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DAV-Expertenrunde zur Causa Sami A. und ihren Folgen: Wenn die Politik das letzte Wort hat

von Dr. Markus Sehl

20.09.2018

startendes Flugzeug im Sonnenuntergang

© Ian Schofield-stock.adobe.com

Sami A. in NRW, Dieselfahrverbote in München, Stadthalle in Wetzlar – ignorieren Behörden und Politik gezielt die Entscheidungen der Justiz? Eine Berliner Expertenrunde diskutierte, ob es einen Trend gibt, die Gründe und Lösungen.

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"Hat die Justiz das letzte Wort?" Unter diesem Titel diskutierten am Mittwoch in Berlin Rechtsanwälte, Richter und Forscher aus der Rechtswissenschaft. "Eigentlich dürfte hinter dem Satz kein Fragezeichen stehen", stellte der Präsident des Deutschen Anwaltvereins (DAV), Ulrich Schellenberg, gleich zu Beginn klar. Der Titel macht jedenfalls deutlich: Es gibt offenbar ein Unbehagen, auch in der Anwaltschaft.

Anlass dazu haben in der der jüngsten Vergangenheit eine ganze Reihe von mittlerweile prominenten Fällen gegeben: In NRW wird der als Gefährder eingestufte Sami A. abgeschoben, obwohl noch ein Eilverfahren beim Verwaltungsgericht läuft. In Bayern ignoriert die Politik eine gerichtliche Entscheidung zu den Dieselfahrverboten in München und im hessischen Wetzlar setzt die Stadt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Vermietung ihrer Stadthalle an die NPD nicht um.

Die große Frage: Sind das Einzelfälle oder gibt es ein strukturelles Problem? Ist das Gefüge von Verwaltungsgerichten, höchstrichterlicher Rechtsprechung, Behörden und Politik in eine Systemkrise geraten?

VG-Richterin: "Kein Trend, sondern Ausnahmefälle"

Die Richterin und stellvertretende Pressesprecherin am Verwaltungsgericht Berlin (VG), Dr. Nicole Castillon, erklärte, dass sie bei der Vielzahl der Fälle keinen Trend erkennen könne, dass Entscheidungen des VG von den Behörden nicht mehr beachtet würden. Es gebe solche Fälle, aber es handele sich um "Ausnahmefälle". Zugleich räumte sie ein, dass das Gericht nicht systematisch verfolge, ob seine Entscheidungen auch befolgt werden, dafür fehle es an einer gesetzlichen Grundlage. Von den Einzelfällen erfahre das VG dann erst etwa durch Rückmeldungen der Prozessvertreter.

Für den Berliner Anwalt Prof. Dr. Remo Klinger haben die wenigen prominent gewordenen Einzelfälle aber eine neue Qualität erreicht. Er führte sie darauf zurück, dass es in diesen Fällen bereits "eine politische Vorfestlegung" gebe, also die Marschroute, etwa eine bestimmte Person gleichsam um jeden Preis abzuschieben.


Die Moderatorin Gudula Geuther vom Deutschlandfunk betonte, dass zu unterscheiden sei zwischen absichtsvoller Missachtung und fahrlässiger Nichtbefolgung. Nicht nur der Fall Sami A. zeigt dabei, wie schwierig die Bewertung verlaufen kann.

Aus Sicht des Anwalts für Migrationsrecht, Tim Kliebe aus Frankfurt am Main, kommen im Asyl- und Ausländerrecht unklare oder noch nicht eingespielte Zuständigkeiten zwischen Ausländerbehörden, kommunaler Regierungspolitik, dem BAMF und den Verwaltungsgerichten hinzu. Hier fehlten gesetzliche Mitteilungspflichten, um die Abstimmung in klar geregelte Bahnen zu lenken und Kommunikationsfehler zu vermeiden. Kliebe wies auch darauf hin, dass im Strafprozessrecht selbstverständlich ein Dauerdienst für Richter an den Amtsgerichten eingerichtet sei und fragte in den Raum, warum das nicht auch eine Möglichkeit für Verwaltungsgerichte sein könnte, etwa in eiligen und folgenreichen Asylfällen.

Staatsrechtler: "Der Rechtsstaat lebt auch von Vertrauen"

Für den Professor für Öffentliches Recht an der Universität Halle-Wittenberg, Prof. Dr. Winfried Kluth, ist wichtig zu sehen, dass sich hinter solchen Konflikten, die sich nach außen als ein Kräftemessen zwischen Gerichten und Behörden darstellen, häufig ein materiell-rechtlicher Dissens verbirgt. So sei es beim dem Streit um die Abschiebung von Sami A. materiell-rechtlich um die tiefgreifende Frage gegangen, wie mit dem Folterverbot umzugehen sei. Das VG Gelsenkirchen sah es als nicht ausgeschlossen an, dass dem Mann bei seiner Rückkehr nach Tunesien nicht doch Folter drohe. Er fragte, um welchen Preis eine Gesellschaft das absolute Menschenwürdegebot aus Art. 1 Grundgesetz (GG) im Zusammenspiel mit Art. 104 GG und Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention in Frage stellen wolle?

