Vierzehn, möglicherweise bis zu 25 junge Männer überfielen am 19. Oktober 1864 drei Banken in St. Albans, einer beschaulichen Kleinststadt im US-Bundesstaat Vermont, 25 Kilometer südlich der kanadischen Grenze. Ein Bürger der Stadt starb. Der Versuch, die Stadt niederzubrennen, scheiterte. Das juristische Nachspiel hätte das Ende der USA, wie wir sie heute kennen, nach sich ziehen können.
Der 19. Oktober 1864, ein Mittwoch, war mit Bedacht für das Verbrechen, das von Rechts wegen keines sein sollte, gewählt worden. In den Tagen zuvor waren mindestens 14 namentlich bekannte junge Männer mit der Eisenbahn angereist, jeweils in kleinen Gruppen von zwei bis fünf Personen. Am Dienstag hatte in St. Albans, einer Kleinstadt von heute vielleicht 7.000 Seelen, der Wochenmarkt stattgefunden. Die Leute aus dem Umland waren zum Einkauf vor Ort gewesen, nach ihrer Heimkehr war weniger Gegenwehr zu befürchten. Am Tag des Überfalls befanden sich die führenden Männer von St. Albans entweder zu Geschäften bei Gericht im 40 Kilometer südlich gelegenen Burlington oder in der rund 90 Kilometer entfernten winzigen Hauptstadt von Vermont, Montpelier.
Taktisch in Gruppen aufgeteilt überfielen die Männer die drei Banken des Ortes und erbeuteten gut 200.000 US-Dollar. Dann trieben sie die auf der Hauptstraße des Städtchens angetroffenen Bürger zusammen. Ein Handwerker namens Elias J. Morrison, der sich zur Wehr gesetzt haben soll, erlitt einen Bauchschuss, an dem er drei Tage später verstarb. Nach dem vergeblichen Versuch, St. Albans mittels einiger mitgebrachter Brandbeschleuniger in Flammen zu setzen, floh die Gruppe über die rund 25 Kilometer entfernte Grenze nach Kanada, wo mindestens 14 der Männer von kanadischen Beamten ihrer Majestät, Königin Victoria, in Haft genommen wurden.
Juristisches Nachspiel, erster Teil
Mit Hilfe der Regierung in Washington betrieben die Behörden von Vermont unverzüglich die Auslieferung der Inhaftierten, gestützt auf das Grenzabkommen zwischen den USA und der britischen Krone, das seit 1842 die Überstellung flüchtiger Verbrechensverdächtiger, nicht jedoch entflohener Sklaven, vorsah. Doch ging dieses Auslieferungsersuchen unter teils kuriosen Umständen durch mehrere Instanzen. Es scheiterte schließlich am Status der inhaftierten jungen Herren: Der 22-jährige Anführer Bennett H. Young und seine Männer beriefen sich darauf, als Soldaten der Konföderierten Staaten von Amerika gehandelt zu haben – jener Südstaaten, die seit drei Jahren im Sezessionskrieg mit den USA standen.
Sie waren damit nicht die ersten konföderierten Soldaten, mit denen sich die britisch-kanadischen Behörden zu befassen hatten: Einige Tausend aus US-Kriegsgefangenschaft entflohene Konföderierte hielten sich in den nordamerikanischen Territorien ihrer Majestät auf. Die kanadische Bevölkerung verhielt sich wohl überwiegend freundlich gegenüber der Sache der Südstaaten.
