Mit Vernunft und gutem Willen hätte es einer Reform des Sexualstrafrechts nicht bedurft, meint Monika Frommel. Doch die von Gegnern wie Befürwortern erbittert geführte Debatte hat den Gesetzgeber zu einer interessanten Rochade gezwungen.
Das Sexualstrafrecht soll verschärft werden, so ist es in der Pressemitteilung zum am Mittwoch vorgestellten Regierungsentwurf zu lesen. Streng genommen beinhaltet das Papier aber nur Umstellungen und – was die Überrumpelungsfälle betrifft – Klarstellungen gegenüber der heutigen Rechtslage. Die Folgen sind jedoch schwer absehbar. Die umstrittene Ausnutzungsvariante des Verbrechenstatbestandes der sexuellen Nötigung ("Ausnutzen" einer schutzlosen Lage) wird ersetzt durch den erweiterten Vergehenstatbestand des sexuellen Missbrauchs, § 179 des Entwurfs (StGB-E). Allerdings ist die Strafdrohung dieser Vorschrift sehr hoch (nämlich bei einem Beischlaf mindestens zwei Jahre).
Der neue § 179 erfasst nun situative (Überrumpelung) und persönliche Faktoren der Widerstandsunfähigkeit und wird "Missbrauch unter Ausnutzung besonderer Umstände" genannt. Statt von einer "schutzlosen Lage" (so die Ausnutzungsvariante bei der Vergewaltigung) ist nun (in der neuen Nr. 3) von einem "empfindlichen Übel" die Rede, welches ein mutmaßliches Opfer "befürchte". Diese Subjektivierung eines Tatbestandsmerkmals lässt aufhorchen – schließlich ist das "befürchten" eines "empfindlichen Übels" ein rein innerer Umstand. Die Korrektur erfolgt ebenfalls auf subjektiver Ebene, weil Missbrauch ein Vorsatzdelikt ist.
Konventionskonforme Anwendung des bestehenden Rechts hätte ausgereicht
Die Praxis wird doppelt einschränken müssen: zum einen wird sie objektiv die Kausalität zwischen den "besonderen Umständen", die zur "Befürchtung" geführt haben, prüfen. Zum anderen wird sie sehr genau prüfen, ob der Beschuldigte diese Umstände kannte, und ob er sich darüber bewusst war, diese auszunutzen. An diesen Filtern werden viele Fälle hängen bleiben, sodass am Ende nur noch wenige Konstellationen übrig bleiben dürften, die man – mit etwas gutem Willen – auch nach geltendem Recht hätte erfassen können. Aber diese Einsicht hat sich in der oft erbittert geführten Reformdebatte der letzten Jahre, die vom Beharren auf dem jeweiligen eigenen Standpunkt geprägt war, nicht durchsetzen können.
Es hätte die behaupteten Schutzlücken und die Kampagne zu ihrer Beseitigung nicht gegeben, wenn sich die Auslegung des Verbrechens der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung konsequent an das Prinzip gehalten hätte, dass Gesetze am Ende auch verfassungs- und konventionskonform auszulegen sind. Die Istanbul-Konvention (gültig seit August 2014, demnächst ratifiziert und damit verbindliches Recht) fordert, dass nicht einvernehmliche Sexualkontakte – nach Möglichkeit strafrechtlich – zu verbieten sind.
Neues Recht noch anfälliger für Falschbeschuldigungen
Dies hätte bereits die bisherige Rechtslage gewährleistet, sofern man das Tatbestandsmerkmal der "schutzlosen Lage" nicht zu restriktiv auslegen wollte. Prominenter Befürworter hoher Anforderungen ist insoweit Thomas Fischer, der die "schutzlose Lage" nur dann bejahen will, wenn körperliche Nachteile befürchtet werden. Er argumentiert mit dem Begriff der Nötigung, wonach der sexuellen Handlung eine Nötigungshandlung vorgelagert sein müsse. Offenbar hat dies die Gesetzgebung motiviert, diese Grenzfälle nun beim Missbrauch anzusiedeln. Dort kommt es nicht auf Finalität (Einsatz eines Nötigungsmittels, um...) an, sondern nur auf Kausalität (Zusammenhang zwischen Lage und scheinbar freiwilliger Kooperation). Praktisch dürften sich jedoch auch beim Missbrauch ähnliche Schwierigkeiten der Auslegung ergeben.
Umgekehrt dürfte das neue Sexualstrafrecht in noch höherem Ausmaß als das alte anfällig sein für willkürliche Ermittlungsverfahren (es genügt für den Tatverdacht die Angabe des "Opfers", es habe sich "gefürchtet"). Von den Befürwortern der Reform regelmäßig übergangen wird der Umstand, dass nicht 'das Gesetz', sondern höchstens seine im Einzelfall zu restriktive Auslegung bislang unzulänglich war. Verschwiegen wird ferner, dass das geltende Recht aus ähnlichen Gründen, wie sie nun erneut vorgebracht werden, bereits vor 1997 – und danach noch mehrfach – reformiert worden ist.
