Kein Rezept ohne Arztbesuch - das gilt nach Standesrecht auch im Zeitalter von Digital Health. Nun will die Bundesregierung trotzdem noch das Arzneimittelrecht verschärfen. Für Ulrich M. Gassner ist das alles andere als zeitgemäß.
Künftig soll in Deutschland keine Online-Verschreibung von Medikamenten erlaubt sein, ohne dass der Patient den verschreibenden Arzt vorher wenigstens einmal persönlich aufgesucht hat. Einen entsprechenden Gesetzentwurf hat das Bundeskabinett erst kürzlich verabschiedet. Dazu stellen sich zwei Fragen: Ist ein solches Verbot notwendig beziehungsweise sinnvoll? Und wenn ja, ist es auch rechtlich haltbar?
Nun gibt es im deutschen Recht kein umfassendes Fernbehandlungsverbot. Doch standesrechtlich untersagt ist nach § 7 Abs. 4 (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärzte (MBO-Ä) die ausschließliche Behandlung über Print- und Kommunikationsmedien. Auch bei telemedizinischen Verfahren sei zu gewährleisten, dass ein Arzt den Patienten unmittelbar behandle.
Ein Modell, wie es zum Beispiel MedGate für Krankenversicherte in der Schweiz praktiziert, wäre schon nach jetziger Rechtslage in Deutschland unzulässig. Dieses erlaubt die ärztliche Beratung eines Patienten, den man zuvor nicht persönlich in einer Präsenzsprechstunde gesehen und kennengelernt hat. Will dieser seine Krankheit online behandeln lassen, muss er sich stattdessen an virtuelle Arztpraxen wenden, wie etwa DrEd mit Sitz in London. Dort erhält er eine Konsultation per E-Mail, Telefon oder Video-Chat, auf Wunsch auch von deutschen Ärzten. Das Rezept kommt dann per Post ins Haus oder geht an eine Versandapotheke.
Verschärfung der Verschreibungspflicht
Solche Online-Rezepte sind der Regierungskoalition seit jeher ein Dorn im Auge. Deshalb versprach sie im Koalitionsvertrag von 2013 klarzustellen, dass die Erstverschreibung von Arzneimitteln nur nach einem direkten Arzt-Patienten-Kontakt zulässig ist. Kurz zuvor hatte sich auch der Bundesrat in diesem Sinne geäußert (BR-Drucks. 615/1/13). Das Bundeskabinett hat nun am 9. März 2016 den Entwurf des "Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften" beschlossen und dort eine solche Regelung vorgesehen. Das Gesetz soll schon im August 2016 in Kraft treten.
Die geplante Regelung lautet im Kern wie folgt: "Eine Abgabe von Arzneimitteln, die zur Anwendung bei Menschen bestimmt sind, darf nicht erfolgen, wenn vor der ärztlichen oder zahnärztlichen Verschreibung offenkundig kein direkter Kontakt zwischen dem Arzt oder Zahnarzt und der Person, für die das Arzneimittel verschrieben wird, stattgefunden hat. Nur in begründeten Ausnahmefällen darf hiervon abgewichen werden."
Die Regierungskoalition will mit dieser Regelung klarstellen, dass verschreibungspflichtige Arzneimittel nicht abgegeben werden dürfen, wenn die Verschreibung nicht nach einem direkten Arzt-Patienten-Kontakt ausgestellt wurde. Die Regelung soll die Qualität der Versorgung sichern und die Patienten vor den Risiken von Online-Rezepten schützen. Behandlungen und Diagnosen über das Telefon oder über das Internet reichen nach Auffassung der Regierungskoalition nicht aus, sondern bergen das Risiko von Fehldiagnosen.
Im Übrigen soll diese Verschärfung der Verschreibungspflicht das standesrechtliche Fernbehandlungsverbot flankieren. Damit ist das Komplettpaket paternalistischer Patientenentmündigung geschnürt.
2/2: Patientenschutz versus Patientenautonomie
Gewiss, Patientenschutz ist ein hohes Gut. Und wenn die Regierungskoalition annimmt, die Gefahr von Falschdiagnosen sei von der Intensität der Arzt-Patienten-Kommunikation abhängig, liegt sie wahrscheinlich nicht falsch.
