Im Bereich medizinischer Dienstleistungen verspricht "evidenzbasierte Medizin" eine um wissenschaftliche Erkenntnis angereicherte Heilkunst ohne esoterisches Chichi. Mit einer Dissertation kam 2014 das Programm einer "Evidenzbasierten Jurisprudenz" auf den rechtswissenschaftlichen Buchmarkt. Welche (un)magischen Denksportaufgaben damit verbunden sind, zeigt Martin Rath.
Ein Konzern-Syndikus führt die Vorstandsmitglieder bei Mitternacht auf einen einsamen Acker, um die Ankunft eines scientologischen Raumschiffs abzuwarten, von dessen Besatzung man sich Aufschluss über neue Unternehmensstrategien verspricht. Ein aufs Scheidungsrecht spezialisierter Rechtsanwalt rät seinen männlichen Mandanten die Anwendung aztekischer Liebeszauber an, weil man den prozessgegnerischen Biestern anders nicht beikomme. Natürlich darf auch der mit finsteren Klienten gesegnete Strafverteidiger nicht fehlen, der stets ein paar Staatsanwaltspüppchen in der Schublade hat, um sie von Zeit zu Zeit mit Voodoo-Nadeln zu piesacken – von den Mandantenpuppen aller anderen Anwälte nicht zu sprechen.
Teile der Ärzteschaft und wohl die Mehrzahl der Heilpraktiker wenden heute eine Vielzahl an esoterischen Genesungsmittelchen an – von fragwürdigen "Familienaufstellungen" bis zu homöopathischen Zuckerkügelchen, die kosmisch verstrahlte Zahnärztinnen zur Schmerzbehandlung verabreichen. Auf das vielleicht etwas alberne Gedankenspiel, was geschehen könnte, wollten sich Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ähnlicher Marketingmittel bedienen, führte die 2014 veröffentlichte Dissertation "Evidenzbasierte Jurisprudenz" von Hanjo Hamann.
Jura ist (noch) recht frei von Esoterik
Glücklicherweise ist es nicht annähernd so schlimm um die Juristerei bestellt, dass sich eine rechtswissenschaftliche Doktorarbeit das Ziel setzen müsste, mit Hirngespinsten jener Art aufzuräumen, um die viele Medizindienstleister im Geschäft mit ihrer karmisch entrückten Großstadtkundschaft nicht mehr herumzukommen glauben. Das Wort von einer "evidenzbasierten Medizin" dient in der handlungsorientieren Heilkunst nicht zuletzt dazu, das ärztliche Interesse an einer naturwissenschaftlich fundierten Praxis zu unterstreichen. Solche Abgrenzungsbemühungen einer "evidenzbasierten Jurisprudenz" bedarf es (noch) nicht.
"Evidenzbasierte Jurisprudenz" ist bei Hamann daher weniger streitbar gestaltet: Er beginnt mit einer Darstellung, welche empirischen Bemühungen der rechtswissenschaftlichen Arbeit selbst dann zugrunde liegen, wenn vorderhand nur dogmatische Gutachtentechnik bewerkstelligt wird. Die beispielsweise bestenfalls mit dem Griff zum Duden verifizierte Feststellung eines "gewöhnlichen Sprachgebrauchs", mit der dem strafrechtlichen Bestimmtheitserfordernis Genüge getan werden soll, zählt zu einer solchen oberflächlichen Empirie-Arbeit.
Juristen begründen viel mit anekdotischen Evidenzen, vom Gesetzgeber bis hin zu den wertenden Anteilen richterlicher Entscheidungen. Ein kurzes Beispiel: Bis 2005 hatten Aktionäre anlässlich der Hauptversammlung Aktien zu hinterlegen, § 123 Aktiengesetz alter Fassung. Weil das "erfahrungsgemäß" so nicht praktiziert wurde, schaffte man das Prozedere ab. Eine Prüfung dieser Annahme mittels sozialwissenschaftlicher Methoden fand nicht statt, obwohl der Gesetzgeber, anders als die Gerichte, nicht unter Zeitdruck stand.
Spekulation oder empirische Untersuchung?
Juristen kommen als Produzenten, hier oft mit anekdotischer Evidenz, und als Rezipienten gutachterlicher Äußerungen sowie als Spekulanten mit Empirie in Berührung. Die Spekulation darf als produktiv gelten, wenn sie beispielsweise ein lebensmittelrechtliches Verbot vom naturwissenschaftlichen Nachweis eines gewissen Gefährdungspotenzials abhängig macht. Der Gesetzgeber fördert hier letztlich den Wissensfortschritt: Er nimmt an, dass es die Gefahr geben könnte. Die zuständigen Behörden und Gerichte verlassen sich später auf forsche und forschende Lebensmittelchemiker, welche die juristische Arena betreten und entscheiden, ob die Gefahr denn wirklich real ist.
