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Kein Paukenschlag aus Erfurt: Die mäch­tige Gewerk­schaft

Gastbeitrag von Dr. Sven Lohse

27.06.2018

Streik (Symbolbild)

Bild: Markus Dörner, flickr, CC BY-NC-ND 2.0, Zuschnitt und Skalierung durch LTO

Der Grundsatz der sozialen Mächtigkeit bleibt. Daran ändern auch das Tarifeinheitsgesetz und der gesetzliche Mindestlohn nichts, so das BAG. Die Bedeutung der Entscheidung für kleinere Gewerkschaften zeigt Dr. Sven Lohse.

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Gewerkschaften sind nur dann tariffähig, wenn sie gegenüber der Arbeitgeberseite über Durchsetzungskraft verfügen. Mit diesem Beschluss (Beschl. v. 26. Juni 2018, Az. 1 ABR 37/16) stellt sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) offenbar gegen einen Beschluss der Vorinstanz (Beschl. v. 04.05.2016, Az. 5 TaBV 8/15). Die Frage, ob die "Die Berufsgewerkschaft e.V." (DHV) tariffähig ist, muss nun erneut vom Landesarbeitsgericht (LAG) Hamburg entschieden werden.

Die DHV ist eine im Christlichen Gewerkschaftsbund Deutschland (CGB) organisierte Arbeitnehmervereinigung. Und sie hat eine Menge Gegner in Form anderer Gewerkschaften, die gemeinsam die Gerichte anriefen, um die Tariffähigkeit der kleinen Gewerkschaft überprüfen zu lassen. Ist eine Gewerkschaft nicht groß genug, so hat sie bei Tarifverhandlungen nichts zu sagen – und die dort organisierten Arbeitnehmer könnten sich womöglich einer anderen, größeren Arbeitnehmervertretung anschließen.

So wurde über die Tariffähigkeit der DHV in der Vergangenheit bereits zweimal rechtskräftig entschieden – und zwar zu ihren Gunsten (ArbG Hamburg v. 10.12.1956, Az. 2 BV 366/56 und LAG Hamburg v. 18.02.1992, 2 TaBV 9/95). Dennoch stand die Rechtskraft einer erneuten Entscheidung des LAG Hamburg) nicht entgegen. Denn die DHV hatte ihre Satzung seit den früheren Beschlüssen mehrmals erheblich geändert. War die DHV nach früherem "elitären Selbstverständnis" (so der O-Ton des LAG Hamburg) eine reine Angestellten-Gewerkschaft, erstreckt sich die Zuständigkeit der DHV nach den Satzungsänderungen nun auch auf gewerbliche Arbeitnehmer und zwar in einem Umfang von 20 Prozent.

Anders gesagt: Hätte die DHV ihre Satzung nicht geändert, wäre über die Tariffähigkeit aufgrund entgegenstehender Rechtskraft der früheren Entscheidungen wohl nicht entschieden worden.

Soziale Mächtigkeit als maßgebliches Kriterium

So aber musste das BAG sich mit der Frage befassen, ob der DHV die erforderliche Mächtigkeit und Leistungsfähigkeit für eine tariffähige Arbeitnehmervereinigung fehlt – wie es die größeren Gewerkschaften vortrugen – oder eben nicht. Denn Gewerkschaften dienen keinem Selbstzweck, sondern sie sollen die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber denen der Arbeitgeber durchsetzen. Daher sollen nur die Gewerkschaften am Tarifgeschehen teilnehmen können, die Verhandlungsmacht besitzen.

Diese Verhandlungsmacht richtet sich in erste Linie nach der Anzahl ihrer Mitglieder im Verhältnis zu den Arbeitnehmern, deren Interessen sich eine Gewerkschaft in ihrer Satzung verschrieben hat. Neben diesem so genannten Organisationsgrad richtet das BAG seinen Blick auch in die Vergangenheit. Hat die Gewerkschaft früher bereits in nennenswertem Umfang Tarifverträge abgeschlossen, spricht dies für eine Verhandlungsmacht der Gewerkschaft. Die soziale Mächtigkeit von jüngeren Gewerkschaften wird hingegen vornehmlich an deren Mitgliederbestand gemessen und nicht an der Anzahl der abgeschlossenen Tarifverträge.

