Vielfalt, Offenheit, Wohlfühlatmosphäre, Empathie - was davon braucht es in einer Kanzlei? Alles. Denn Schubladendenken und unbewusste Vorurteile verhindern Vielfalt in den Personalstrukturen. Mit handfesten finanziellen Folgen.
Was meinen Sie: Wie verbringt eine Anwältin, die in Teilzeit arbeitet und zwei Kinder versorgt, ihre Abende und Wochenenden? Auf dem Sofa mit einem Kinderbuch in der Hand, jeweils ein Kind im rechten und linken Arm? Genüsslich im großen Spaghetti-Topf rührend? Schnatternd am Telefon mit anderen Müttern? Oder konzentriert am PC, den Schriftsatz formulierend, den Pitch vorbereitend, Umsatzzahlen checkend?
Der Filter, durch den wir die Welt wahrnehmen
Unsere eigenen Erfahrungen und Erzählungen von anderen lehren uns, wie wir einen Menschen einschätzen, wenn wir lediglich zwei oder drei Merkmale kennen. "Diese Kategorisierung nimmt jeder Mensch jeden Tag unzählige Male vor", sagt Jessica Gedamu vom Beratungs- und Forschungsinstitut EAF Berlin. "Das ist an sich nichts Verwerfliches, sondern ganz normal. Schwierig wird es erst dann, wenn damit Wertungen verbunden sind und diese auf ganze Personengruppen übertragen werden." Denn dann entstehen Vorurteile und Stereotype, die auch im Berufsleben weitreichende Folgen haben.
"Im Grunde sind wir alle davon betroffen", sagt Gedamu, die als Diversity-Beraterin Unternehmen darin unterstützt, die personelle Vielfalt zu erhöhen. "Jeder von uns hat bereits Erfahrungen mit 'vorschnellen' Einschätzungen zu seiner Person gemacht, die überhaupt nichts mit dem eigenen Charakter zu tun hatten." Der unbewusste Teil des Gehirns sei durch Vorurteile und Stereotype regelrecht verzerrt, so die Beraterin. "Sie stellen den Filter dar, durch den wir die Welt wahrnehmen."
Die Macht des Unbewussten
Der englische Begriff 'unconscious bias' bezeichnet derartige unbewusste Denkmuster. Die nutzt das menschliche Gehirn, um sich die Welt so einfach wie möglich zu machen und schneller auf Gegebenheiten zu reagieren. "Wir können uns das Gehirn wie einen Computer mit zwei Prozessoren vorstellen; einem bewussten und einem unbewussten. Pro Sekunde prasseln etwa elf Millionen Informationsbestandteile auf unser Gehirn ein. Bewusst verarbeiten können wir davon nur circa 40", erklärt Gedamu. Den bewussten Teil nutzen wir, um rationale und durchdachte Entscheidungen zu fällen. "Aber um die Fülle an Informationen zu reduzieren, trifft der unbewusste Teil des Gehirns jeden Tag unzählige automatisierte Bauchentscheidungen, für die er auf Schubladen und Stereotypen zurückgreift."
Das bedeutet: Die vielen Entscheidungen, die nach dem berühmten 'Bauchgefühl' gefällt werden, sind vom unbewussten Teil des Gehirns gesteuert. Das ist unkritisch, wenn es um das Brötchen beim Bäcker geht. Kritisch ist es dann, wenn derartige Entscheidungen andere Menschen betreffen.
2/2: Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht
Zum Beispiel dann, wenn die Teilzeit-Anwältin nicht in das Projektteam eingeladen wird, weil eine viertägige Dienstreise vorgesehen ist. "Unsere unbewussten Einschätzungen, die dieser Entscheidung vorausgehen, mögen uns daran hindern, eine solche Kollegin überhaupt zu fragen", sagt Diane Manz, Senior HR Manager bei Ashurst. "Das muss keine böse Absicht sein, sondern kann aus der Gewohnheit heraus entstehen." Ausgeschlossen bliebe die Teilzeit-Anwältin dennoch.
Kritisch wird das Bauchgefühl ebenfalls, wenn es um das Erklimmen der Karriereleiter geht. Wen fördert der Senior-Partner, wem spricht der Dezernatsleiter sein Vertrauen aus, wer bekommt eine Gehaltserhöhung? Hier ausschließlich nach Bauchgefühl zu entscheiden, führt nicht nur zu Intransparenz, sondern möglicherweise dazu, Potenzial zu verschenken.
"Sobald jemand über andere Menschen entscheidet, sollten die Kriterien hinterfragt werden und belegbar sein", sagt Manz. "Natürlich sollte die Sympathie zwischen Kollegen stimmen, aber das Bauchgefühl nicht allein entscheidend sein." Die Diplom-Psychologin und ihr Team haben Workshops initiiert, um Anwälte und Mitarbeiter bei Ashurst für unbewusste Denkmuster zu sensibilisieren. Denn wenngleich Manz ihre Kanzlei lobt, dass dort sehr offen mit Kollegen aus anderen Ländern umgegangen werde, so sieht sie an anderer Stelle Verbesserungsbedarf. "In unserer deutschen Partnerriege sind bei insgesamt 19 Partnern lediglich drei Frauen vertreten. Und daran möchten wir natürlich etwas ändern."
