Am Schlossbezirk 3 in Karlsruhe arbeiten die 16 bekanntesten Richterinnen und Richter Deutschlands – und mit ihnen rund 270 Menschen, die nur selten öffentlich auftreten, ohne die aber nichts läuft. Was machen die da eigentlich?
2021 feierte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) seinen 70. Geburtstag, es gab zwar keine Torten, aber eine Ausstellung in gläsernen Cubes und eine Diskussionsreihe auf Youtube, außerdem den (nachgeholten) Festakt zum Präsidentenwechsel und natürlich eine Reihe teils spektakulärer Entscheidungen, darunter die Beschlüsse zum Klimaschutz und zur Corona-"Bundesnotbremse".
Immer im Mittelpunkt: Die Richterinnen und Richter "in roten Roben", die bekanntesten der Republik. Mit ihnen arbeiten in Karlsruhe rund 270 Menschen, die selten öffentlich auftreten – die aber ihre Arbeitstage an einer ganz besonderen Institution verbringen. Nämlich an dem Gericht, an das sich jeder wenden kann, der sich in seinen Grundrechten verletzt fühlt.
Posteingangsstelle
Und es wenden sich viele Menschen an das Bundesverfassungsgericht, manche immer wieder, einige fast täglich mit neuen Schreiben. Mehrere Hundert Schriftstücke gehen hier jeden Tag ein, Briefe, Postkarten, Faxe, E-Mails, manchmal stapelweise Leitz-Ordner. "Wir sind eben sehr bekannt und deshalb schreiben uns sehr viele Menschen," sagt Volker Batzke, der die Justizverwaltung am Gericht leitet. "Es sind wirklich alle möglichen Anliegen dabei, manche Menschen bitten uns um Hilfe, manche wollen eine Rechtsberatung und manche wollen auch einfach ihre Meinung kundtun."
Alle Eingänge werden innerhalb von 24 Stunden geprüft. Das machen Juristinnen und Juristen mit der Befähigung zum Richteramt, die sogenannten Postauszeichner. Batzke war vorher Richter am Sozialgericht Karlsruhe, später wissenschaftlicher Mitarbeiter des damaligen Vizepräsidenten Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, nun ist er als Leiter der Abteilung Justizverwaltung tätig und sichtet unter anderem die über die Posteingangsstelle eingehende Verfahrenspost.
Zur Posteingangsstelle gehören auch die sechs Faxleitungen. "Die brauchen wir, es hat auch schon mal jemand ein 1.000 Seiten langes Fax geschickt – das dauert dann eine Weile, aber dann bleiben die anderen Leitungen frei." Eingaben per Mail zu gerichtlichen Verfahren sind nicht zulässig, sie werden sofort mit einer Standardmail beantwortet, die darauf hinweist.
Alles, was schriftlich eingeht, muss jedoch geprüft werden. "Die große Herausforderung ist es, auch bei unübersichtlichen Schreiben herauszufinden, ob sie womöglich eine Verfassungsbeschwerde beinhalten", erklärt Batzke. "Es kann durchaus einmal vorkommen, dass jemand sein Schreiben mit Geburtstagsglückwünschen an den Präsidenten einleitet, am Ende des Schreibens jedoch die Verletzung von Grundrechten geltend macht."
Nur Verfassungsbeschwerden und Verfahrensanträge, die nicht offensichtlich aussichtlos sind und die keine Zuständigkeitsfragen aufwerfen, werden direkt in das Verfahrensregister eingetragen und an den zuständigen Senat weitergeleitet, das sind ungefähr 2.500 im Jahr. Alle anderen Verfassungsbeschwerden und sonstigen Eingaben sind, zumindest vorerst, ein Fall für das Allgemeine Register – und damit für Sigrid Krause-Reul.
Allgemeines Register
Krause-Reul ist als eine von zwei Referentinnen für das Allgemeine Register zuständig. Unterstützt werden sie und ihre Kollegin von zwölf Rechtspflegerinnen und Rechtspflegern. Gemeinsam bearbeiten sie rund 10.000 Eingaben pro Jahr. Und damit sind sie eine enorme Entlastung für die Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter. Der größte Teil der Eingaben bleibt im Allgemeinen Register und kann nach fünf Jahren vernichtet werden. Nur rund 3.000 Verfassungsbeschwerden und sonstige Verfahrensanträge werden in das Verfahrensregister umgeschrieben.
