Druckversion
Dienstag, 17.06.2025, 02:21 Uhr


Legal Tribune Online
Schriftgröße: abc | abc | abc
https://www.lto.de//recht/hintergruende/h/urteil-des-egmr-g8-demonstranten-zu-unrecht-eingesperrt
Fenster schließen
Artikel drucken
4949

Urteil des EGMR: G8-Demon­s­tranten zu Unrecht ein­ge­sperrt

Dr. jur. Alfred Scheidler

01.12.2011

Polizisten bei einer Demonstration

© Sven Grundmann - Fotolia.com

Die fünftägige Ingewahrsamnahme zweier junger Männer während des G8-Gipfels 2007 in Heiligendamm war nicht gerechtfertigt. Das entschied der EMGR in seinem am Donnerstag verkündeten Urteil. Damit wich er von den Entscheidungen der deutschen Gerichte ab. Ein Verdikt mit weitreichender Bedeutung für das Polizei- und Sicherheitsrecht, sagt Alfred Scheidler.

Anzeige

Die Situation war äußerst angespannt, als Sven Schwabe und M. G. am späten Abend des 3. Juni 2007 in Waldeck bei Rostock nahe der Justizvollzugsanstalt (JVA) in eine Polizeikontrolle gerieten. Nur wenige Kilometer weiter sollte drei Tage später im beschaulichen Seebad Heiligendamm bis zum 8. Juni der G8-Gipfel stattfinden, das Zusammentreffen der Regierungschefs der acht größten Industrienationen der Welt.

Schon im Vorfeld massierten sich zigtausende von Demonstranten rund um die Gegend von Heiligendamm, um sich für verschiedene Protestaktionen während des Gipfels zu rüsten. Neben friedlichen Demonstranten war auch eine große Anzahl von Personen unterwegs, die als gewaltbereit und sogar als militant einzustufen war. Bei Ausschreitungen in Rostock am Tag zuvor waren mehrere hundert Polizeibeamte verletzt worden.

In diesem Umfeld wurden Sven Schwabe und M. G., die auf einem Parkplatz neben einem PKW standen, von der Polizei aufgefordert, sich auszuweisen. Einer der beiden widersetzte sich mit körperlicher Gewalt, woraufhin beide in polizeilichen Gewahrsam genommen wurden. In dem Auto fand die Polizei Transparente mit den Aufschriften "free all now" und "freedom for prisoners".

Deutsche Gerichte halten Gewahrsam für rechtmäßig

Nach richterlicher Vernehmung ordnete das Amtsgericht Rostock in den frühen Morgenstunden des darauffolgenden 4. Juni die Fortdauer des polizeilichen Gewahrsams bis zum 9. Juni 2007 an. Rechtsmittel der Betroffenen hiergegen waren erfolglos, ebenso eine Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht.

So hielt das Oberlandesgericht Rostock in seinem Beschluss vom 7. Juni 2007 (OLG, Az. 3 W 83/07) die Ingewahrsamnahme als von § 55 Abs. 1 Nr. 2a und 2c des Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern (SOG-MV) gedeckt. Danach kann eine Person in Gewahrsam genommen werden, "wenn dies unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern."

Die Annahme, dass eine Person eine solche Tat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird, kann sich insbesondere darauf stützen, dass sie Transparente mit einer solchen Aufforderung mit sich führt (§ 55 Abs. 1 Nr. 2a SOG-MV) oder dass sie bereits aus vergleichbarem Anlass bei der Begehung von Straftaten als so genannter Störer aufgefallen ist und eine Wiederholungsgefahr besteht (vgl. Nr. 2c).

Beide Alternativen sah die Polizei als gegeben an: Die in räumlicher Nähe zur JVA Waldeck gefundenen Transparente wertete die Polizei als Aufforderung an einen unbestimmten Personenkreis, die Gefängnisse zu stürmen und dort Gefangene zu befreien. Dies würde eine Anstiftung zur Gefangenenbefreiung bedeuten, was den Tatbestand des § 120 Strafgesetzbuch entspricht. Zudem war M. G. bereits im Jahr 2002 im Zusammenhang mit den Castor-Transporten wegen gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr auffällig geworden.

Sven Schwabe und M. G. argumentierten zwar, dass die Aufforderung "free all now" auf den Transparenten lediglich an die Polizeiführung gerichtet gewesen sei und ausdrücken sollte, dass Personen, die in polizeilichen Gewahrsam genommen wurden, freizulassen seien. Das englische Verb "to free" heiße in erster Linie "freilassen". Dem hielt das OLG Rostock jedoch entgegen, dass es in einer angespannten Situation der Polizei erlaubt sein müsse, auch missverständliche Meinungskundgebungen zu unterbinden, die zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung führen können.

