Wenn ein Richter schlampig arbeitet, werden seine Urteile in höheren Instanzen aufgehoben. Was aber passiert, wenn er zu gründlich ist? Dann darf die Dienstaufsicht einschreiten, entschied das baden-württembergische Richterdienstgericht am Dienstag in einem seiner seltenen Urteile. Zu der mündlichen Verhandlung reisten ein paar Kollegen extra an.
Der Fall spielt am Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe und hat grundsätzlich Bedeutung. Thomas Schulte-Kellinghaus ist dort seit 2002 Richter. Seine Erledigungszahlen sind seit Jahren geringer als die anderer OLG-Richter. Darauf reagierte die Präsidentin des Gerichts Christine Hügel im Februar mit einem Vorhalt und einer Ermahnung gemäß § 26 Abs. 2 Deutsches Richtergesetz. Er unterschreite das Durchschnittspensum "ganz erheblich", hieß es darin. In manchen Jahren erledige er weniger Fälle als ein Halbtagsrichter. Das sei "jenseits aller großzügig zu bemessenden Toleranzbereiche".
Schulte-Kellinghaus wollte sich den Rüffel nicht gefallen lassen und klagte vor dem Richterdienstgericht in Karlsruhe gegen diesen "einmaligen Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit". Man könne von ihm nicht verlangen, weniger sorgfältig zu arbeiten.
Erst die zweite Verhandlung in diesem Jahr
Das Richterdienstgericht ist eine Einrichtung des baden-württembergischen Richtergesetzes. Maßnahmen der Dienstaufsicht können dort angefochten werden. Das Gericht hat nicht viel zu tun. Die mündliche Verhandlung am Dienstag war erst die zweite in diesem Jahr.
Doch dieser Fall hatte es in sich. Der konservative Rechtsprofessor Fabian Wittreck aus Münster griff den Vorgang in der Neuen Juristischen Wochenzeitschrift auf und sah wie der OLG-Richter selbst die richterliche Unabhängigkeit verletzt.
Die links-liberale Neue Richtervereinigung (NRV), deren Bundesvorstand Schulte-Kellinghaus bis 2011 angehörte, forderte sogar die Suspendierung der OLG-Präsidentin. Hügel sei nicht mehr tragbar, heißt es in einem Brief an Landesjustizminister Rainer Stickelberger (SPD), sie solle vorläufig des Amtes enthoben werden.
"Wir sind hier nicht am Fließband"
Die NRV hatte ihre Mitglieder aufgerufen, den Prozess zu beobachten. Immerhin rund 20 reisten tatsächlich nach Karlsruhe. Das öffentlich tagende Richterdienstgericht musste in einen größeren Saal umziehen.
"Der Maßstab muss die Qualität, nicht die Quantität sein", sagte Julius Reiter, der Anwalt von Schulte-Kellinghaus, am Dienstag in Karlsruhe. "Gerechtigkeit kann nicht mit der Stechuhr herbeigeführt werden." Sein Kollege Olaf Methner ergänzte: "Wir sind hier nicht am Fließband, wo man mit der Erhöhung der Akkordzahl den Ausstoß steigern kann."
Der OLG-Richter ist nicht faul. Er arbeitet mehr als er müsste. Das bestritt auch die Präsidentin nicht. Dennoch erreicht er nur 68 Prozent der durchschnittlichen Erledigungszahl. Allerdings werden die von ihm vorbereiteten Urteile sehr häufig in Fachzeitschriften abgedruckt.
Bürger haben Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit
Das OLG vertrat der Präsidialrichter Frank Konrad Brede. Er kritisierte Schulte-Kellinghaus' Haltung als "arrogant und überheblich". Er solle nicht so tun, als sei er der einzige OLG-Richter, der sorgfältig arbeite. Niemand verlange von ihm, weniger sorgfältig zu arbeiten. Ihm werde nur vorgehalten, "dass andere Richter das doppelte leisten, ohne auf Sorgfalt zu verzichten." Letztlich müssten die anderen Richter seine Arbeit miterledigen.
Schulte-Kellinghaus verkenne, so Präsidialrichter Brede, dass nicht nur die richterliche Unabhängigkeit Verfassungsrang habe, sondern auch der Anspruch der Bürger auf Rechtsschutz in angemessener Zeit. Daraus folge auch eine entsprechende Dienstpflicht der Richter. Auf gestiegene Arbeitslast könne sich der Freiburger Richter jedenfalls nicht berufen, so Brede. An OLG-Zivilsenaten seien die Eingänge in den letzten Jahren um zwanzig Prozent gesunken. Schulte-Kellinghaus solle sich stattdessen fragen, ob er seine Arbeit nicht effektivieren könne, ob er vielleicht unter Entscheidungsschwäche oder schlechter Organisation leide.
