Können Straftaten mittels telepathischer Künste aufgeklärt oder sogar mit magischen Mitteln begangen werden? Von Zeit zu Zeit zeigen auch Kriminalbeamte und Richter in dieser Frage Nervenflattern.
Als sehr junge Frau verbrachte die spätere Philosophin Hannah Arendt (1906–1975), die im ostpreußischen Königsberg aufwuchs, ein Wochenende am Meer – was ihren Freunden aus seltsamen Gründen Sorge bereitete.
Denn an diesem Wochenende beichtete Hans Litten (1903–1938), der mit ihr verfeindet war, gemeinsamen Bekannten aus der bürgerlichen intellektuellen Jugendszene der Stadt, dass er den Versuch gemacht habe, Arendt mit telepathischen Mitteln ums Leben zu bringen, und zwar durch Ertrinken.
Von dieser Begebenheit, die sich wohl Mitte der 1920er Jahre zutrug, berichteten die Freunde 50 Jahre später. Überliefert wird sie in einer Biografie über den mutigen Rechtsanwalt und NS-Gegner Litten, der 1938 im Konzentrationslager Dachau starb.
Von Interesse ist sie hier, weil sich eine gemeinsame Bekannte Littens und Arendts in den 1970er Jahren daran erinnern wollte, um das Leben der Freundin gefürchtet zu haben und erleichtert gewesen zu sein, als Hannah Arendt am Montag wieder in der Schule erschien.
Magische Geschäfte der Kriminaltelepathin Günther-Geffers
Es waren nicht allein die Gymnasiasten in Königsberg, der damals mit bald 300.000 Einwohnern östlichsten deutschen Großstadt, anfällig für die Idee, dass magische Kräfte in der Welt wirken könnten.
Im "Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten" (1929, S. 177–236) berichtete der Potsdamer Landgerichtsdirektor Albert Hellwig (1880–1950) ausführlich über einen Prozess gegen die selbsternannte "Kriminaltelepathin" Else Günther-Geffers (1871–1959), die es weit über die ostpreußische Provinz zu erheblicher Prominenz bringen sollte.
Günther-Geffers hatte 1922 in Königsberg ihr Gewerbe als "Detektivin mit besonderer Befähigung" angemeldet, Sohn und Gatte halfen im Büro. Landgerichtsdirektor Hellwig berichtet:
"In der Folgezeit wurde sie von hilfesuchenden Personen immer mehr aufgesucht, und nachdem durch die Presse und durch Gerüchte die angeblichen Erfolge ihrer Tätigkeit bekannt worden waren, zuletzt so überlaufen, daß sie die Leute nur noch nach vorheriger Anmeldung vorlassen konnte. Sie betätigte sich hierbei als Chiromantin, indem sie besonders Frauen aus der Hand Angaben über vergangene und zukünftige Ereignisse, auch über Charakter usw. machte, und als Hellseherin, indem sie sich zur Aufklärung von strafbaren Handlungen anderen Leuten zur Verfügung stellte."
Im Rahmen ihrer hellseherischen Ermittlungsarbeit ließ sich Günther-Geffers gern an Orte führen, die mit der mutmaßlichen Tat in Beziehung standen. In einem Zustand spezifischer Trance äußerte sie dann meist verrätselte Angaben zur Sache.
Unmittelbar für ihre Leistungen bezahlen ließ sich die "Kriminaltelepathin" nicht, bat aber ihre Klientinnen und Klienten um eine Geldspende, die sie für angemessen hielten. Die in einer Geldbüchse hinterlassenen Beträge wurden sofort gezählt, sobald die Kundschaft das Detektivbüro verlassen hatte.
Durch Beschluss vom 19. Januar 1925 lehnte der Richter am Amtsgericht Königsberg die Eröffnung eines Hauptverfahrens wegen des Vorwurfs des Betrugs, § 263 Strafgesetzbuch (StGB), mit der Begründung ab, dass "die Wissenschaft … in ihren Forschungen über Hellsehen und Telepathie noch zu keinem unbedingt zuverlässigen Ergebnis gelangt" sei und sich nichts dazu habe ermitteln lassen, dass Günther-Geffers ihrer Kundschaft gegenüber bewusst falsche Angaben über die Qualität ihrer Leistungen gemacht hatte.
Auch in einem weiteren Verfahren vor dem Amtsgericht – Schöffengericht – Insterburg wurde Günther-Geffers mit Urteil vom 12. Mai 1927 vom Vorwurf des Betrugs freigesprochen.
