Ein Arzt, der fremdging, soll seine schwangere Frau getötet haben und wird einer sensationshungrigen Presse zum Fraß vorgeworfen. Das fand schon 1966 ein deutscher Bundesrichter schlimm – obgleich auch er sich zeitweise beeinflussen ließ.
Die Zeit, in der neueste Meldungen aus den Vereinigten Staaten noch mit der Laufzeit von Postkutsche und Atlantikdampfer in der alten Welt einschlugen – man sehnt sich fast danach zurück – lag zwar auch im Jahr 1966 schon eine Weile zurück. Doch war es dem Bundesrichter Dr. Claus Seibert eine stolze Fußnote Wert, dass ihm die schriftliche Begründung eines Urteils aus Washington dank der Hilfe eines US-amerikanischen Kollegen bereits am Tag nach ihrer Veröffentlichung zuging.
Ob Seibert der feine Widerspruch der stolzen Fußnote zu seinem juristischen Feuilleton in der Juristenzeitung (1966, S. 559-560) bewusst war? Gegenstand des Blicks von Karlsruhe in die fernen Lande jenseits des Atlantiks war immerhin "Der seltsame Fall des Dr. Sam Sheppard", ein Lehrstück auf die Sensationslust der Presse in einem US-amerikanischen Strafprozess, der seinerzeit einen ähnlich langlebigen Tumult auslöste wie wenige Jahre später die Vorgänge um den Mord an Roman Polańskis Gattin Sharon Tate. Doch soll Bundesrichter Seibert und seinem Verhältnis zur Öffentlichkeit hier nur eine Fußnote gehören.
Arzt soll seine schwangere Frau getötet haben
Angeklagter im Fall Sheppard, der 1966 ein zweites Mal vor den Obersten Gerichtshof der USA kam, war der Arzt Dr. Sam Sheppard. In der Nacht vom 3. auf den 4. Juli 1954 war seine Frau Marilyn, im vierten Monat schwanger, ermordet worden. Nach den Feststellungen des Gerichts erlitt sie 27 Schläge, am Tatort fanden sich erhebliche Mengen Blut. Sheppard erklärte, dass ein Einbrecher die Tat begangen habe.
Die Ermittlungen standen unter extremer Aufmerksamkeit der Presse, insbesondere die regional führende The Cleveland Press (TCP) maßte sich jedes Urteil an. Bereits die Bestattung, keine vier Tage nach der Tat, zog einen solchen Medienrummel nach sich, dass der 7-jährige Sohn nicht an ihr teilnehmen konnte.
Die öffentliche Anhörung des Coroners zur Todesursachenfeststellung wurde in die Sporthalle der örtlichen High-School verlegt, um den Raumbedarf der Zeitungs-, Radio- und Fernseh-Journalisten zu befriedigen. Anwaltlicher Beistand wurde Sheppard während dieser etwas altertümlichen Anhörung unter modernster Medienüberwachung allerdings verweigert. Zwischenzeitlich fand sich, was sich bei Ärzten gerne finden lässt, wenn nur ein wenig danach gesucht wird: Dr. Sheppard hatte über drei Jahre hinweg eine außereheliche Affäre mit einer Krankenschwester gepflegt.
Am Ende des Monats fragte TCP, warum Sheppard immer noch nicht im Gefängnis sitze, sechs Wochen erging auch schon Mordanklage.
Fauler Kompromiss nach fehlerhaftem Prozess
Das Prozessgeschehen sollte zehn Jahre später vor einem amerikanischen Bundesrichter als "Karneval" bezeichnet werden. Im Gerichtssaal waren die Medien massiv präsent, eine Tatortbesichtigung führte den Angeklagten in Handschellen durch die Reportermeute vor dem Haus. Der Richter verzichtete darauf, die Mitglieder der Jury anzuweisen, die Medienberichterstattung zu ignorieren.
Im Dezember 1954 - die Geschworenen wurden dazu erstmals einigermaßen abgeschirmt, durften aber unbeaufsichtigte Telefonate mit ihren Angehörigen führen –, kam die Jury zu einem Urteil, das offenbar auf einem Kompromiss beruhte: Nach vier Tagen Beratung erkannte die zunächst in der Schuldfrage grundsätzlich geteilte Jury statt auf schweren Mord mit der Möglichkeit der Todesstrafe auf Mord dritten Grades mit der Rechtsfolge einer lebenslangen Freiheitsstrafe.