Etwa die Hälfte der Eingänge bei Krause-Reul und ihren Kolleg:innen sind Verfassungsbeschwerden, bei denen entweder die Zuständigkeit ungeklärt ist oder die offensichtlich aussichtslos sind, etwa, weil die Frist versäumt wurde, der Rechtsweg nicht erschöpft ist oder weil entscheidende Unterlagen fehlen. Die andere Hälfte sind Anfragen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts oder zu laufenden Verfahren und vor allem Meinungsäußerungen. Auch diese Schreiben werden gelesen und bei Bedarf beantwortet. "Ich kann keine Entscheidungen treffen, ich kann nur darauf hinweisen, dass das Bundesverfassungsgericht nur im Rahmen seiner Zuständigkeiten entscheiden kann", sagt Krause-Reul. "Aber, wenn ich merke, da schreibt sich jemand etwas von der Seele, dann versuche ich auch mit einem persönlichen Satz darauf einzugehen", sagt Krause-Reul.
Krause-Reul ist Volljuristin, könnte also selbst als Richterin arbeiten. Stattdessen: Post von Menschen, die glauben, sie würden mit elektrischen Strahlen gefoltert oder bekämen heimlich Mikrochips implantiert, wütende Schreiben, weil die Bundesregierung für die Flutkatastrophe zu viel Geld ausgibt, für Coronatests aber zu wenig, Briefe, in denen Menschen ihre kaputte Ehe schildern, eine Zwangsvollstreckung oder vor vielen Jahren abgeschlossene Gerichtsverfahren.
Warum ausgerechnet dieser Job? Krause-Reul wählt ihre Worte sorgfältig, das hört man am Telefon: "Uns ist es wichtig, dass wir dem, was die Menschen vom Bundesverfassungsgericht erwarten, gerecht werden", sagt sie. Wenn die Richterinnen und Richter nichts tun können, dann will sie die Menschen wenigstens ernst nehmen. Und es sind nicht nur tragische Geschichten, die bei ihr auf dem Schreibtisch landen: "Manche schreiben auch einfach zu Weihnachten: Alles Gute, liebes Bundesverfassungsgericht!"
Verwaltung und Gebäude
Neben der Justizverwaltung, zu der die Posteingangsstelle, das Allgemeine Register und die Geschäftsstellen der Senate gehören, sorgt die allgemeine Verwaltung unter anderem für Haushalt und Personalwesen, Amtsmeisterei, Fahrdienst, Druckerei, Sicherheitsmaßnahmen, Bauwesen, Beschaffung und die Telefon- und Faxzentrale. Außerdem gibt es eine EDV-Abteilung, die die technische Infrastruktur betreut und eine Dokumentationsstelle, in der verfassungsgerichtliche Entscheidungen und Literatur erfasst werden.
"Es geht darum, dass alle Räder gut ineinander greifen", so beschreibt Direktor Peter Weigl seine Aufgabe. "Wenn es irgendwo hakt und klemmt, komme ich ins Spiel." Anders als andere Gerichte gehört das BVerfG nicht zum Geschäftsbereich eines Bundesministeriums. Es ist selbst ein Verfassungsorgan. Grundsätzliche organisatorische Entscheidungen treffen die 16 Richterinnen und Richter gemeinsam, der Haushalt des BVerfG wird jedes Jahr vom Parlament bewilligt, 2021 umfasste er rund 37 Millionen Euro. Zu Weigls Aufgaben gehört es deshalb auch, die Haushaltsverhandlungen vorzubereiten.
Weigl ist seit zehn Jahren Direktor des BVerfG, gereizt hat es ihn, gleich zu Beginn seiner Amtszeit die Sanierung des berühmten gläsernen Baus von Paul Baumgarten zu organisieren. Das Gebäude fasziniert ihn heute noch – und es präge die Menschen, die hier arbeiten, meint Weigl: "Die Lage, die Architektur, die für Verfassungsgerichte stilbildend ist, das macht etwas mit den Menschen. Dieser Bau ist hell und licht und unterstützt eine gute und kollegiale Atmosphäre perfekt."
