Ein Start-up aus Estland macht es vor: Schiedsgerichte aus der Crowd. Richter brauchen kein Examen, aber gute Bewertungen und möglichst viele Entscheidungen. Ann-Kristin Becker und Nico Kuhlmann erklären, wie die Plattform funktioniert.
Legal Tech entwickelt sich unaufhaltbar weiter. In letzter Zeit rückt dabei immer mehr auch der Bereich der alternativen Streitbeilegung in den Vordergrund. Verschiedene Streitbeilegungsplattformen im Internet haben bereits von sich Reden gemacht. Jetzt will ein Startup aus dem digitalen Vorzeigeland Estland den Grundsatz der Privatautonomie auf die Spitze treiben. Bei Jury.Online werden Schiedsgerichte bald aus der Crowd gebildet. Jeder kann dann Richter werden und zwar gänzlich ohne Juristenausbildung. Entschieden wird anonym und, wenn es sein muss, durch mehrere Instanzen.
Die alternative Streitbeilegung ist kein neues Thema. Die Zivilprozessordnungen der verschiedenen Jurisdiktionen kennen keine Verpflichtung, dass ein Rechtsstreit durch einen staatlichen Richter gelöst werden muss. Vielmehr existieren diverse Öffnungsklauseln, die eine alternative Streitbeilegung regeln und deren Ergebnisse unter bestimmten Voraussetzungen sogar rechtlich anerkennen.
Seit Jahrzehnten lösen vor allem größere Unternehmen ihre Konflikte im Wege alternativer Streitbeilegungsverfahren wie dem Schiedsverfahren. Parteiautonomie steht auch dabei im Vordergrund. Den Parteien steht es frei, sich neben der Verfahrenssprache und dem anwendbaren Recht auch ihre Schiedsrichter selbst auszusuchen. Diese müssen keine juristische Ausbildung vorweisen können. Entscheidend sind eher Kriterien wie fachliche Qualifikation und kultureller Hintergrund.
Anschließend werden die Streitigkeiten vor dem ausgewählten Schiedsgericht und meist abseits der Öffentlichkeit entschieden. Die Entscheidung ist für die Parteien bindend und kann vor staatlichen Gerichten nur im Wege eines Aufhebungsverfahrens auf gravierende Fehler hin überprüft werden. Ansonsten ist ein Schiedsspruch wie ein staatliches Gerichtsurteil vollstreckbar.
Beweise einfach hochladen
Ein ähnliches Grundkonzept verfolgt auch das estländische Start-Up Jury.Online. Die Parteien eines Smartcontracts können freiwillig vereinbaren, bei Streitigkeiten aus dem Vertrag ein Schiedsgericht im Internet anzurufen. Dabei wird eine anonyme Auswahl an möglichen Schiedsrichtern mit der jeweiligen Bewertung und ihrer Erfahrung angezeigt. Die Schiedsrichter legen dabei die Preise, die sie für ihre Tätigkeit verlangen, vorher nach freiem Ermessen fest. Dadurch wissen die Parteien genau, wie viel die konkrete Streitbeilegung kostet.
Die substantiierte Anspruchsdarlegung erfolgt ausschließlich digital. Mögliche Beweisangebote in Form von Textdokumenten, Fotos oder Videos werden einfach hochgeladen.
Die Entscheidung wird anschließend dezentral und anonym getroffen. Jeder Schiedsrichter kann ganz einfach im Rahmen einer Abstimmung seine Entscheidung fällen – losgelöst von jedem prozessualen und materiellen Recht. Der Entscheidungsmaßstab ist das jeweilige subjektive Gerechtigkeitsempfinden. Dabei wissen die Schiedsrichter nichts von den Abstimmungen ihrer Mitschiedsrichter. Entscheidungsbesprechungen in der Gruppe sind bewusst nicht gewollt.
Bei der Auswahl der Richter soll die Bewertung auf der Plattform eine wichtige Rolle spielen. Die Bewertungen der Schiedsrichter steigen, wenn diese "richtige" Entscheidungen treffen. Das heißt: Stimmt der Schiedsrichter mit der Mehrzahl der anderen Schiedsrichter bei der Abstimmung überein, verbessert sich seine Bewertung und damit seine Chance beim nächsten Mal wieder ausgewählt zu werden.
Instanzenzug ohne Staatsexamen
Die Partei mit den meisten Stimmen gewinnt den Rechtsstreit. Der Verlierer hat die Möglichkeit, auf eigene Kosten in die nächste Instanz zu gehen. Diese ist gekennzeichnet durch Schiedsrichter mit höheren Bewertungen und mehr Erfahrungen – ähnlich wie in der staatlichen Gerichtsbarkeit. Gewinnt in zweiter Instanz nun der ursprüngliche Verlierer, hat auch der andere die Möglichkeit, in die nächste – und diesmal höchste – Instanz zu gehen. In dieser wird dann die abschließende Entscheidung gefällt. Mit drei Instanzen kennt dieses Verfahren somit mehr Überprüfungsmöglichkeiten als einige staatliche Prozessordnungen.
