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BaWü will Bagatellgrenze für Ladendiebstahl aufheben: Ein starker Rechts­staat gegen Schwache?

Gastkommentar von RiAG Dr. Lorenz Leitmeier

24.03.2018

Frau steckt eine Flasche Wein ein

© Industrieblick - stock.adobe.com

Künftig sollen in Baden-Württemberg zur Stärkung des Vertrauens in den Rechtsstaat auch "kleine" Ladendiebe verfolgt werden. Stehlen darf natürlich niemand, findet auch Richter Lorenz Leitmeier - es gebe aber ein grundsätzliches Problem.

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In Baden-Württemberg hat kein Ladendieb mehr "einen Schuss frei": Stellte die Staatsanwaltschaft bis dato Ermittlungsverfahren in der Regel gem. § 153 Strafprozessordnung (StPO) wegen Geringfügigkeit ein, wenn das Diebesgut höchstens 25 Euro wert und der Erwischte nicht vorbestraft war, soll ab sofort wieder jeder Ladendieb verfolgt werden. Die Wertgrenze von 25 Euro aus dem sogenannten "Kleinkriminalitätserlass" aus 2012, einer Verwaltungsvorschrift des Justizministeriums, wird demnächst abgeschafft:

"Zur Stärkung des Vertrauens in die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats halte ich es für unverzichtbar, dass unsere Staatsanwaltschaften auch bei diesem Massendelikt für eine konsequente Strafverfolgung Sorge tragen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass sich der Rechtsstaat im Bereich der Strafverfolgung von Ladendiebstählen aus ökonomischen Gründen zurückzieht. Denn der Rechtsstaat lebt vom Vertrauen der Bevölkerung in seine unterschiedslose Geltung und breit angelegte Durchsetzungskraft",

sagte Justizminister Guido Wolf dazu. Andernfalls könne der fatale Eindruck entstehen, bis 25 Euro hätten Ersttäter bei Diebstählen einen generellen "Freibrief".

Wenn so hohe, gar staatstragende Werte wie das Vertrauen in den Rechtsstaat auf dem Spiel stehen, stellt sich eine Frage: Hängt die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats wirklich von einer internen Dienstvorschrift ab? Und umgekehrt: Wird das Vertrauen in den Rechtsstaat wirklich unterminiert, wenn bislang unauffällige Bürger eine Schachtel Pralinen und einen Schnaps einstecken und dafür nicht angeklagt werden?

Das Opportunitätsprinzip – Fingerspitzengefühl der Staatsanwaltschaft

Im deutschen Strafverfahren gilt grundsätzlich das Legalitätsprinzip, das heißt der Verfolgungs- und Anklagezwang: Gem. § 152 Abs. 2 StPO sind die Strafverfolgungsbehörden Polizei und Staatsanwaltschaft verpflichtet, ein Ermittlungsverfahren zu eröffnen, wenn sie Kenntnis von einer (möglichen) Straftat erlangt haben, und gem. § 170 StPO müssen sie bei hinreichendem Tatverdacht Anklage erheben. Dieses Prinzip wird durchbrochen - oder besser: sinnvoll ergänzt - durch das Opportunitätsprinzip, welches ausnahmsweise der Staatsanwaltschaft ein Ermessen gibt: Gem. § 153 StPO kann sie nämlich ein Verfahren einstellen, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht.

Gering ist die Schuld des Täters dann, wenn sie im unteren Bereich der zu erwartenden Strafe liegt – bei Ersttätern und 25 Euro Schaden kann man dies annehmen. Ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht, wenn aus spezial- oder generalpräventiven Gründen das Verfahren fortgesetzt werden soll – wenn also der Täter selbst oder potentielle andere Täter von Diebstählen abgehalten werden sollen.

Auch im Strafgesetzbuch (StGB) gibt es mit § 248a StGB eine (prozessuale) Vorschrift, die den Diebstahl geringwertiger Sachen regelt: Demnach ist dieses Delikt nur strafbar, wenn der Geschädigte einen Strafantrag stellt – oder die Staatsanwaltschaft das besondere öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung bejaht. Stellt der Geschädigte keinen Strafantrag, muss der Staatsanwalt also entscheiden, ob er den Diebstahl verfolgt oder nicht.

Beide Vorschriften geben der Staatsanwaltschaft also ein Instrument an die Hand, wonach sie – und ja, auch das gibt es unter Staatsanwälten - Fingerspitzengefühl zeigen kann und nicht immer alles anklagen muss.

Wann ein öffentliches Interesse besteht und wann nicht, wann also Verfahren einzustellen und wann sie fortzusetzen sind – das ist letztlich eine politische Entscheidung, die sich der rein rechtlichen Betrachtung entzieht. Diese Frage generell zu regeln, ist zunächst einmal sinnvoll und vor allem gerecht: Strafverfolgung oder Einstellung muss für alle gleich gelten, das ist ein Gebot der Gerechtigkeit.