2/2: Sex, Crime und eine Wrestling-Karriere
Die Verteidigung konnte den prozessführenden Richter nicht dazu bringen, Verfahrensfehler zu erkennen. Egal, ob es nun die weitgehende Öffentlichkeit des Ermittlungsverfahrens war, der Austausch eines Jury-Mitglieds oder die Beeinflussung durch die massive Medienpräsenz. Es ist vermutlich allgemein nicht leicht für einen Richter, hier über den eigenen Schatten zu springen. In diesem Fall stand er auch noch vor einer Wiederwahl, dem Segen und Schrecken des Demokratieprinzips, dem in den Staaten der USA vielfach auch die Richter unterworfen sind.
1963 lief die Fernsehserie The Fugitive an. Es heißt, die Geschichte sei vom Fall Sheppard inspiriert gewesen. Nachgeborenen ist der Plot vielleicht durch Dr. Kimble auf der Flucht, den Spielfilm von 1993 bekannt, in dem Harrison Ford einen Arzt spielt, der, zu Unrecht des Mordes an seiner Frau beschuldigt, eine abenteuerliche Flucht samt Überführung des wahren Täters bewältigt.
Ein Täter wurde im Fall Sheppard zwar nie überführt, wenngleich ein erheblich tatverdächtiger, wegen eines anderen Mordes bereits Verurteilter in Betracht gezogen wurde. Immerhin ordnete ein Bezirksrichter 1964 die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Sheppard wegen Verletzung grundlegender Prozessregeln an, wogegen sich der Bundesstaat Ohio zur Wehr setzte. Schließlich erklärte der Oberste Gerichtshof in Washington 1966 mit acht zu eins Stimmen, dass Sheppard 1954 kein faires Verfahren erlebt habe. Die Jury des nun folgenden Prozesses erkannte im November 1966 schließlich auf "nicht schuldig".
Sexualität und Verbrechen - und weil dies nicht genügt, noch einige dramatische Aspekte - mehr machten den Fall Sheppard zu einem Thema von dauerhaftem Interesse: Wieder auf freiem Fuß heiratete Sheppard ein zweites und ein drittes Mal, begann wieder in seinem Beruf zu arbeiten, verlor aber nach einem Arzthaftungsprozess die Zulassung. Seine Mutter und sein Ex-Schwiegervater begingen nacheinander Suizide, der als alternativer Täter Hauptverdächtige erklärte sich allenfalls vage zu seiner möglichen Tat. Während seiner Haftzeit soll Sheppard sich an einem medizinischen Versuch beteiligt haben, bei dem er sich aktive Krebszellen zu Forschungszwecken in die Leber spritzen ließ.
Er starb mit 46 Jahren im Jahr 1970 am Versagen dieses Organs, hatte zuvor allerdings noch eine Karriere in der US-amerikanischen Variation der Ballettkunst absolviert: aus dem Mediziner Dr. Sheppard war ein Profi-Wrestler geworden.
Zu viel Öffentlichkeit macht bange
Über die als Sport maskierten Abwege der US-Unterhaltungsindustrie - Sheppards Künstlername als Wrestler war "Killer" - brauchte sich deutschen Bundesrichter Seibert 1966 noch keine Gedanken machen. Sein Naserümpfen galt dem unsportlichen Einsatz der Medien im Zusammenspiel mit der Justiz. In Deutschland, so Seibert, müsse "im Zeitalter ununterbrochener Nachrichten-Berieselung" es dem Richter "um die Angeklagten nicht bange sein, […] nur um ihre Opfer."
Über die Frage, ob audiovisuelle Medien an der Gerichtsöffentlichkeit auch in Deutschland teilhaben dürften, wurde in den 1960er und 1970er Jahren heftiger diskutiert als heute. Was Seibert davon hielt, gab er in seinem juristischen Feuilleton 1966 unschwer zu erkennen.
Der fleißige Feuilletonautor Seibert, er verstarb 1977, erfuhr selbst noch einmal 20 Jahre nach seinem Tod eine bescheidene Öffentlichkeit, als ein Kölner Medienanwalt seine Beteiligung an einem Beschluss des Kammergerichts aus dem Jahr 1938 thematisierte, mit dem einem evangelischen Pfarrer versagt worden war, seiner Tochter den zwar biblischen, aber eben "jüdischen Namen" Esther zu geben – ein Richterdienst treu im Geiste des NS-Staats.
Über die Abgründe einer bösartig aufs Strafrecht einwirkenden Öffentlichkeit zu urteilen war 1966 noch leicht - ebenso, wie über die eigenen biografischen Abgründe hinwegzusehen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Einfluss der Presse auf historisches Urteil in Amerika: Mehr als nur die vierte Gewalt . In: Legal Tribune Online, 03.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18948/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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