Doch ist damit noch nicht ausgemacht, ob der Gesetzgeber oder der Patient darüber entscheiden soll, welche Kommunikationsintensität für eine Online-Verordnung erforderlich sein soll. Für die Regierungskoalition liegt der Fall klar: Dem Patienten soll es erschwert werden, die von ausländischen Online-Arztpraxen geöffnete Hintertür zu nutzen und damit das Fernbehandlungsverbot zu umgehen. Kann er das Rezept nicht mehr vor Ort oder in einer deutschen Apotheke einlösen, bleibt ihm nur der Import über bestimmte Online-Apotheken im EU-Ausland.
Das ist keine allzu große Belastung für den Patienten. Dennoch stellt sie einen Grundrechtseingriff dar: Nach herrschender Grundrechtsdogmatik ist der Schutz gegen sich selbst an sich nur bei einem die Willensfreiheit ausschließenden Zustand oder zum Schutz der Grundrechte Dritter zulässig. Der letztgenannte Fall liegt hier nicht vor.
Auch Online-Praxen erfüllen ihre Aufgabe
Problematischer ist die Willensfreiheit. Zum einen gibt es die informationelle Asymmetrie zwischen Arzneimittelhersteller und Patient. Der Beipackzettel allein verleiht noch keine Entscheidungssouveränität. Zum anderen darf man das Paradoxon der Patientenautonomie nicht unterschätzen. Der Patient wähnt sich dank Internetrecherche gut informiert, ist es faktisch aber nicht.
Daher mag es für eine wirklich freie und bewusste Entscheidung für oder gegen ein Medikament erforderlich sein, eine ärztliche Zwangsberatung in Form der Verschreibungspflicht einzurichten.
Eben diese Gatekeeper-Aufgabe erfüllen aber die in Online-Praxen tätigen Ärzte durchaus. Mehr Bevormundung braucht es nicht. Eine empirische Basis für Fehldiagnosen gibt es im EU-Ausland oder den USA genauso wenig wie ein Verbot von Online-Verschreibungen. Dass die hiesige politische Klasse den deutschen Krankenversicherten offenbar für besonders dämlich und damit schutzbedürftig hält, kann nicht wirklich überraschen. Denn dies entspricht den paternalistischen Grundzügen der jüngeren Gesundheitspolitik.
Kultureller Wandel und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
Das Verbot von Online-Verschreibungen ist reaktionär, weil es die digitale Revolution des Gesundheitswesens ignoriert. Die kognitiven und sozialen Fähigkeiten, sich Zugang zu relevanten Gesundheitsinformationen zu verschaffen, diese zu verstehen und effektiv einzusetzen, haben sich enorm gesteigert. Dieser Zuwachs an sogenannter Health Literacy kennzeichnet den heutigen E-Patienten und macht ihn zum untauglichen Objekt ubiquitärer staatlicher Bevormundung.
Zudem dürfte das Verbot von Online-Verschreibungen unionsrechtlich kaum haltbar sein. Nach Art. 11 Abs. 1 S. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/24/EU sind zwar ausnahmsweise Einschränkungen bezüglich der Anerkennung persönlicher Verschreibungen zum Schutz der menschlichen Gesundheit zulässig.
Dies aber nur, sofern sie auf das notwendige und angemessene Maß begrenzt und nicht diskriminierend sind. Zwar verbietet es die Richtlinie dem deutschen Gesetzgeber nicht, die eigenen Patienten und (Versand-)Apotheken zu benachteiligen, doch dürfte es ihm schwerlich gelingen, die Verhältnismäßigkeit des Verbots von Online-Verschreibungen nachzuweisen. Bekanntlich legt auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) Ausnahmen eng aus.
Der Autor Prof. Dr. Ulrich M. Gassner ist Gründungsdirektor der Forschungsstelle für E-Health-Recht an der Universität Augsburg.
Prof. Dr. Ulrich M. Gassner, Verbot von Online-Verschreibungen von Medikamenten: Patientenautonomie unter Dauerfeuer . In: Legal Tribune Online, 31.03.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18930/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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