Kluth erinnerte auch daran, dass es zahlreiche Fälle in der Praxis gibt, in denen die Behörden sich nicht an verwaltungsgerichtliche Entscheidungen halten, die aber möglicherweise unspektakulärer anmuten. Etwa wenn sich Behörden weigern Straßenbaubescheide zu erlassen oder ein Bürgermeister in örtlichen Angelegenheiten sich gegen eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts sträubt. Rechtsgebiete wie das Asylrecht neigten zur "Lagerbildung", hier plädierte Kluth für eine Deeskalation in der Diskussion. Wer heftige Kritik übe, müsse auch immer bedenken, welche Folgen die Kritik auf lange Sicht anrichtete. "Der Rechtsstaat lebt auch von vertrauensvoller Zusammenarbeit", so Kluth.

Die Diskussionsrunde war sich darin einig, dass Vertrauen zwischen Behörden, Politik und Verwaltungsgerichtsbarkeit unabdingbar ist – und das sie in letzter Zeit gelitten hat. Als ein konkretes Beispiel ging es um die Aussage der OVG-Präsidentin in NRW, Ricarda Brandt, dass sich die Gerichte auf die bisherige Praxis von sogenannten Stillhaltezusagen vorerst besser nicht mehr verlassen sollten. Mit einer solchen Praxis könnten Behörden im Asyl- und Aufenthaltsrecht den Verwaltungsgerichten signalisieren, dass ihnen bewusst ist, dass noch ein Eilrechtsschutzverfahren vor dem VG läuft, und sie selbst durch eine Abschiebung keine vollendeten Tatsachen schaffen werden.

Zuletzt hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) in einem internen Schreiben angekündigt, nicht mehr an dieser Praxis teilnehmen zu wollen. Wenn Richterin Castillon sagte "wir können nur darauf hoffen, dass unsere Entscheidungen auch befolgt werden", dann verweist das deutlich darauf, dass ein gewaltenteiliges Rechtssystem auf eine gewisse Befolgungspraxis angewiesen ist – und was für eine sensible Selbstverständlichkeit eine solche Praxis bislang war.

Braucht es mehr Vollstreckung gegen den Staat?

Anwalt Klinger sieht ein deutliches Vollstreckungsdefizit, wenn es darum geht, gerichtliche Entscheidungen nicht gegen Bürger, sondern gegen den Staat selbst durchzusetzen. Klinger ist an dem Verfahren zu den Münchener Luftreinhalteplänen beteiligt, zuletzt hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) erwogen, den EuGH prüfen zu lassen, ob sich aus europäischem Recht Sanktionsmaßnahmen bis hin zu Erzwingungshaft für politische Mandatsträger ergeben könnten.

Das Haftinstrument mag drastisch klingen; umso spannender diskutiert wurde der Vorschlag Klingers, eine beschränkte Ersetzungsbefugnis für Gerichte einzuführen: Sollte sich eine Behörde weigern, eine gerichtliche Entscheidung umzusetzen, könnte danach ein Gericht die Maßnahme stattdessen selbst anordnen. Hier sei aber der Gesetzgeber gefragt, so Klinger.

Professor Kluth wies bereits auf Spuren von solchen normativen Ersetzungsbefugnissen hin, wenn etwa nach § 123 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ein vorläufiger Rechtszustand durch das Gericht geregelt werden könne oder im § 80 Abs. 5 VwGO auch Auflagen etwa im Versammlungsrecht eigenständig angeordnet werden können. Aufgrund des Gewaltenteilungsprinzips könne es sich dabei aber stets nur um vorrübergehende Regelungen handeln.

Auch Klinger sieht die Problemfälle, in denen die Verwaltung sich nicht an Gerichtsentscheidungen gebunden fühlt, bislang noch als Einzelfälle, allerdings "mit der Tendenz zur Verstetigung" in bestimmten Bereichen, wie etwa dem Umweltrecht. Für das Asyl- und Aufenthaltsrecht beobachtet Anwalt Kliebe ein generelles an das Recht herangetragenes "Bedürfnis nach Beschleunigung" – und dabei werde die Justiz zunehmend als hinderlich angesehen.

DAV-Präsident Schellenberg erinnerte an die Aussagen von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt zur "Anti-Abschiebe-Industrie" und dazu, dass klagende Anwälte, die die Abschiebung Krimineller verhinderten, gegen den gesellschaftlichen Frieden arbeiteten. Auch die Anwaltschaft sei dadurch hellhörig geworden. Im Jahr 2019 werde der Deutsche Anwaltstag deshalb unter dem Motto "Rechtsstaat leben" stattfinden. Das klingt gut. Echten Widerstand gab es auf dem DAV-Podium am Mittwoch indes noch nicht – ein Vertreter der Verwaltung aus Wetzlar hatte die Einladung ausgeschlagen.



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DAV-Expertenrunde zur Causa Sami A. und ihren Folgen: . In: Legal Tribune Online, 20.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31037 (abgerufen am: 18.06.2025 )

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