Hamann selbst führt elaboriertere empirische Methoden zur Erzeugung juristischer Evidenz am Beispiel des gesellschaftsrechtlichen Kollegialprinzips vor: Wie halten es andere Rechtsordnungen westlicher Länder mit der Mitgliedschaft und dem Entscheidungsprozess in leitenden Unternehmensorganen? Was verspricht man sich von Kollegialordnungen? Wird zwischen dem sprichwörtlichen "vier Augen sehen mehr als zwei" und dem "viele Köche verderben den Brei" eine optimale Gestaltung gefunden?
Evidenzbasierte Auskünfte zur Leistungsfähigkeit von Kollegialentscheidungen finden sich unter anderem aus der experimentellen Mikroökonomik, der Sozial- und Organisationspsychologie.
2/2: Arbeitskreis, wenn man nicht weiter weiß
Die Einzelerkenntnisse dienen dabei seinem Plädoyer für ein Mehr an sozialwissenschaftlicher Methodik. Dass Teams, ein anderes Wort für "Kollegialorgan", nicht nur in keiner Weise zur Lösung von Problemen taugen müssen, sondern manchmal kontraproduktiv sind, zeigt nicht nur die Alltagsevidenz des von Meetings geknechteten Büromenschen der Gegenwart. Auch Studien zu übersichtlich strukturierten Entscheidungen hoch kompetenter Manager belegen dies.
Die im Team abgestimmte Preisprognose von Rohstoffhändlern trifft meist weniger gut zu als der Durchschnitt ihrer unkoordinierten Einzelprognosen. Dieses Phänomen ist als "Ringelmann-Effekt" bekannt. Umgekehrt kann fehlende Information über die Leistung bzw. Leistungsfähigkeit anderer Gruppenmitglieder zu nachlassenden Beiträgen Einzelner zum Gruppenziel führen, gemeinhin als "soziales Faulenzen" bekannt.
Entscheidungsrelevant können solche ökonomischen bzw. psychologischen Erkenntnisse werden, wenn es um die Rechtsfrage geht, ob Vorstandsvergütungen angemessen sind oder bei Entscheidungen eines Unternehmensvorgangs Sorgfaltspflichtverletzungen vorlagen, die eine Haftungsfrage nach sich ziehen.
Mehr Wissenschaft braucht der Jurist
Dass an den juristischen Fakultäten in Deutschland eine Vermittlung sozialwissenschaftlicher Methoden eher nicht stattfindet, darf auch Hamann voraussetzen. Besserung, in Gestalt eines Grundkurses in Statistik & Co. kann seine Dissertation natürlich nicht leisten.
Andere Abhilfe tut Not. Hamanns Übersicht zu Methodenlehrbüchern, mit denen sich interessierte Juristinnen und Juristen auf die helle Seite der Empirie schlagen könnten, bleibt leider kurz – es findet sich nicht viel.
Die Bereitstellung entsprechenden Lehrmaterials in nicht allzu ferner Zukunft sollte dank "blended learnings" aber doch eigentlich kein Hexenwerk sein: Ob es nun die linguististische Kritik von naiven Wortlautideen, die Grundlagen der sozialwissenschaftlichen Feldforschung, Übungen zur richtigen Einschätzung von statistischen Erhebungen sind – für ein gutes juristisches Urteilsvermögen gilt es, sich dies und mehr "draufzuschaffen".
Eine mögliche Alternative wurde eingangs als Scherz angedeutet: Übt sich ein handlungsorientiertes wissenschaftliches Fach – sei es die Medizin, sei es die Jurisprudenz – nicht aktiv in wissenschaftlicher Methodik jenseits ihrer Hausmacherdogmatik, kann sie an ihren Rändern mehr oder weniger stark esoterisch ausfransen.
Scheidungsgebeutelten Mandanten ist beispielsweise zu wünschen, dass sich Rechtsanwälte auch in Zukunft eher um die empirische Seite des Vorgangs kümmern, z.B. im Richterhirn angelegte wertorientierte Vorurteilsstrukturen zum Kindeswohl statistisch aufklären, als Liebeszauber zu verkaufen.
Besprochenes Werk: Hanjo Hamann: Evidenzbasierte Jurisprudenz, Methoden empirischer Forschung und ihr Erkenntniswert für das Recht am Beispiel des Gesellschaftsrechts, 2014. XXI, 393 Seiten, ISBN 978-3-16-153322-8, 89 Euro.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Die Wissenschaft im Recht: Evidenz ist kein Hexenwerk . In: Legal Tribune Online, 01.02.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14531/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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