Erwartungen von allen Seiten
Mit der Situation steht Ashurst nicht allein da. Seit Jahren dümpelt die Quote der Vollpartnerinnen bei niedrigen zehn Prozent. Unbewusste Denkmuster können hier eine wichtige Rolle spielen. Ein klassisches Dilemma: Von Frauen wird erwartet, dass sie Mütter werden. Und wenn es soweit ist, dann werden sie als weniger leistungsstark eingeschätzt, weil die Karriere vermeintlich nicht mehr an erster Stelle steht.
Unbewusste Denkmuster wenden wir nicht nur bei Anderen an, sondern auch bei uns selbst. Hat die Teilzeit-Anwältin ihre Arbeitszeit reduziert, weil es von ihr als zweifache Mutter erwartet wird - oder weil sie es von sich aus möchte? "Das Stichwort lautet hier: Selbsterfüllende Prophezeiung", sagt Manz. "Wenn von mir erwartet wird, dass ich mich als Mutter um meine Kinder kümmere, anstatt mich weiterhin auf meine Karriere zu konzentrieren, dann habe ich vielleicht unbewusst ein schlechtes Gewissen und stecke weniger Energie in meine beruflichen Ambitionen."
Das alles wäre noch kein Problem, wenn es möglich wäre, mit reduzierter Arbeitszeit Vollpartnerin zu werden. Das jedoch kommt laut den Berichten von Anwältinnen aus der Praxis quasi nicht vor. In der Rechtsberatung auf hervorragend ausgebildete Juristinnen zu verzichten und sie in Teilzeit zu besseren Sachbearbeiterinnen zu degradieren, scheint angesichts des Nachwuchsmangels und der Recruiting-Engpässe regelrecht fahrlässig.
3/3: Vorurteile verhindern Vielfalt
Abseits der Gender-Ebene wabern zahlreiche weitere Vorurteile und Stereotypen durch die Kanzleiflure: Die Generation Y will mehr Work-Life-Balance? Die wollen doch eigentlich gar nicht arbeiten. Jemand verlangt nach flexibler Arbeitszeit? Der bringt sicher keine Leistung mehr, schon gar nicht im Home-Office. Ein Vater möchte seine Elternzeit über die üblichen zwei Monate hinaus verlängern? Da will wohl jemand doch keine Karriere machen.
Eines wird deutlich: Echte Vielfalt verlangt jedem Einzelnen etwas ab. Denn sie setzt voraus, dass man sich auf andere einstellt und die eigenen Vorstellungen nicht als allgemeingültig empfindet. "Vielfalt braucht ein vorurteilsfreies Umfeld, damit sich alle im größtmöglichen Maß wohlfühlen und wertgeschätzt werden", sagt die Ashurst-Personalverantwortliche Manz. Sie ist überzeugt davon, dass unbewusste Denkmuster im Berufsleben hinderlich sind und dass es die Anstrengung lohnt, sich auf Andere einzustellen. Denn die optimale Leistung aller Mitarbeitenden werde dann abgerufen, wenn sie sich in der Kanzlei akzeptiert und verstanden fühlen.
Ökonomische Folgen unbewusster Denkmuster
Diversity definiert sich dadurch, dass man sich mit Menschen umgibt, die einem selbst unähnlich sind und dadurch auch von deren unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen profitiert. Vielfalt bedeutet, über mehr personelle Ressourcen zu verfügen, als nach der Nadel im Heuhaufen zu suchen, auf die sich auch die Wettbewerber stürzen. Wer auf Vielfalt setzt, entwickelt sich gemeinsam mit seinen Mandanten, denn auch in den Unternehmen verändert sich die personelle Besetzung hin zu jünger, weiblicher, multikultureller.
Wie aber entsteht Vielfalt? "Überlegen Sie, welche Prozesse sich standardisieren lassen, etwa im Recruiting", schlägt die Diversity-Beraterin Gedamu vor. Wie und von wem werden die Interviews geführt? Wie viele Kriterien liegen der Beurteilung zugrunde? Wann werden Bauchentscheidungen getroffen? "Insbesondere in Stresssituationen, also wenn die Zeit zur ausführlichen Analyse fehlt, neigt das Gehirn dazu, auf Stereotype zurückzugreifen. Außerdem hilft der Austausch mit Kollegen, um die eigenen Kriterien zu hinterfragen."
Und spätestens dann, wenn die Teilzeit-Anwältin ihre Kanzlei verlässt und ihre umsatzstarken Stammmandanten mitnimmt, wenn der teuer ausgebildete Associate für eine bessere Work-Life-Balance in den Öffentlichen Dienst wechselt oder sich der homosexuelle Partner in einem Spin-Off mit seinem gesamten Team selbständig macht – spätestens dann werden die ökonomischen Folgen unbewusster Denkmuster und gelebter Vorurteile spürbar.
Désirée Balthasar, Personalentscheidungen mit "unconscious bias": Trügerisches Bauchgefühl . In: Legal Tribune Online, 21.07.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20005/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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