Landgerichtsdirektor Hellwig, der seinerzeit als Koryphäe auf dem Gebiet des jugendgefährdenden Kinos und vor allem in den juristischen Fragen des Okkultismus galt, legt nahe, dass die geschickte Strafverteidigung von Günther-Geffers nicht nur die Gerichte beeindruckte, sondern auch Material für die nachfolgende Presseberichterstattung lieferte: Die Freisprüche wurden als Beleg für die magischen Fähigkeiten der Angeklagten verkauft.
Insterburger Hellseher-Prozess
In seinem Bericht zu den Verfahren gegen Else Günther-Geffers geht Hellwig ausführlicher auf einen Anklagepunkt in einem nächsten Prozess ein. Vor dem Schöffengericht Insterburg war Günther-Geffers wegen weiterer Fälle des Betrugs angeklagt worden, zwei Fällen des Handlesens und 25 Fällen der Kriminaltelepathie.
In Schrengen bei Rasterburg, einem Ort mit rund 200 Einwohnern, war dem Rittergutsbesitzer Migge ein Mitarbeiter, der Fuhrmann Kaschnitzki, abhandengekommen. Von Migge mit 100 Mark entlohnt nahm die magische Detektivin in einer Gastwirtschaft vor Ort – angeblich mittels Trance – Witterung in dem Fall auf. Dort war Kaschnitzki bei einer patriotischen Feier zuletzt lebend gesehen worden.
Zu Kaschnitzki orakelte Günther-Geffers, der Mann sei am Abend seines Verschwindens von einem unbeleuchteten Automobil angefahren, daraufhin von den Insassen zunächst in eine Nachbargemeinde verbracht worden, dort verstorben. Die Täter hätten ihn dann zurückgebracht und seinen Leichnam in einem See bei Schrengen abgeladen, wo man ihn – noch seinen Hut tragend – finden werde.
Vier Monate nach der Weissagung – die ostpreußischen Moore und Gewässer waren zum Zeitpunkt der hellseherischen Ermittlung noch zugefroren – wurde die Leiche am angegebenen See gefunden. Unter anderem der Umstand, dass ihr der Hut auf dem Kopf saß, veranlasste die Pressestelle des Gerichts, von einem Wunder zu sprechen.
Prüfung magischer Mittel in den 1920er Jahren
Obwohl viele mögliche Details zum Tod bereits zum Zeitpunkt der wahrsagerischen Leistung als Kneipengerüchte im Umlauf waren und vom Fundort der Leiche abgesehen nahezu nichts von Günther-Geffers' Ankündigungen zutraf – der Fuhrmann war augenscheinlich nur stark alkoholisiert im See ertrunken, einen Autounfall hatte es nie gegeben – kam das Schöffengericht Insterburg mit Urteil vom 12. Mai 1928 sehr zum Verdruss des Okkultismus-Fachmanns Albert Hellwig wiederum zu einem Freispruch.
Seinem Bericht zu den ostpreußischen Justizvorgängen verbirgt die schlechte Laune des Potsdamer Landgerichtsdirektors Hellwig kaum – so ließ er sich dazu hinreißen, den Vergleich zwischen den mitunter recht üppigen Einkünften der Hellseherin und der sehr kargen Erstattung seiner Kosten als Gutachter in Fragen von justizrelevantem Okkultismus zu ziehen.
Trotzdem bekundete der im besten Sinn skeptische Fachmann Hellwig, dass er für empirisch saubere Beweise übersinnlicher Wahrnehmungen durchaus offen sei – und dass auch von Gerichten nicht verlangt werden könne, über die Beweiskraft okkultistischer Erkenntnisse verbindlich zu urteilen, weil dies der experimentellen wissenschaftlichen Forschung überlassen bleiben müsse.
Mit dieser grundsätzlichen Offenheit stand Hellwig nicht allein. Zum einen bewirkte der starke Anstieg der Verbrechensrate nach dem Ersten Weltkrieg eine Sehnsucht nach Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung. Zum anderen bestand bei den Polizeibehörden das Bedürfnis, ihre Arbeit zu professionalisieren – nicht zufällig kommt heute kein historischer Berlin-Krimi ohne Ernst Gennat (1880–1939) aus, der dort in den 1920er Jahren moderne kriminalwissenschaftliche Methoden etablierte.
Dass dabei auch die Idee, es könnten womöglich telepathisch begabte Menschen allerlei Zeichen aus der Vergangenheit oder Zukunft erspüren, ernsthaft geprüft wurde, ist nachvollziehbar – über ein Abitur verfügten höchstens fünf Prozent aller männlichen Schulabgänger und auch unter den formal Gebildeten wurde der von Julius Robert Mayer (1814–1878) formulierte erste Hauptsatz der Thermodynamik, der die Existenz okkulter Energien unglaubhaft machte, noch in den 1920er Jahren kontrovers diskutiert.