Individualbeschwerde zum EGMR

Nachdem Sven Schwabe und M. G. vor den deutschen Gerichten gescheitert waren, riefen sie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg an. Dorthin kann sich jedermann mit einer "Individualbeschwerde" nach Art. 34 der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) wenden. Auf völkerrechtlicher Ebene kann damit vor unabhängigen Organen Rechtsschutz selbst gegen seinen eigenen Heimatstaat begehrt werden.

Die beiden deutschen Beschwerdeführer machten insbesondere geltend, in ihren Rechten aus Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit) und Art. 11 EMRK (Versammlungsfreiheit) verletzt zu sein.

Sven Schwabe und M. G. dürfen sich freuen: In seinem Urteil vom 1. Dezember 2011 entschied das Straßburger Gericht, dass Deutschland beiden jeweils 3.000 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden zu zahlen hat, außerdem die ihnen entstanden Kosten in Höhe von jeweils über 4.000 Euro (Beschwerdenr. 8080/08 und 8577/08).

Verstoß gegen Menschenrechte

Dass die Betroffenen fünfeinhalb Tage lang eingesperrt waren, wertet der EGMR als einen Verstoß gegen Art. 5 EMRK. Es hätte genügt, die Transparente zu beschlagnahmen, um die Beschwerdeführer daran zu hindern, andere zur Befreiung von Gefangenen anzustiften. Außerdem sieht der Gerichtshof den Gewahrsam über einen so erheblichen Zeitraum als nicht notwendig an.

Zudem sei auch Art. 11 EMRK verletzt, da die beiden Deutschen daran gehindert wurden, an den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel teilzunehmen. Durch das Tragen der Transparente hätten Sven Schwabe und M. G. beabsichtigt, das Sicherheitsmanagement der Polizei zu kritisieren. Die Festnahme der beiden Demonstranten allein für den Versuch, diese Transparente zu tragen, habe eine abschreckende Wirkung für die Äußerung einer solchen Meinung und schränkte die öffentliche Diskussion ein. Auch insofern hätte es als weniger einschneidende Maßnahme gereicht, die Transparente sicherzustellen.

Die Entscheidung des EGMR hat weitreichende Bedeutung. Regeln für die polizeiliche Ingewahrsamnahme gibt es nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern, sondern auch in den anderen Bundesländern. Das Urteil aus Straßburg zeigt für die zukünftige Polizeiarbeit ganz eindeutige Grenzen auf. Polizisten werden zukünftig sehr genau prüfen müssen, ob die erwartete Straftat so schwer ist, dass sie eine Ingewahrsamnahme rechtfertigt. Und auch die Amtsrichter müssen sich umstellen: Einsperren für mehrere Tage ist nun jedenfalls passé, wenn es weniger einschneidende Maßnahmen der Gefahrenabwehr gibt.

Der Autor Dr. Alfred Scheidler ist Oberregierungsrat in Neustadt an der Waldnaab und Autor zahlreicher Publikationen zum öffentlichen Recht.

 

Mehr auf LTO.de:

VG Schwerin: Polizeimaßnahmen vor G8-Gipfel rechtswidrig

Versammlungsfreiheit: Polizeiliche "Vermessung" von Atomkraftgegnern

VG Berlin: Kennzeichnung von Polizeibeamten nicht mitbestimmungspflichtig

  • Drucken
  • Senden
  • Zitieren
Zitiervorschlag

Alfred Scheidler, Urteil des EGMR: . In: Legal Tribune Online, 01.12.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4949 (abgerufen am: 18.06.2025 )

Infos zum Zitiervorschlag
  • Mehr zum Thema
    • Europa- und Völkerrecht
    • Öffentliches Recht
    • Verwaltungsrecht
    • Demonstrationen
    • Polizei
    • Versammlungen
RAV-Kongress 2025 Leipzig 17.06.2025
Rechtsstaat

Kongress des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein:

Im Ange­sicht der "lächelnden Guil­lo­tine"

"AufRecht – solidarisch in autoritären Zeiten": In Leipzig diskutiert die radikal-demokratische Anwaltschaft Strategien gegen repressive Machstrukturen in Staat und Justiz. Besondere Ehre widerfährt einer italienischen Strafverteidigerin.

Artikel lesen
Berittene Polizei (Freiburg) 15.06.2025
Polizei

Berittene Polizei in der Rechtsgeschichte:

Einige Huf­noten zum Dienstp­ferd

Nach wie vor zählen bei der Polizei neben Hunden auch Pferde zu den "Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt", wie es in der gesetzlichen Regelung heißt. Von juristischem Interesse ist das mächtige Huftier aber nicht nur deshalb.