Der Angegriffene reagierte darauf eher defensiv. Er werfe niemand vor, nicht sorgfältig zu arbeiten. Allerdings wollte er auch nicht erklären, inwiefern er anders arbeite als andere. Das habe er im April 2010 der Gerichtspräsidentin Hügel in einem ausführlichen Gespräch mitgeteilt, das müsse genügen. "Es kann nicht sein, dass ich mich hier für meine Arbeitsweise rechtfertigen muss", argumentierte der Richter, "wie ich mich auf eine Verhandlung vorbereite, wie viele Zeugen ich lade." Ein solcher Rechtfertigungsdruck greife in den Kern seiner richterlichen Unabhängigkeit ein.
Durchschnittliche Erledigungszahlen zulässiger Maßstab
Anwalt Reiter kritisierte stattdessen den Maßstab, den die OLG-Präsidentin anlegte. Es mache keinen Sinn, auf durchschnittliche Erledigungszahlen abzustellen. Manche Verfahren seien schwieriger als andere. Manche Senate hätten komplexere Verfahren als andere. Bei Spruchkörpern sei die individuelle Leistung schwer zuzuordnen. Im Ergebnis blieben seine Einwände aber akademisch. Denn Schulte-Kellinghaus räumte offen ein, dass er zur Erledigung der bei seinem Senat anhängigen Verfahren rund ein Drittel weniger beitrage als die Kollegen.
Am Ende lehnte das Richterdienstgericht auch die Klagen überwiegend ab. Vorhalt und Ermahnung seien zulässig gewesen, erklärte der Vorsitzende des Gerichts Otto-Paul Bitzer. Er stützte sich dabei vor allem auf die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 23.05.2012, Az.: 2 BvR 610/12). Dort heißt es, die von einem Richter zu erbringende Arbeitsleistung orientiere sich "pauschalierend an dem Arbeitspensum, das ein durchschnittlicher Richter vergleichbarer Position in der für Beamte geltenden regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit bewältigt". Auch das Verfassungsgericht stelle also auf durchschnittliche Erledigungszahlen ab.
"Ein klares Fehlurteil"
Auch eine von Hügel vorgenommene Sonderprüfung des Dezernats von Schulte-Kellinghaus segnete das Richterdienstgericht ab. Es habe einen konkreten Anlass hierfür gegeben, als ein neuer Senatsvorsitzender sich in einem Telefonat mit Hügel erschrocken über die Rückstände von Schulte-Kellinghaus geäußert habe. Dessen Anwalt Methner hatte zuvor argumentiert, die Sonderprüfung sei eine "unzulässige Einschüchterung" gewesen.
Einen Teilerfolg erzielte der OLG-Richter nur im dritten Punkt. Ein Vermerk Hügels habe tatsächlich in die richterliche Unabhängigkeit eingegriffen. Denn in diesem hatte die Präsidentin auch die Reihenfolge der Verfahrenserledigung beanstandet. "Was eilbedürftig ist, muss ein Richter selbst entscheiden", sagte Bitzer.
Gegen das Urteil (Az: RDG 6/12 u.a.) kann Schulte-Kellinghaus noch Berufung zum Dienstgerichtshof in Stuttgart einlegen, was er wohl auch tun wird. Sein Anwalt Reiter bestärkte ihn darin. "Das war ein klares Fehlurteil", sagte er am Dienstagabend nach der Verkündung. "Woher soll ein Richter wissen, welche Abweichung vom Durchschnitt noch toleriert wird?" Den Rüffel für seinen Mandanten nannte er "pure Willkür".
Sollte der OLG Richter auch in Stuttgart unterliegen, ist noch eine Revision zum Bundesgerichtshof möglich. Verlöre er bis in die letzte Instanz und behielte zugleich seinen Stil bei, droht ihm ein Disziplinarverfahren mit Geldbuße und Gehaltskürzung. Die bisher singuläre Vorgehensweise der OLG-Präsidentin Hügel dürfte dann Schule machen.
Christian Rath, Freiburger Richter verliert vor Dienstgericht: Nicht faul, aber zu gründlich . In: Legal Tribune Online, 05.12.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7707/ (abgerufen am: 23.09.2023 )
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