In Leipzig, das wegen seiner relativ liberalen Tradition schon lange ein Hort für Obskurantisten aller Art gewesen war, prüfte etwa ein Polizeirat Engelbrecht vor diesem Hintergrund bereits 1919 einen ortsansässigen Hellseher auf etwaige telepathische Fähigkeiten – mit dem skeptischen Befund, dass der Proband zwar gewisse detektivische Kompetenzen, seine Erkenntnisse zu einem fingierten Raubmordfall aber möglicherweise beim Polizisten erspürt habe, der ihn im experimentellen Setting begleitet hatte.
Keine justizverwertbaren Erkenntnisse, aber doch erheblichen Wirbel in der deutschsprachigen Presse hinterließ das "Institut für Kriminaltelepathische Forschung" in Wien. Geleitet wurde das Institut – es blieb auf das Jahr 1921 beschränkt – vom Juristen und Kriminalbeamten Edmund Otto Ehrenfreund (1875–1941, ermordet im KZ Dachau).
Ehrenfreund, der unter dem polizeiuntypischen Pseudonym Ubald Tartaruga bekannt wurde, äußerte 1922: "Für mich ist jeder Zweifel ausgeschlossen, dass echte [Telepathie] und Beobachtungstelepathie seit jeher hochwichtige Faktoren im kriminalistischen und forensischen Dienste gewesen sind, dass wir es aber als Gebot der Zeit bezeichnen müssen, die diesfälligen Erfahrungen zu sammeln, zu sichten, in ein logisches System zu bringen und daraus einen 'Kriminaltelepathie' betitelten Zweig der Kriminalwissenschaft zu machen."
Skeptische Stimmen und gelegentliches Wiederaufflammen
Soweit es um die formale Einbindung von Okkultisten in die Polizeiarbeit ging, überwogen bereits in den 1920er Jahren die skeptischen Stimmen.
Bernhard Weiß (1880–1951), der wegen seiner Auseinandersetzungen mit Joseph Goebbels berühmte Vizepräsident der Berliner Polizeibehörde, der als preußischer Jurist und Reserveoffizier einen Sinn für das Praktische hatte, votierte etwa klar zugunsten der bereits naturwissenschaftlich belastbaren Methoden.
Und dennoch habe es, wie der auf die Geschichte des Okkultismus in Deutschland spezialisierte Historiker Uwe Schellinger erklärt, in den 1920er Jahren kaum einen bedeutenden Kriminalfall gegeben, zu dessen Aufklärung sich nicht zahlreiche Hellseher und andere medial Begabte angedient hätten.
Mitunter wurden diese Angebote angenommen. Beispielsweise zog die Staatsanwaltschaft Freiburg/Breisgau im Jahr 1928 nach dem Sexualmord an den Cousinen Luise und Ida Gersbach neben den üblichen Ermittlungsmethoden auch Hellseher hinzu – die Kriminalpolizei begleitete wiederholt "Medien" zu Tatortbegehungen auf die Weißtannenhöhe im Schwarzwald.
Sogar der wissenschaftliche Fortschritt in der kriminalpolizeilichen Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg schloss nicht aus, dass Ermittlungsbeamte die Dienste von Hellsehern erprobten, beispielsweise nach der Entführung von Hanns Martin Schleyer (1915–1977) durch Angehörige der RAF – glücklicherweise steht heute vor allem die Sorge im Vordergrund, dass reißerische Darstellungen das Vertrauen von Verbrechensopfern in die polizeiliche Arbeit untergraben könnten.
Und wenn sich heutige Gymnasiastinnen und Gymnasiasten Gedanken über die magische Wirkung von Wörtern machen, gilt ihre Sorge – anders als im Fall Arendt/Litten – nicht mehr dem Tötungspotenzial telepathischer Verwünschungen.
Hinweise: Knut Bergbauer, Sabine Fröhlich & Stefanie Schüler-Springorum: "Denkmalsfigur. Biographische Annäherung an Hans Litten". Göttingen (Wallstein) 2008. Uwe Schellinger: "'Kriminaltelepathen' und 'okkulte Detektive'. Integrationsversuche paranormaler Fähigkeiten in die Polizeiarbeit im deutschsprachigen Raum 1920 bis 1960". In: Anna Lux & Sylvia Paletschek (Hrsg.): "Okkultismus im Gehäuse. Institutionalisierung der Parapsychologie im 20. Jahrhundert im internationalen Vergleich". Berlin/Boston (de Gruyter/Oldenbourg) 2016, S. 307–340.
Magie und Telepathie bei Polizei und vor Gericht: . In: Legal Tribune Online, 20.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50219 (abgerufen am: 11.10.2024 )
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