Auch die britisch-kanadischen Behörden gingen zum Unbehagen der US-Vertreter äußerst günstig mit den inhaftierten Soldaten um. Statt, wie in gewöhnlichen Fällen flüchtiger Verdächtiger, schnell die Überstellung abzuwickeln, erhob das ersuchte Gericht in Montreal recht umfangreich Beweis. Es gab den Männern 30 Tage Zeit, zu belegen, dass ihr Überfall auf Befehl des konföderierten Kriegsministers erfolgt war. Boten gingen zwischen Kanada und Konföderation durch Feindesland. Zum Skandal kam es, als ein britisch-kanadischer Richter die Soldaten auf freien Fuß setzte und auch die Aushändigung eines Gutteils der Beute anordnete. Von diesem Beschluss fühlten sich nicht nur die angereisten US-Juristen, die hier ohnehin nicht selbst vor Gericht antreten durften, sondern auch ihre kanadischen Prozessvertreter überrumpelt fühlten. Die nächste Instanz hob diese Verfügung zügig wieder auf. Doch am Ende wurden die Inhaftierten tatsächlich als Kombattanten anerkannt, die Haft beendet und eine kriegsvölkerrechtlich gebotene Internierung offenbar nicht in Betracht gezogen.
2/2: Krieg zwischen den USA und dem britischen Reich?
William H. Seward (1801-1872), der langjährige US-Außenminister (Secretary of State), erklärte am Rande dieses Verfahrens offiziell, dass das britisch-kanadische Verhalten von den USA als Kriegsgrund betrachtet werden könnte. Dabei ging es weniger um den getöteten Herrn Morrison als um die Geldbeute, welche der Kaufkraft nach heute mit über 30 Millionen US-Dollar zu bewerten sein soll. Dass die britisch-kanadischen Behörden den Banken einen Teil der Beute rückübereigneten, beruhigte immerhin die US-britischen Spannungen im vierten Jahr des Sezessionskrieges.
Seward war seit Kriegsbeginn wiederholt bei seinen britischen Amtskollegen vorstellig geworden, um auf die Gefährdung der US-kanadischen Grenze durch flüchtige konföderierte Kriegsgefangene und Spione der Südstaaten in Queen Victorias nordamerikanischen Gebieten aufmerksam zu machen. Ihre Majestät hatte die Konföderierten zudem bereits früh als Kriegspartei anerkannt und ihr Reich zur neutralen Macht erklärt. Mit dieser Haltung war vor allem britischen Handelsinteressen gedient.
Sewards insistierte, dass die kanadischen Behörden den britischen Worten zur Neutralität auch Taten folgen lassen müssten und insbesondere die Grenzregion gegen Akte wie den Überfall von St. Albans zu sichern sei. Darauf antwortete der betagte britische Premierminister Lord Palmerston (1784-1865) mit einer Erklärung vor dem Londoner Parlament, die ihm heute wohl wieder viele Herzen zufliegen ließe: Man würde keine britischen Gesetze ändern, nur um einer auswärtigen Macht wie den USA irgendeinen Gefallen zu tun.
Doch nicht erst die St.-Albans-Affäre brachte Spannungen ins Verhältnis zwischen dem britischen Reich und den USA. Die konföderierten Staaten genossen einige Sympathie bei den Briten - sei es aus einem aristokratischen Weltbild, sei es wegen der Interessen der baumwollverarbeitenden britischen Textilindustrie, der Schlüsselbranche des 19. Jahrhunderts. Sklavenhaltung war unfein, gewiss. Aber der von der Royal Navy unterbundene, von Großbritannien völkerrechtlich forcierte Kampf gegen den maritimen und den innerafrikanischen Sklavenhandel war doch eher eine vom kolonialen Machtkalkül, denn von Menschenfreundlichkeit, gesteuertes Anliegen.
Einen Kriegsgrund hatten die USA ihrerseits den Briten bereits drei Jahre zuvor gegeben, als die US-Fregatte USS San Jacinto ein britisches Schiff in neutralen Gewässern aufgebracht und man zwei konföderierte Diplomaten auf ihrem Weg nach Europa in Gefangenschaft genommen hatte.
Juristisches Nachspiel, 2. Teil
Ein Krieg zwischen den USA und dem britischen Reich blieb während der Auseinandersetzung zwischen Union und Konföderierten also im Bereich des Möglichen. Der Überfall von St. Albans samt der schwerlich den Pflichten einer neutralen Macht genügenden kanadischen Bürokratie hätten nach dem diplomatischen San-Jacinto-Vorfall von 1861 einen guten Anlass geboten. Eine Weltgeschichte ohne die USA in ihrer heutigen Gestalt als Folge? An Lord Palmerstons Grab in der Westminster Abbey würde heute die antiwestliche Fraktion der Aluhut-Träger wohl Choräle singen.
