Italien biete nicht in jedem Fall ausreichend Schutz für Asylbewerber, entschied der EGMR am Dienstag. Eine Familie mit sechs minderjährigen Kindern kann daher vorerst in der Schweiz bleiben, solange die italienischen Behörden den schweizerischen nicht zusichern können, dass insbesondere die Kinder dort sicher untergebracht werden können.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am Dienstag mit vierzehn zu drei Stimmen entschieden, dass eine afghanische Familie nicht aus der Schweiz nach Italien abgeschoben werden darf (Beschwerdenummer 29217/12). Italien biete keine ausreichenden Garantien dafür, dass die Kinder eine ihrem Alter angemessene Betreuung erhielten, und die Familie gemeinsam untergebracht werden könne. Eine Abschiebung in das Land sei ohne diese Zusicherung mit Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unvereinbar.
Das betroffene Ehepaar und seine sechs minderjährigen Kindern mit afghanischer Staatsangehörigkeit leben derzeit in der Schweiz. Nachdem die Familie im Juli 2011 zunächst über Italien in die EU eingereist war, verließ sie das Land ohne Genehmigung und gelangte schließlich in die Schweiz, wo sie im November 2011 einen Asylantrag stellte. Die Schweizer Behörden lehnten es ab, den Antrag zu bearbeiten, da gemäß der Dublin-Verordnung der EU, die nach einem Assoziierungsabkommen auch in der Schweiz Anwendung findet, Italien für die Bearbeitung des Antrags verantwortlich sei. Sie ordneten daher an, die Familie nach Italien zurückzuführen.
Die Familie hatte sich vor dem EGMR unter anderem auf Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) berufen, der Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung verbietet. Sie hatten insbesondere geltend gemacht, dass die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien mangelhaft seien. So gebe es dort keine angemessenen Sanitäranlagen, keine Privatsphäre und eine gewaltsame Atmosphäre unter den Bewohnern des Asylheims. Zudem wären sie nach einer Abschiebung dorthin ohne individuelle Garantien hinsichtlich ihrer Betreuung einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt.
Italien nicht mit Griechenland vergleichbar
Der EGMR hatte schon zuvor Kritik am europäischen Asylsystem geäußert, in dem manche Staaten die nach europäischem Recht erforderlichen Mindeststandards für die Behandlung von Asylbewerbern nicht einhielten. Anfang 2011 hatte das Gericht entschieden, dass Griechenland diese Standards nicht gewährleiste und ein afghanischer Aslybewerber daher nicht aus Belgien dorthin abgeschoben werden dürfe.
Eine derart gravierende Verletzung der Standards im Asylverfahren wie seinerzeit in Griechenland sah das Gericht mit Blick auf Italien allerdings nicht. Beide Fälle seien in keiner Hinsicht vergleichbar, betonten die Richter in ihrer Urteilsbegründung mehrfach.
Dennoch kritisierten sie, dass die ihnen vorliegenden Daten und Informationen ernsthafte Zweifel aufkommen ließen, ob die aktuellen Kapazitäten des italienischen Systems ausreichten, um Asylbewerbern genug Schutz zu bieten. Es sei durchaus möglich, dass eine erhebliche Zahl Asylsuchender ohne Unterbringung sei oder in überfüllten Heimen ohne jegliche Privatsphäre leben müsse; auch Gewalttaten seien nicht auszuschließen. Ob jedoch tatsächlich die Schwelle für eine Verletzung von Art. 3 EMRK überschritten sei, wofür eine gewisse Schwere der Verletzung erforderlich sei, müsse jeweils im Einzelfall betrachtet werden.
Kinder und Familien müssen besonders geschützt werden
Im konkreten Fall stellte der EGMR fest, dass die Kinder besonderen Schutzes bedürften, und die Schwelle daher niedrig anzusetzen sie. Minderjährige hätten gesteigerte Bedürfnisse und seien extrem verletzlich, auch, wenn sie mit Ihren Eltern zusammen seien. Die Umstände müssten derart sein, dass sie keinem erheblichen Stress, der zu traumatischen Erlebnissen führen könne, ausgesetzt seien.
