruckhaus Deringer , Mün­chen

Ju­rist als Di­gi­tal Con­tent Ma­na­ger / Re­dak­teur (m/w/d)

Wolters Kluwer Deutschland GmbH , Hürth

Ju­rist*in (m/w/d) für die in­ter­ne Rechts­be­ra­tung im Rechts­ge­biet...

Stadt Köln , Köln

Ju­rist (m/w/d)

Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg , Mag­de­burg

Voll­ju­ris­ten (m/w/d) – Ih­re Zu­kunft in der hes­si­schen Jus­tiz

Hessisches Ministerium der Justiz , Wies­ba­den

Voll­ju­rist*in Schwer­punkt Ge­richts­ver­fah­ren (m/w/div)

Deutsche Rentenversicherung Bund , Ber­lin

Was ich als Be­rufs­ein­s­tei­ger über die Ar­beit ei­nes Ver­sor­gungs­wer­kes und...

Simmons & Simmons , Frank­furt am Main

Se­nior Di­gi­tal Pro­duct Ma­na­ger - WKO (m/w/d)

Wolters Kluwer Deutschland GmbH , Hürth

Alle Stellenanzeigen
Veranstaltungen
18. FGS Doktorandenseminar

16.06.2023, Bonn

Fortbildung Miet- und Wohnungseigentumsrecht im Selbststudium/online

09.06.2023

Mediation Kompakt im Fernstudium/online

12.06.2023

Health & Law: Künstliche Intelligenz im Gesundheitswesen

12.06.2023, Berlin

Out & About - Ein Event mit unserem LGBTQ+-Netzwerk in Berlin

29.06.2023, Berlin

Alle Veranstaltungen
Copyright © Wolters Kluwer Deutschland GmbH