Die ungleiche Bewertung älterer und jüngerer Gewerkschaften scheint auf den ersten Blick schwer nachvollziehbar. So spricht es doch anscheinend erst Recht für die Verhandlungsmacht einer jungen Gewerkschaft, wenn sie in kurzer Zeit eine nennenswerte Anzahl an Tarifverträgen abschließt. Die Rechtsprechung möchte jedoch der Gefahr vorbeugen, dass jüngere Gewerkschaften vor allem zur Dokumentation der eigenen Verhandlungsmacht Tarifverträge abschließen – und dabei nicht den Interessen der Arbeitnehmer dienen. Die Arbeitgeberseite könnte dann mit der willigen Gewerkschaft Tarifverträge abschließen, die die Arbeitsbedingungen auf eine für nur eine Seite günstige Weise regeln.

Alte Gewerkschaft und trotzdem nicht tariffähig

Das LAG Hamburg hat letztlich gar nicht festgestellt, wie viele Mitglieder die DHV tatsächlich hat. Der Abschluss von ca. 24.000 Tarifverträgen seit 1950 zeige jedoch die Verhandlungsmacht der DHV, entschied das Gericht. Dieser Argumentation wäre das BAG wahrscheinlich gefolgt. Allerdings habe die DHV zahlreiche Tarifverträge außerhalb ihres Organisationsbereichs und mit einer Vielzahl von Satzungsänderungen und damit einhergehenden wechselnden Zuständigkeiten geschlossen, monierten die Erfurter Richter.

Durch diese vielen Wechsel ist die DHV - trotz ihrer Gründung im 19. Jahrhundert – offenbar als junge Gewerkschaft anzusehen. Jedenfalls könne die DHV ihre soziale Mächtigkeit nicht auf ihre langjährige Teilnahme am Tarifgeschehen stützen, so die Richter am 1. Senat. Diese Argumentation des BAG wäre auch konsequent. Denn ob sich eine Gewerkschaft neu gründet oder eine bestehende Gewerkschaft ihren Zuständigkeitsbereich stark ausweitet, ist vergleichbar.

LAG Hamburg: Rechtsprechung des BAG ist überholt

Das LAG Hamburg hält die Rechtsprechung des BAG zur sozialen Mächtigkeit für überholt. Durch das Tarifeinheitsgesetz werde die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems sichergestellt. Finden mehrere Tarifverträge Anwendung, ist der Arbeitgeber nur an den Tarifvertrag der mitgliederstärkeren Gewerkschaft gebunden. Kleinere Gewerkschaften seien für Arbeitnehmer deswegen weniger attraktiv.

Daher plädiert das LAG Hamburg zumindest bei alten Gewerkschaften für eine Bagatellkontrolle. Danach sei ein Organisationsgrad von einem Prozent oder knapp darunter ausreichend, um die Tariffähigkeit zu bejahen. Denn bereits das Tarifeinheitsgesetz greife stark in die in Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz geregelte Koalitionsfreiheit kleinerer Gewerkschaften ein. Durch das Kriterium der sozialen Mächtigkeit werden kleinere Gewerkschaften noch weiter geschwächt.

BAG: Soziale Mächtigkeit weiterhin maßgeblich

Das BAG hält hingegen an seiner Rechtsprechung zur Tariffähigkeit fest. Auch zukünftig wird die Tariffähigkeit kleinerer Gewerkschaften von ihrem Organisationsgrad abhängen. Es betont, dass weder das Tarifeinheitsgesetz noch der Mindestlohn etwas an den Voraussetzungen der Tariffähigkeit geändert hätten.

Mit Spannung können die Entscheidungsgründe des BAG erwartet werden. Dem BAG ist jedoch zumindest im Ergebnis zuzustimmen. Das Tarifeinheitsgesetz hat insbesondere kleinerer Spartengewerkschaften geschwächt. Dies entspricht jedoch dem gesetzgeberischen Willen, eine Zergliederung der Tariflandschaft zu verhindern. Es ist nicht Aufgabe des BAG, hier gegenzusteuern.

In der Sache allerdings wird das LAG nun die tatsächliche Mitgliederzahl der DHV und den darauf bezogenen Organisationsgrad in dem beanspruchten Zuständigkeitsbereich klären müssen.

Der Autor Dr. Sven Lohse ist Rechtsanwalt bei Noerr LLP in Düsseldorf. Er berät Unternehmen in allen Fragen des Individual- und Kollektivarbeitsrechts.

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Kein Paukenschlag aus Erfurt: . In: Legal Tribune Online, 27.06.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29409 (abgerufen am: 16.11.2025 )

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