Da dies in Italien nicht stets gewährleistet sei, müsse die italienische Regierung der Schweiz zusichern, dass die Familie angemessen empfangen und untergebracht werde. Erst dann sei letztere zur Abschiebung berechtigt.
Italien habe mit dem sogenannten SPRAR-Netzwerk grundsätzlich auch ein Programm für Fälle wie diesen aufgesetzt. Das Land habe jedoch nicht hinreichend detailliert schildern können, in welcher Form die Familie von diesem Programm profitieren werde. Ohne eine entsprechende Zusicherung würde die Schweiz mit einer Abschiebung aber Art. 3 EMRK verletzen.
2/2: Uneinheitliche Entscheidungen in Deutschland
Deutsche Gerichte hatten sich bereits mehrfach mit der Frage auseinanderzusetzen, ob Italien zumutbare Bedingungen für Asylbewerber bietet. Eine einheitliche Linie gibt es dabei nicht.
Dem Bundesverfassungericht (BVerfG) lagen in diesem Jahr drei Fällen über Abschiebungen nach Italien zur Entscheidung vor, einer davon betraf eine somalische Familie mit drei minderjährigen Töchtern. Trotz Abweisung der Klage wegen Unzulässigkeit hatte das BVerfG tenoriert, dass "bei der Abschiebung von Familien mit neugeborenen und Kleinstkindern bis zum Alter von drei Jahren … in Abstimmung mit den Behörden des Zielstaats sicherzustellen [ist], dass die Familie bei der Übergabe an diese eine gesicherte Unterkunft erhält" (Beschl. v. 17.09.2014, Az. 2 BvR 991/14). Auch das oberste deutsche Gericht sah aufgrund von Berichten international anerkannter Flüchtlingsschutzorganisationen und des Auswärtigen Amtes Anhaltspunkte für Mängel im italienischen Asylsystem. Es verlangt daher eine Abstimmung der nationalen und italienischen Behörden, um zu gewährleisten, dass Abschiebungen nicht gegen die Rechte der Betroffenen auf den Schutz ihrer Familie und körperlichen Unversehrtheit verstoßen. Dabei seien die individuellen Bedürfnisse des jeweiligen Flüchtlings zu beachten, neben dem Alter insbesondere auch sein Gesundheitszustand.
Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz hatte zuvor entschieden, dass die Bedingungen in Italien nicht menschenunwürdig seien. Auch das Verwaltungsgericht Osnabrück bestätigte Ende September die Abschiebung mehrerer somalischer Asylbewerber nach Italien.
EGMR-Urteil ohne unmittelbare Konsequenzen für Deutschland
Das Verwaltungsgericht Darmstadt hingegen hatte 2012 in einem Eilverfahren anders entschieden und einer somalischen Asylbewerberin Recht gegeben, die sich darauf berief, dass in Italien die europäischen Mindeststandards zur Durchführung des Verfahrens und der Unterbringung nicht eingehalten würden.
Rechtsanwalt und LTO-Autor Dr. Rolf Gutmann, der sich auf das Ausländerrecht spezialisiert hat, folgert aus der europäischen Entscheidung keine unmittelbaren Konsequenzen für die deutsche Justiz und die bereits gefällten Urteile. Die Entscheidung des EGMR beträfe grundsätzlich nur den Einzelfall einer Großfamilie mit minderjährigen Kindern.
Umgekehrt bedeute dies aber auch nicht, dass Italien ansonsten ein generell sicherer Mitgliedsstaat sei. Auch deutsche Behörden sollten die Bedenken des EGMR und des BVerfG ernst nehmen und sich insbesondere bei Familien mit Kindern zuerst Garantien von Italien einholen, um eine menschenrechtskonforme Abschiebung zu gewährleisten.
Zu hoffen sei, dass die Entscheidung vor allem in Italien rezipiert werde – und dort zu einer Verbesserung der Aufnahmebedingungen für alle Asylanten führe.
Anne-Christine Herr, EGMR zweifelt an italienischem Asylsystem: Zu wenig Schutz für Kinder . In: Legal Tribune Online, 05.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13719/ (abgerufen am: 31.05.2023 )
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