2/2: Körperliche Gegenwehr spätestens seit 1997 nicht erforderlich
Dazu ein kleiner historischer Exkurs: Seit den 1970er Jahren gehört der Slogan "Nein heißt nein" zu den grundlegenden Forderungen der internationalen Frauenbewegung. Daher forderten die Grünen bereits 1986 im Antidiskriminierungsgesetz, jede sexuelle Handlung "gegen den Willen" als Vergewaltigung zu strafen. Dass sie sich damit nicht durchsetzen würden, war ihnen damals klar. Vergessen haben sie leider, die asymmetrische Lage von Kindern und Jugendlichen angemessen zu berücksichtigen, um deren Schutz vor "sexueller Fremdbestimmung" stärker zu betonen. Schon eine Formulierung, wie sie mittlerweile in der 2015 neu gefassten Jugendschutzbestimmung zu finden ist (§ 182 StGB – das Schutzalter beträgt 18 Jahre), hätte die später ruchbar gewordenen Pädophilie-Vorwürfe in ihre Richtung wohl gemildert.
Im Jahr 2016 hingegen wirken Forderungen, die das Sexualstrafrecht verschärfen wollen, weil angeblich "die Gerichte" – oder gar "das Gesetz" – verlangen würden, dass Frauen sich körperlich wehren, absurd. Einen solchen Gewaltbegriff gab es nie – von vereinzelten Mindermeinungen, die es in der Jurisprudenz und Rechtswissenschaft immer gibt, einmal abgesehen. Eine entsprechende Auffassung wäre jedoch spätestens seit 1997 überholt gewesen. In jenem Jahr nämlich setzte sich nach über einem Jahrzehnt engagierter Frauenpolitik ein veränderter Gewaltbegriff im Sexualstrafrecht durch, welcher bewusst weiter ist als der des Raubes.
Wider besseres Wissen wird nun behauptet, das geltende Sexualstrafrecht verlange, dass sich eine Frau körperlich wehre. Das ist jedenfalls seit 1997 sicher falsch, wurde aber auch schon zuvor bestritten (etwa im Kurzkommentar von Karl Lackner vor dem Bearbeiterwechsel). Nun wird behauptet, das gescheiterte Antidiskriminierungsgesetz der Grünen ("gegen den Willen") sei in der Sache richtig und zum damaligen Zeitpunkt lediglich nicht durchsetzbar gewesen. Tatsächlich waren sich aber alle an der Reform 1997 Beteiligten darüber im Klaren, dass rein subjektive Merkmale, die auf den Willen des mutmaßlichen Opfers abstellen, objektiviert werden müssen, weil die Bejahung oder Verneinung von Vorsatz seitens des Beschuldigten andernfalls rein willkürlich erfolgen müsste. Deshalb erweiterte man 1997 (in § 177 I Nr. 3 StGB) den Begriff der sexuellen Nötigung über das deskriptive Merkmal "einer Lage", in der das Opfer dem Täter "schutzlos ausgeliefert" sei. Nutzt der Täter diese Lage, die er kennen muss, aus, dann nötigt er vorsätzlich.
Die Rochade des Gesetzgebers
Der nun vom Kabinett beschlossene Reformentwurf greift zu einer interessanten Technik. Durchschauen kann diese nur, wer die beiden extremen Enden des Meinungsspektrums kennt – einerseits also die sehr hohen Strafbarkeitshürden, die Thomas Fischer in seinem Kurzkommentar fordert, andererseits den Vorschlag einer noch weiter gehenden Neuregelung durch Tatjana Hörnle (Leipziger Kommentar). Der Referentenentwurf umschifft nun beide Extreme und vertraut offenbar darauf, dass die Praxis diese Rochade versteht und die alten Grundsätze bei der Ausnutzungsvariante vorsichtig – Fehlurteile vermeidend – in das neue System überträgt.
Mit der Verortung des Problems in einem neu gefassten § 179 StGB-E umgeht der Entwurf die kontroversen Streitstände. Es kommt aber auch zu anderen Zuständigkeiten. Denn nun sind die Oberlandesgerichte zuständig für Revisionen, weil der Missbrauchstatbestand ein Vergehenstatbestand ist (mit einer bemerkenswert hohen Mindeststrafe), den die Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht anklagen kann (flexible Zuständigkeiten). Dort ist ein Neuanfang möglich. Verlangt wird wohl, dass die ausgenutzte Lage so gravierend war, dass der Beschuldigte einen klaren Vorsatz haben musste, die Furcht des Opfers also offenkundig war und ein Übel für den Fall einer Weigerung sozusagen im Raum stand. Die medial geweckten Erwartungen ("nein heißt nein") werden – zum Glück – unerfüllbar sein. In schwierigen Grenzfällen ist zudem auch unter Juristen weiterer Streit garantiert.
Prof. Dr. Monika Frommel war 1988 bis 1992 Professorin für Rechtsphilosophie und Strafrecht in Frankfurt und war von 1992 bis 2011 Direktorin des Instituts für Sanktionenrecht und Kriminologie der CAU zu Kiel. Sie ist Autorin von Aufsätzen und Kommentierungen zum Sexualstrafrecht.
Prof. Dr. Monika Frommel, Entwurf zur Reform des Sexualstrafrechts: Es bleibt alles anders . In: Legal Tribune Online, 17.03.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18812/ (abgerufen am: 03.05.2024 )
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