Der BGH tendiert dazu, bei Thermofenstern einen "mittleren Schadensersatz" statt Kaufpreisrückerstattung zuzusprechen. Wieviel Geld für Dieselkunden ergäbe das und droht ein Berechnungschaos? Hans-Peter Schwintowski mit Einschätzungen.
Wenn ein Dieselauto zum Beispiel ab 12 Grad und tieferen Temperaturen die Abgasreinigung drosselt oder einstellt, handelt es sich um eine unzulässige Abschalteinrichtung. So die klare Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs; auch die meisten deutschen Gerichte urteilen so. Anders sah es hingegen bei der Frage aus, ob es bei solchen "Thermofenstern" für Dieselkunden auch einen deliktischen Schadensersatzanspruch gegenüber dem Hersteller gibt. Der BGH lehnte diese klar ab, muss aber nun wegen Vorgaben aus Luxemburg umdenken. Denn der EuGH entschied kürzlich in seinem Urteil vom 21. März 2023 (C-100/21), dass auch eine fahrlässige Schadensersatzhaftung bei illegalen Abschalteinrichtungen in Betracht kommt.
Am 8. Mai 2023 hat der Dieselsenat, d. h. der vom Präsidium des Bundesgerichtshofs vorübergehend als Hilfsspruchkörper eingerichtete VIa-Zivilsenat, in mehreren Dieselverfahren Folgerungen aus dem Urteil des EuGH vom 21. März 2023 (C-100/21) öffentlich erörtert.
Die Vorsitzende Richterin, Dr. Eva Menges, ließ laut LTO-Bericht erkennen, einen Schadensersatzanspruch im Sinne von § 823 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in Beachtung des EuGH-Urteils nun grundsätzlich zu bejahen. Sie betonte indes die Aussage des EuGH, wonach die Bestimmung der Höhe des Schadensersatzes Sache der Mitgliedstaaten sei.
Oberster Gerichtshof in Österreich spricht großen Schadensersatz zu
Übliche Formen des deliktsrechtlichen Schadensersatzes sind der "kleine" und "große" Schadensersatz. Beim kleinen Schadensersatz kann der Gläubiger die mangelhafte Sache behalten und verlangen, so gestellt zu werden, als ob gehörig erfüllt worden wäre. Demgegenüber stellt der Gläubiger beim großen Schadensersatz die Sache wieder zur Verfügung und verlangt Schadensersatz statt der ganzen Leistung für die Nichterfüllung des gesamten Vertrags. Konkret übertragen auf Dieselfälle bedeutet das die Rückgabe des Fahrzeugs und Rückerstattung des Kaufpreises unter Anrechnung des Nutzungsvorteils durch gefahrene Kilometer. Diesen großen Schadensersatz bejahte der BGH im VW-Urteil vom 25. Mai 2020 (BGH VI ZR 252/19), in dem er die Abgas-"Umschaltlogik" als sittenwidrige vorsätzliche Schädigung ansah.
Der Oberste Gerichtshofs Österreichs (öOGH) urteilte jüngst, dass auch bei illegalen Thermofenstern großer Schadensersatz zuzusprechen sei. Er entschied am 25.04.2023, dass der Käufer einen VW mit Thermofenster zurückgeben und den Kaufpreis zurückverlangen könne (10 Ob 2/ 23a und 10 Ob 16/23k). Wenn der Hersteller keine geeignete Beseitigung der unzulässigen Abschalteinrichtung durch Reparatur des Fahrzeugs anbiete, könne die Erstattung des Kaufpreises gegen Rückgabe des Fahrzeugs verlangt werden. Dies komme dem Grundsatz der Naturalrestitution (Geschädigter ist so zu stellen, wie er ohne schädigendes Ereignis stünde) am nächsten. Denn dies beseitige die ungewollte Zusammensetzung des Vermögens unmittelbar. Dabei müssten dem Kunden aber die Vorteile, also die gefahrenen Kilometer, angerechnet werden.