Protokoll
Wenn in Karlsruhe hochrangige Gäste zu Besuch sind, ist Margret Böckel gefragt. Sie ist bei Konferenzen, Empfängen und Kulturprogramm dabei und wenn es darauf ankommt, begleitet sie auch mal einen Gast des Bundesverfassungsgerichts in die Stadt, um eine Handtasche zu kaufen. Böckel leitet das Protokoll, ihre Abteilung pflegt die Beziehungen zu wichtigen Institutionen des Bundes, zu ausländischen Verfassungsgerichten, zum Europäischen Gerichtshof und zusammen mit der inhaltlich zuständigen Referentin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Vier bis fünf Delegationen anderer Verfassungsgerichte empfängt Karlsruhe normalerweise pro Jahr, außerdem reisen die Richterinnen und Richter zu Gerichtsbesuchen und Konferenzen. Böckel organisiert das Programm in Karlsruhe, oft mit einem Konzert oder einem Besuch in der Kunsthalle und sie kümmert sich auch um besondere Wünsche der ausländischen Gäste: "Wenn jemand jeden Tag in die katholische Messe gehen möchte, dann planen wir auch das ein."
Dienstreisen gehören zu Böckels Job, sie begleitet die Karlsruher Richterinnen und Richter regelmäßig bei Auslandsbesuchen: "Das ist sehr interessant, denn man kommt an Orte, die man sonst nicht sehen würde, besucht das dortige Gericht, den Präsidentenpalast oder das Parlament – und natürlich sieht man auch etwas vom Land. Armenien fand ich zum Beispiel sehr spannend."
Eine Frage, die es immer im Vorfeld zu klären gilt: Bringt man ein Gastgeschenk mit? "Das ist gar nicht so einfach", sagt Böckel. "Wenn es nicht unhöflich ist, versuchen wir darauf zu verzichten und mit dem anderen Gericht zu verabreden, dass keine Geschenke ausgetauscht werden. Aber in manchen Fällen gehört ein Geschenk einfach dazu. Dann schenken wir etwa ein Buch oder eine Vase, die mit dem Rot des Bundesverfassungsgerichts verziert ist." Die schönsten Geschenke, die die Karlsruher bekommen haben? "In unserer Vitrine steht zum Beispiel eine goldene Baumskulptur aus dem Senegal und ein silbernes Schälchen von der portugiesischen Delegation", sagt Böckel.
Bibliothek
Zum Baumgarten-Bau gehörte von Anfang an auch eine Bibliothek. Der Bibliotheks-Pavillon hat zwei Untergeschosse, in denen die Magazine untergebracht sind. Im Foyer im Erdgeschoss standen früher Zettelkästen, heute ist Platz für eine Ausstellung über die Anfänge des BVerfG.
Wenn eine Bibliothek dem Klischee entspricht, ein besonders ruhiger Ort zu sein, dann diese. Öffentlich zugänglich ist sie ohnehin nicht, aber auch aus dem kleine Kreis der befugten Nutzerinnen und Nutzer kommt nur "ab und zu" mal jemand persönlich vorbei, sagt Bibliotheksleiterin Ute Mengels. "Unsere Bibliothek wird vor allem von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter genutzt, die bestellen vieles elektronisch. Die Datenbanken sind alle am Arbeitsplatz verfügbar, Aufsätze scannen wir ein und Bücher bringen wir ihnen an den Arbeitsplatz."
Der Bestand umfasst rund 430.000 Bände, jedes Jahr kommen circa 5.000 hinzu. Rund 700 Zeitschriften laufen im Abonnement. Es ist die zweitgrößte juristische Bibliothek in Deutschland, nach der des Bundesgerichtshofs. Neben der Bibliothek betreuen Mengels und ihre 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch das Pressearchiv und erstellen die Pressemappe, dafür werten sie dreißig bis vierzig Tageszeitungen, Magazine und Online-Medien aus.
An den meisten Tagen kommen etwa fünfzig bis siebzig Artikel zusammen. Denn das, was die 16 Richterinnen und Richter entscheiden, interessiert eine Menge Menschen in Deutschland.
Im Maschinenraum des höchsten Gerichts: . In: Legal Tribune Online, 21.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47011 (abgerufen am: 11.10.2024 )
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