Artikel lesen
Uli Grötsch, SPD 10.06.2025
Polizei

Polizeibeauftragter des Bundes bezieht Stellung:

"Enga­ge­ment für die AfD" als Grund für die Diens­t­ent­las­sung

Der Polizeibeauftragte des Bundes, Uli Grötsch, äußert sich deutlich: eine AfD-Mitgliedschaft und die Tätigkeit als Polizist seien unvereinbar. Das müsse Konsequenzen haben, spätestens seit dem Verfassungsschutzgutachten über die Partei.

Artikel lesen
Grenzkontrolle an der deutsch-polnischen Grenze 06.06.2025
Asyl

"Vorläufig", "politisch motiviert", "unzuständig":

Die Mythen über die Zurück­wei­sungs­be­schlüsse des VG Berlin

Fake News und Halbwahrheiten sind der Nährboden für Hetze. Das bekommen die Richter des VG Berlin zu spüren, die Zurückweisungen von Asylsuchenden für rechtswidrig erklärt hatten. Anlass genug, die Fakten noch einmal geradezurücken.

Artikel lesen
Bundespolizei im Einsatz 21.05.2025
Migration

Dobrindt zu Grenzkontrollen:

"Polizei kann das auch über einen län­geren Zei­traum stemmen"

Juristisch umstritten, politisch gewollt: Scheitern die verschärften Grenzkontrollen womöglich, weil schlicht zu wenig Polizei vorhanden ist? Nach Kritik der Polizeigewerkschaft äußert sich der Innenminister – auch zur rechtlichen Kritik.

Artikel lesen
Benjamin Ruß mit einem Plastikvisier mit dem Aufdruck "Empört Euch" 20.05.2025
Versammlungen

EGMR verurteilt Deutschland:

Stra­fur­teil wegen selbst­ge­bauten Plas­tik­vi­siers ver­letzt EMRK

Der linke Aktivist Benjamin Ruß nahm an einer Demonstration gegen die EZB teil und trug ein Plastikvisier vor dem Gesicht. Er wurde wegen Verstößen gegen das Schutzwaffenverbot verurteilt. Das verletzt seine Versammlungsfreiheit, so der EGMR.

Artikel lesen
ads lto paragraph
lto karriere logo
ads career people

Wir haben die Top-Jobs für Jurist:innen

Jetzt registrieren
logo lto karriere
TopJOBS
Logo von Deutscher Gewerkschaftsbund - DGB Bundesvorstand
Re­fe­rats­lei­ter*in (d/w/m) Ab­tei­lung Recht und Viel­falt

Deutscher Gewerkschaftsbund - DGB Bundesvorstand , Ber­lin

Logo von Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL)
Voll­ju­rist:in als Da­ten­schutz­ma­na­ger:in (w/m/d)

Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) , Müns­ter

Logo von Universität Stuttgart
Voll­ju­ris­tin / Voll­ju­rist (w/m/d) in der Gra­du­ier­ten-Aka­de­mie

Universität Stuttgart , Stutt­gart

Logo von GvW Graf von Westphalen
Wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter (m/w/d) Öf­f­ent­li­ches...

GvW Graf von Westphalen , Ber­lin

Logo von Stadt Mannheim
VOLL­JU­RIST*IN ALS SACH­GE­BIETS­LEI­TUNG (M/W/D)

Stadt Mannheim , Mann­heim

Logo von Personalamt der Freien und Hansestadt Hamburg
Voll­ju­rist:in­nen (m/w/d) - Trainee­pro­gramm für an­ge­hen­de...

Personalamt der Freien und Hansestadt Hamburg , Ham­burg

Logo von Gleiss Lutz
Rechts­an­wäl­te Kar­tell­recht (m/w/d)

Gleiss Lutz , Brüs­sel

Logo von Deutsche Rentenversicherung Rheinland-Pfalz
Re­fe­rent (m/w/d)

Deutsche Rentenversicherung Rheinland-Pfalz , Spey­er

Mehr Stellenanzeigen
logo lto events
3-teiliger Workshop - Schluss mit nervigen Kanzleiaufgaben: Wie KI Ihren Arbeitsalltag erleichtert

25.06.2025, Köln

Logo von Fachseminare von Fürstenberg
ChatGPT & Co. für Juristen

25.06.2025

Unternehmensumwandlungen: Einbringungen in Personengesellschaften

25.06.2025

Logo von GvW Graf von Westphalen
Bauen neu denken: Integrale Projektabwicklung als Zukunftsmodell für Kooperation und Nachhaltigkeit

25.06.2025

Logo von Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs Frankfurt am Main e.V.
Green Claims & Nachhaltigkeit in der Werbung – Update Rechtsprechung & Regulierung

25.06.2025

Mehr Events
Copyright © Wolters Kluwer Deutschland GmbH