BGH wohl gegen Kaufpreisrückzahlung
Doch der BGH tendiert dazu, den Schadensersatzanspruch bei Käufern von Dieselautos mit illegalem Thermofenster nicht auf die Rückabwicklung des Kaufvertrages zu richten. Zur Begründung für eine mögliche Verneinung des großen Schadensersatzes deutete die Vorsitzende Richterin Menges laut LTO-Bericht an, dass bei nur fahrlässiger unzulässiger Abschalteinrichtung auch die Rechtsfolge für den Schädiger weniger gravierend ausfallen könnte. Der BGH denke darüber nach, auf den "Differenzhypothesenvertrauensschaden" abzustellen. Ob dieser Begriff auf Dauer dogmatisch belastbar sei, müsse noch geklärt werden. Jedenfalls ginge es um eine Art mittleren Schadensersatz, der mehr als der kleine Schadensersatz sei.
Bei diesem Ansatz handelt es sich dogmatisch gesprochen wohl um die hypothetische Differenz für das Vertrauen, das der Käufer in die Gültigkeit der EG-Typgenehmigung für sein Fahrzeug hatte. Das heißt: Er durfte darauf vertrauen, dass das Fahrzeug ordnungsgemäß angemeldet, zugelassen und in Betrieb genommen wurde, d.h. auch in diesem Zustand verkauft werden könnte. In diesem Vertrauen auf eine ordnungsgemäße EG-Typgenehmigung wurden die Käufer von Fahrzeugen, die mit Thermofenstern ausgerüstet waren, enttäuscht.
Es geht um hypothetischen Schaden
Der Ansatz des BGH kann im Ergebnis überzeugen. Der aus Sicht der Schutzzwecke des europäischen Typgenehmigungsrechts zu entwickelnde Schadensersatz muss die Unsicherheiten hinsichtlich der Möglichkeit ausgleichen, das Fahrzeug anzumelden oder in Betrieb zu nehmen oder zu verkaufen (vertiefend EuGH v. 21.03.2023 - C-100/21 Rn. 84). Dieser Schaden kann seiner Natur nach nur hypothetisch entwickelt werden, da Fahrzeuge mit einer fehlerhaften Abgaseinrichtung vom Kraftfahrtbundesamt bisher genehmigt sind und somit im öffentlichen Straßenverkehr genutzt werden dürfen.
Es geht also darum, dem Käufer eines solchen Fahrzeugs den tatsächlich entstandenen Schaden zu ersetzen, der zugleich in einem angemessenen Verhältnis steht (EuGH aaO Leitsatz 2). Das angemessene Verhältnis des dem Käufer zu gewährenden Schadensersatzes ist immer dann erreicht, wenn der Schadensersatz beim Hersteller des Fahrzeugs auch für die notwendige Prävention, also dafür sorgt, dass der Hersteller unzulässige Thermofenster und ähnliche Einrichtungen in Zukunft nicht verbaut. Dieser Gedanke, der letztlich dafür sorgt, dass Regulierungsgewinne abgeschöpft werden, um die Präventionsfunktion des Schadenersatzrechtes zu realisieren, ist in der Rechtsprechung des BGH erstmals seit den Caroline von Monaco-Fällen ausdrücklich anerkannt worden (BGH v. 15.11.1994 - VI ZR 56/94, BGH v. 05.12.1995 - VI ZR 332/94). Er ist heute auch im Kartellschadensrecht durchgesetzt (§§ 33a, 34 GWB).
Letztlich sorgt ein solcher Schadensersatzanspruch für das vom Europäischen Gerichtshof eingeforderte Ziel, nämlich die "Schaffung und das Funktionieren eines Binnenmarkts mit fairem Wettbewerb zwischen den Herstellern von Kraftfahrzeugen zu gewährleisten" (EuGH aaO Rn. 80).
Was muss der Schadensersatz abdecken?
Aus dieser Perspektive muss der dem Käufer zu gewährende Schadensersatz das Risiko der drohenden Rücknahme der Betriebsgenehmigung ausgleichen . Dieses Risiko beinhaltet zunächst einmal die Kosten für das Umrüsten des Fahrzeugs mit einer wirksamen Abgasanlage, wobei es für die Frage, in welcher Weise die Fahrzeuge umgerüstet werden müssten zuvor eine wirksame Verfügung seitens des Kraftfahrtbundesamtes geben müsste. Hinzu kämen Kosten für den ergänzenden Kraftstoff (AdBlue) und für zusätzliche Wartungsinterwalle.