In keiner der Instanzen ist eine juristische Ausbildung Voraussetzung. Vielmehr wird praktisch ein Rechtssystem im Laienformat nachgebildet. Was im staatlichen Rechtssystem Staatsexamen und Berufserfahrung sind, ist bei dem Online-Schiedsgericht aus Estland das Gerechtigkeitsempfinden und die Mehrheitsmeinung der Massen. Mit allen Vor- und Nachteilen.
Schiedsrichter, die als besonders gerecht empfunden werden, bekommen besonders gute Bewertungen und steigen damit auf. Je mehr positive Bewertungen, desto eher schafft man es in den Pool der Schiedsrichter der höheren Instanz.
2/2 Die Schiedsgerichtsbarkeit 2.0 ist viel kostengünstiger und schneller
Das Konzept der Online-Streitbeilegung durch die Crowd kommt mit einigen Vorteilen daher, die dem herkömmlichen Schiedsverfahren immer wieder abgesprochen werden.
Ein traditionelles Schiedsverfahren kann ziemlich teuer werden. Auch wenn ein Schiedsverfahren im Vergleich zu manch staatlichen Gerichtssystem Streitigkeiten schneller entscheidet, sind die Kosten dabei nicht unerheblich. Zudem kommen immer auch noch die Kosten eines Rechtsanwalts hinzu, ohne dessen Beratung die Durchführung eines Schiedsverfahrens meist nicht möglich ist. Demgegenüber sind die Kosten bei einer Online-Streitbeilegung durch die Crowd viel geringer. Nicht zuletzt, weil ein transparenter Markt für Schiedsrichter entsteht, der die Kosten drückt.
Auch in Bezug auf die Geschwindigkeit werden neue Maßstäbe aufgestellt. Zwar hat sich gerade die Schiedsverfahrenspraxis in den letzten Jahren an den Trend der schnellen Entscheidungsfindung angepasst. Beispielsweise sehen einige Schiedsinstitutionen bei geringen Streitwerten die Möglichkeit eines beschleunigten Verfahrens vor. Doch mit der Online-Entscheidung durch die Crowd kann selbst dieses Verfahren bei weitem nicht mithalten.
Demgegenüber wird aber auch nicht wie im staatlichen Gerichtsverfahren aufgrund von Rechtsnormen entschieden, die in einem strukturierten Verfahren durch den legitimierten Gesetzgeber erlassen wurden. Auch die ausdifferenzierten Regelungen der Prozessordnungen finden keine Anwendung. Das darauf unter bestimmten Voraussetzungen verzichtet werden kann, hat aber die alternative Streitbeilegung bereits bewiesen. Besonders bei im Internet regelmäßig vorkommenden grenzüberschreitenden Sachverhalten ist es vielleicht sogar von Vorteil nicht an die Gesetze eines einzelnen Landes gebunden zu sein.
Neue Konzepte, neue Märkte und neue Fragen
Die digitale Transformation der Streitbeilegung führt zu neuen Fragen. Sind solche Entscheidungen durch anonyme Schiedsgerichte rechtlich zulässig und unter welchen Voraussetzungen sind diese für die Parteien rechtlich sogar bindend? Müssen oder sollten beim Verfahren bestimmte Mindeststandards eingehalten werden oder stellt der Ordre-Public-Vorbehalt das einzige Sicherheitsnetz dar?
Ob Unternehmen oder Privatpersonen ihr rechtliches Schicksal tatsächlich in die Hände von anonymen Laien legen wollen, wird sich zeigen. Gerade bei komplexen und existenzbedrohenden Streitigkeiten werden sich viele auch weiterhin für den ausgebildeten und erfahrenen staatlichen Richter oder privaten Schiedsrichter entscheiden.
Ein großer Nachteil von anonymen Streitbeilegern im Internet ist, dass die Entscheidungsfreiheit der Parteien bei der Schiedsrichterwahl – und damit das Kernstück des Schiedsverfahrens – in herkömmlicher Art und Weise verloren geht. Zwar können die Parteien anhand der Bewertungen und Erfahrungen wählen. Dies ersetzt jedoch nicht die derzeitige Praxis des intensiven Auswahlprozesses von potentiellen Schiedsrichtern. Hinzu kommen die rechtlichen Unsicherheiten unter anderem hinsichtlich der Finalität der Entscheidung.
Das alles sind Kriterien, die Unternehmen und Privatpersonen von der Nutzung abhalten könnten. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass solche Konzepte einen geeigneten Markt mit risikobereiten Parteien und passenden Streitigkeiten finden werden. Auf jeden Fall handelt es sich um ein interessantes und innovatives Konzept, von dem man sich inspirieren lassen kann.
Die Autorin Ann-Kristin Becker ist Rechtsreferendarin in Hamburg mit internationaler Erfahrung im Prozess- und Schiedsverfahrensrecht sowie Vorsitzende des Vis Moot Court Alumni Vereins der Universität Hamburg.
Der Autor Nico Kuhlmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Hogan Lovells International LLP in Hamburg, Gründer des Hamburg Legal Tech Meetups und Blogger für den Legal-Tech-Blog.de.
Nico Kuhlmann, Legal Tech und Streitbeilegung: Die Crowd entscheidet . In: Legal Tribune Online, 25.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25695/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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