Die Karlsruher Entscheidung zum Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB vermeidet zwar den sofortigen Clash mit der EU, befriedet aber auch nicht den Konflikt. Freuen können sich die EZB und Problemstaaten wie Polen, meint Christian Rath.
Das PSPP-Urteil fiel mit sieben zu eins Richterstimmen. Prof. Dr. Andreas Voßkuhle hat es in seinem letzten großen Urteil als Präsident des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) also noch einmal geschafft, seinen Senat weitgehend zusammenzuführen.
Wer der Abweichler war, ist unbekannt. Es gab kein Sondervotum - anders als jüngst beim Beschluss zum Einheitlichen Patentgericht, als die drei dienstjüngsten Richter am Zweiten Senat, Ulrich Maidowski, Doris König und Christine Langenfeld dissentierten.
Die Folgen halten sich zunächst in Grenzen
Vielleicht wirkt das Urteil deshalb wie ein großer Kompromiss. Einerseits hat das BVerfG erstmals EU-Rechtsakte als kompetenzwidrig (ultra vires) gebrandmarkt. Neben den Beschlüssen der Europäischen Zentralbank (EZB) zum Anleihe-Ankaufprogramm PSPP ab 2015 traf das Karlsruher Verdikt andererseits aber auch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von 2018.
Doch die Folgen halten sich zunächst in Grenzen. Die Verfassungsrichter erwarten, dass die EZB die als fehlend angemahnte Verhältnismäßigkeitsprüfung in den kommenden drei Monaten nachholt. Solange kann das Ankaufprogramm der EZB fortgeführt werden. Der sofortige Clash mit der EU wurde vermieden.
Die EZB muss nun also belegen, dass sie ihre geldpolitischen Ziele (Ankurbelung des Wachstums durch eine Inflation knapp unter zwei Prozent) gegen die wirtschaftlichen Folgen niedriger Zinsen abwägt. Die Karlsruher Richter nennen hier zum Beispiel die fehlenden Zinsen für deutsche Sparer.
Wie die Verfassungsrichter wissen, ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung eine große Black Box. Mit genügend argumentatitivem Aufwand kann man zu vielen möglichen Ergebnissen kommen. Die EZB müsste sich schon ganz stur stellen, wenn sie daran scheitern würde, die Verhältnismäßigkeit des PSPP-Programms darzulegen. Völlig auszuschließen ist solche Sturheit zwar nicht - immerhin verweigerte die EZB die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung, weil das BVerfG aus ihrer Sicht selbst seine Kompetenzen überschritt -, aber vermutlich haben die Währungshüter kein Interesse, den Konflikt zu eskalieren.
Steilvorlage für die EZB
Vielleicht freut sich die EZB sogar über die ihr auferlegte Verhältnismäßigkeitsprüfung. Denn bisher war sie aus Deutschland immer mit dem Vorwurf konfrontiert worden, sie betreibe unter der Hand Wirtschaftspolitik und überschreite damit ihr geldpolitisches Mandat. Nun lautet der Vorwurf aus Karlsruhe plötzlich, die EZB habe ihr Mandat überschritten, weil sie die wirtschaftspolitischen Folgen ihres Handelns nicht genug berücksichtigt hat.
Das wirkt sogar wie eine Steilvorlage für die EZB. Natürlich wird sie künftig immer die Interessen der deutschen Sparer erwähnen, zugleich aber auch die Sorgen der spanischen Arbeitslosen und die Nöte der französischen Rentner. Die EZB müsste dann ja nicht nur die wirtschaftlichen Folgen von Zinssenkungen mit gesellschaftlichen Interessen abwägen, sondern alternativ auch die Folgen von Zinssteigerungen. Im Rahmen der vom BVerfG geforderten "wertenden Gesamtbetrachtung" werden sich dann sicher genügend Argumente für eine Fortsetzung der Niedrigzinspolitik finden.
Damit wäre der Konflikt nun aber nicht einmal befriedet. Denn voraussichtlich werden die EU-skeptischen Dauerkläger wie Peter Gauweiler (CSU) auch gegen jede positive Verhältnismäßigkeitsentscheidung der EZB vorgehen. Eine Never Ending Story zeichnet sich ab.
Keine Rechtssicherheit für Corona-Programme
Auch mit Blick auf die von der EZB angekündigten Ankauf-Programme für die Zeit der Corona-Krise (Pandemic Emergency Purchase Programme, PEPP) ist keinerlei Rechtssicherheit erreicht. Das jetzige Karlsruher Urteil nimmt zwar keine Stellung zu den Corona-Programmen der EZB, war es im Kern doch schon im Dezember fertig gestellt, kann also auch keine versteckten Botschaften hierfür enthalten. Doch dürfte sich der Grundgedanke übertragen lassen: Die EZB muss ihre geldpolitischen Ziele mit den wirtschaftspolitischen Folgen abwägen. Und auch hier wird das wohl Unvermeidliche folgen: eine Klage von Gauweiler und Co. beim BVerfG gegen jede positiv ausfallende Verhältnismäßigkeitsprüfung. Nicht jeder Kompromiss ist ein kluger Kompromiss.
Auch dogmatisch wirkt das Karlsruher Urteil eigenartig. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme ist ja eigentlich eine materielle Frage. Zu materiellen Fragen der Geldpolitik kann das Verfassungsgericht aber wegen der von Deutschland durchgesetzten Unabhängigkeit der EZB nichts sagen. Die rechtliche Prüfung kann sich deshalb nur auf die Einhaltung der Grenzen des Mandats beziehen. Wohl deshalb hat Karlsruhe nun die fehlende Verhältnismäßigkeitsprüfung zu einer Mandats- und Kompetenzfrage erklärt.
Zwar heißt es in Art. 5 Abs. 4 EU-Vertrag: "Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus." Damit ist aber die Verhältnismäßigkeit im Verhältnis von EU und Mitgliedsstaaten gemeint, nicht die Verhältnismäßigkeit zwischen geldpolitischen Zielen und Sparer-Interessen.
Problemstaaten als Nutznießer
Den größten Nutzen werden aus dem Karlsruher PSPP-Urteil wohl die europäischen Problemstaaten wie Polen und Ungarn ziehen. Wenn nun sogar das deutsche Verfassungsgericht Akte von EU-Gremien für verfassungswidrig erklärt, warum sollen die europäischen Problemstaaten in Osteuropa nicht das gleiche Recht für sich in Anspruch nehmen? Auch den EuGH muss man nur noch bedingt ernst nehmen, wie das Bundesverfassungsgericht zeigte. Wenn der EuGH (aus Sicht nationaler Richter) methodisch alles falsch gemacht hat, dann ist man eben nicht gebunden - natürlich nur im "absoluten Ausnahmefall", wie jetzt Richter Voßkuhle betonte.
Leichtfertig setzt das BVerfG hier die Autorität der gemeinsamen europäischen Institutionen aufs Spiel; und das auch noch in einer besonders heiklen Phase, während in Polen und Ungarn die Regierungen immer autoritärer werden. Statt den EuGH hier zu stärken, fällt ihm der Zweite Senat auch noch in den Rücken. Was aus Karlsruher Sicht wie ein noch relativ moderater Kompromiss aussieht, wirkt auf EU-Ebene wohl eher wie ein egozentrisches deutsches Trauerspiel.
Zur EZB-Entscheidung des BVerfG: . In: Legal Tribune Online, 05.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41519 (abgerufen am: 06.10.2024 )
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