Darüber hinaus erleidet ein Fahrzeug, das in der Ermangelung einer hinreichenden Betriebsgenehmigung möglicherweise aus dem Verkehr gezogen werden muss, beim (hypothetischen) Verkauf einen signifikanten Minderwert. Damit ist der tatsächlich entstandene Schaden aber noch nicht vollständig erfasst, denn der Hersteller hat das Vertrauen des Käufers in die Abgasarmut des Fahrzeugs durch seine Manipulationen enttäuscht. Der Käufer, der auf die Zusicherungen des Herstellers vertrauen durfte, ging davon aus, eine Investition in eine umweltfreundliche Technik zu tätigen. Tatsächlich aber handelte es sich um eine umweltschädliche Technik. Der daraus resultierende Schaden ist materieller Natur, da er sich in der Investition in Fahrzeuge dieser Art widerspiegelt.
Dieser Gedanke ist auch für den Europäischen Gerichtshof grundlegend, denn er betont, dass die beim Käufer im Zeitpunkt des Erwerbs durch die fehlerhafte EG-Typgenehmigung entstehende Unsicherheit, das Fahrzeug anzumelden, zu verkaufen oder in Betrieb zu nehmen (Rn. 84) durch einen angemessenen Schadensersatz auszugleichen ist. Dabei geht der Gerichtshof von der Inbetriebnahme eines nicht-manipulierten Fahrzeugs mit ordnungsgemäßer EG-Typgenehmigung aus. Nationale Rechtsvorschriften, die es dem Käufer eines Fahrzeugs praktisch unmöglich machten oder übermäßig erschwerten, einen angemessenen Ersatz des Schadens zu erhalten, stünden mit dem Grundsatz der Effektivität nicht in Einklang (Rn. 93). Umgekehrt dürften die nationalen Gerichte dafür Sorge tragen, dass der Schutz der unionsrechtlich gewährleisteten Rechte nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Anspruchsberechtigten führe (Rn. 94).
Vermeidung von Chaos durch Schadenspauschalisierung von bis zu 35%
Aus dieser Perspektive erscheint es sinnvoll und für die Praxis außerordentlich hilfreich, wenn der BGH über eine Art Schadenspauschalisierung, zum Beispiel für bestimmte Fahrzeugtypen nachdenken und entsprechend urteilen würde. Eine solche richterliche Schadensschätzung wäre nach § 287 Zivilprozessordnung (ZPO) möglich. Der BGH könnte beispielsweise andeuten, dass die typische Wertminderung eines Fahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Betrieb genommen worden ist, bei etwa 20% bis 25% des Neuwertes liegen könnte. Größenordnungen dieser Art werden von Brancheninsidern überwiegend für angemessen und zutreffend gehalten.
Hinzu kämen die typischen Durchschnittskosten für die womögliche Umrüstung von Fahrzeugen, die nach Brancheninsidern zwischen 3000,- bis 6000,- Euro liegen sollen. Ergänzt man Zahlen dieser Art um den Gedanken der Prävention, so könnte es sinnvoll sein, aus der Sicht des BGH eine typische Durchschnittsmarge für den zu ersetzenden Schaden von etwa 30% bis 35% des Neupreises anzunehmen.
Auf der Grundlage einer solchen Margenvorgabe würde verhindert, dass für jedes einzelne Fahrzeug womöglich Sachverständige Begutachtungen durchzuführen hätten. Die Gesamtabwicklung der infrage stehenden Schäden könnte rasch, unbürokratisch und kostenreduziert erfolgen. Zugleich würde der BGH mit einer solchen Vorgabe die Schutzfunktionen des europäischen Typgenehmigungsrechts aus der Sicht des Wirksamkeitsgrundsatzes (Art. 4 Abs. 3 EUV) konkretisieren und den Begriff des Differenzhypothesenvertrauensschadens praktisch anwendbar machen.
Unterlässt der BGH in seinem Urteil am 26. Juni hingegen klare Vorgaben zur Berechnung des Schadensersatzes wird dies zu einem kaum überschaubaren Flickenteppich von unterschiedlichen Schadensberechnungen durch Instanzgerichte führen, inklusive vieler Revisionen. Ein Ergebnis, was der BGH auch im eigenen Interesse vermeiden sollte.
Der Auto Prof. Dr. Hans-Peter Schwintowski war Rechtsprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hatte er seit 1993 bis zur Pensionierung einen Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, Wirtschaftsrecht sowie Europarecht.
BGH vor Entscheidung im Dieselskandal 2.0: . In: Legal Tribune Online, 30.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51874 (abgerufen am: 03.12.2024 )
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