Jedoch tauchte die Einschätzung des US-Ministers Seward vom Kriegsgrund "St. Alban" erst wieder in friedlicheren Zusammenhängen auf. Ihre Konflikte trugen die beiden Mächte, nachdem die Nordstaaten im Sezessionskrieg obsiegt hatten, im Rahmen einer "American-British Mixed Commission" aus. Durch völkerrechtliche Übereinkunft vom Mai 1871 gegründet, sollten von ihr vor allem vermögensrechtliche Fragen, die durch den Sezessionskrieg in den Außenbeziehungen der nun wiedervereinigten USA entstanden waren, geklärt werden. Die Kommission, der unter dem Vorsitz des italienischen Botschafters in Washington jeweils zwei britische und US-amerikanische Schlichter angehörten, wurde trotz ihres diskret-diplomatischen Charmes von den einschlägigen US-Kreisen offenbar wie ein inländisches Gericht angegangen.
Der Anwalt einer der drei beraubten Banken von St. Albans konfrontierte die Kommission etwa mit dezidierten Schriftsätzen wie Replik und Duplik. So ging es hin und her – und dabei weniger um den von den kanadischen Behörden 1864/65 recht unstrittig festgestellten Sachverhalt, als um die rechtliche Einordnung der britisch-kanadischen Neutralität. Diese hätte nach den zahllosen Warnungen durch die US-Regierung vor der amtlich bekannten Untergrundarbeit konföderierter Agenten und Soldaten in Kanada einer "due diligence", einer besonderen Wachsamkeit, folgen müssen beispielsweise durch Entsendung von Polizei und Sicherheitspersonal in die Grenzregion. Das argumentum a maiore ad minus lautete: Wenn die USA im St.-Albans-Vorfall schon einen potenziellen Kriegsgrund sahen, dann müsse er nun doch wenigstens als Grund für Kompensationsleistungen von britischer Seite gewürdigt werden.
Mancherlei Rehabilitation
Mit Mehrheitsvotum vom 19. August 1873, knapp neun Jahre nach dem Überfall, folgte die Kommission diesem Argument des Bank-Anwalts nicht. Gründe wurden nicht wirklich benannt. Völkerrechtliche Kommissionen sind keine innerstaatlichen Gerichte. Und selbst diese müssen ja oft ein wenig genötigt werden, ihre erlauchten Gedanken den Rechtsunterworfenen mitzuteilen. So schlug der Orakelspruch der Kommission noch vier Jahrzehnte später in Vermont publizistische Wellen. Die Lokalhistoriker Neuenglands fragten sich gar, ob man der merkwürdigen Diplomatie überhaupt trauen könnte, wenn doch selbst Angehörige englischsprachiger Nationen auf Französisch miteinander parlieren müssten.
Der Anführer der Bankräuber, die kriegsvölkerrechtlich keine waren, Bennett H. Young, kehrte – von einer ersten Amnestie noch nicht erfasst – erst 1868 in die wiedervereinigten USA zurück. In ihrer Zusammenschau von politischer und ökonomischer Aggression ist diese Amnestie übrigens ein auch für heutige Bürgerkriegsreflexionen sehr interessanter Text – allerdings ist das ein Thema für sich. Dem wohl unvermeidlichen Todesurteil in Vermont entgangen, betrieb Young in Irland und England Literatur-, später auch Juristerei-Studien und wurde daheim ein angesehener Rechtsanwalt. Die Karriere des wagemutigen Dixieland-Bankräubers bereitet hoffentlich allen selbsterklärten Feinden der sogenannten Gutmenschen einen ordentlichen Hirnschwindel: Er gründete unter anderem ein Waisenhaus für - wie man heute wohl sagt - afroamerikanische Kinder, und verstarb 1919 im Frieden.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Völkerrecht in Bürgerkriegszeiten: Kein Markttag in Vermont . In: Legal Tribune Online, 19.10.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13528/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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