Gibt es denn "massenhaft" Ersttäter von Bagatelldiebstählen?

Ein öffentliches Interesse bei Ersttätern von Bagatelldiebstählen bis 25 Euro generell zu verneinen, wie es bisher der Fall war – das ist gut vertretbar. Selbst wenn man Ladendiebstahl als "Massenphänomen" einordnet, ist sehr fraglich, ob das auch für den Ladendiebstahl im Bagatellbereich durch Ersttäter gilt: Sind das wirklich so "massenhaft" viele? Und selbst wenn: Ist wirklich das Vertrauen in den Rechtsstaat beschädigt, wenn diese Tätergruppe – ausschließlich beim ersten Mal – nicht angeklagt wird? Man kann das mit guten Gründen verneinen.

Allerdings - und das ist das Schlimme und Schöne an Jura zugleich: Man kann auch das Gegenteil vertreten. Natürlich ist es ein Argument, dass die Wertgrenze in der Bevölkerung falsch ankommen kann und deshalb aus Gründen der Generalprävention wieder "hart durchgegriffen" werden muss. Dass der Staat vor dem "Massenphänomen Ladendiebstahl" nicht "kapituliert", sondern das "Vertrauen in den Rechtsstaat" stärkt, liest sich tatsächlich gut.

Und auch für die Praxis dürfte die Mehrarbeit überschaubar bleiben: Natürlich "gehen" Einstellungen "schneller", aber Ladendiebstähle anzuklagen ist nicht weiter schwer – die meisten Täter sind geständig, bestenfalls braucht man den Ladendetektiv als Zeugen.

Die Ungleichheit im Recht nimmt zu

Die Entscheidung, alle Ladendiebe auch beim ersten Mal und auch bei geringem Wert anzuklagen, ist deshalb an sich richtig: Natürlich darf keiner von ihnen stehlen, selbstverständlich gilt auch für sie das StGB. Warum also sollten sie generell "einen (wenn auch kleinen) Schuss freihaben"?

Die Entscheidung, hier wegen des Vertrauens in den Rechtsstaat auf das Gesetz zu pochen und keinen Dieb "einfach so" davonkommen zu lassen, zeigt allerdings auf einer tieferen Ebene ein großes Dilemma, dem jeder Rechtsstaat ausgesetzt ist: Er ist problemlos stark gegen Schwache. Die Justiz funktioniert dort gut, wo das Delikt einfach ist. Wird sie plump herausgefordert, kann sie ohne weiteres reagieren. Aber wer stiehlt denn  Schnaps und H-Milch für 10 Euro? Nähert man sich dieser Frage rechtssoziologisch, dürften das in den allerwenigsten Fällen Ärzte, Hedgefonds-Manager oder Rechtsanwälte sein. In sechs Jahren Strafrecht habe ich jedenfalls keinen solchen, dafür sehr viele Hartz-IV-Empfänger, Alkoholiker und Überschuldete in diesen Fällen gesehen.

Sieht man also das Vertrauen in den Rechtsstaat gefährdet, wenn diese Tätergruppe beim ersten Delikt straffrei ausgeht, muss man ehrlicherweise weitere Fragen stellen: Hat nicht der Bürger auch bei anderen Phänomenen das Gefühl, dass der Staat nahe an der Kapitulation ist? In der Finanzkrise, die eine unvorstellbar hohe Zahl an Milliarden gekostet hat, wurde niemand angeklagt. Haben die maßgeblichen Akteure tatsächlich alle legal gehandelt? Und Abgasmanipulationen bei Auto-Unternehmen scheinen laut Medienberichten ebenfalls ein Massenphänomen zu sein – von entsprechend massenhaften Anklagen liest man aber (noch?) nichts.

Wird der Staat hingegen von geschickten Tätern herausgefordert, muss er mit seinen begrenzten Ressourcen wohl oder übel sein Legalitätsprinzip einschränken: Was ist mit Großverfahren in Wirtschaftsstrafsachen, die schwer aufzuklären sind? Bei denen versierte Anwälte jedes prozessuale Mittel ausschöpfen, sodass die überlastete Strafjustiz ihren Strafanspruch aufweicht und sich mit dem Angeklagten verständigt? Hier wird Strafrecht komplex und schwierig, hier stößt der Staat an Grenzen.

Deshalb kann man es nicht kritisieren, wenn das Opportunitätsprinzip der Staatsanwaltschaft eingeschränkt wird, damit auch Bagatell-Straftaten geahndet werden. Die Kehrseite ist allerdings, dass dies am anderen Ende der Straftaten nicht so ohne weiteres geht - und damit die Ungleichheit im Recht leider nicht abnimmt.

Der Autor Dr. Lorenz Leitmeier ist Richter am Amtsgericht und hauptamtlicher Dozent an der Hochschule für den öffentlichen Dienst (HföD) in Starnberg.

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BaWü will Bagatellgrenze für Ladendiebstahl aufheben: . In: Legal Tribune Online, 24.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27707 (abgerufen am: 17.11.2025 )

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