Am Montag stellt Thomas de Maizière die Polizeiliche Kriminalstatistik vor. Die lädt schon in Friedenszeiten zu Spekulationen ein. Auf das statistisch heikle Terrain von Krieg und Umbruch wagten sich nun australische Forscher.
Am 15. April 1945, die idyllische Kleinstadt Lauf in Baden war soeben von US-Truppen eingenommen worden, unternahm es der einfache Soldat Blake W. Mariano aus New Mexico, 29 Jahre alt, geschieden, Vater von drei Kindern, den Sieg zu feiern. In der Weinbaugemeinde Lauf fanden sich entsprechende Vorräte. Alkoholisiert terrorisierte Mariano im Anschluss 17 Menschen, die in einem Luftschutzraum Zuflucht gesucht hatten. Zusammen mit einem Kameraden vergewaltigte er eine 21-jährige Frau. Die gleiche Absicht verfolgte er mit einer 41-Jährigen. Als er feststellte, dass sie menstruierte, schoss er sie an. Sie quälte sich bis in den nächsten Morgen in den Tod.
Mariano wurde am 8. Mai 1945 von der US-Militärpolizei inhaftiert. Das Militärgericht verurteilte ihn trotz der Erkenntnis, einen "hochgradig Schwachsinnigen" vor sich zu haben, wegen Mordes und Vergewaltigung zur Höchststrafe. Am 10. Oktober 1945 wurde der Soldat Mariano am Galgen hingerichtet.
Als die Soldaten kamen
Für sich genommen war der Fall Mariano kaum mehr als eine Militärstrafsache unter vielen. Vom Verbrechen des Völkermords abgesehen dürfte es aber kaum einen Komplex krimineller Handlungen geben, der mehr zur geschichtspolitischen Interpretation einlädt als die Sexualstraftaten zu Zeiten von Krieg und Besatzungsmacht. Dies gilt insbesondere für den zu Ende gehenden Zweiten Weltkrieg und die ersten Nachkriegsjahre.
Es steht viel moralisches Kapital auf dem Spiel. Britische Weltkriegsveteranen finden beispielsweise heutzutage besonderes Gehör, wenn sie sich gegen den Austritt des Königreichs aus der Europäischen Union aussprechen. Ihr Einsatz vor über 70 Jahren gibt ihrem Urteil Gewicht.
Im Rückblick auf die Kriegsbeteiligung der USA in Korea und vor allem in Vietnam gilt die Beteiligung westalliierter Truppen am Waffengang des Zweiten Weltkriegs als sauber. Von einer "Great Generation" wird gesprochen, aufgewachsen in Zeiten der Weltwirtschaftskrise nach 1929 und von Franklin D. Roosevelts New Deal, siegreich gegen Deutschland und Japan. Es sind Menschen, die später ein optimistisches Bilderbuchamerika aufbauten, in das sich mancher Trump-Wähler zurückträumt.
Nachdem im Jahr 2015 die Konstanzer Historikerin Miriam Gebhardt mit ihrem Buch "Als die Soldaten kamen" sich an kriminalstatistischen Angaben zur Dimension der Vergewaltigungsdelikte durch die alliierten Truppen versuchte, gerieten ihre Folgerungen fast zwangsläufig in eine Diskussion darüber, ob die deutschen Opfer fremder Soldaten thematisiert werden könnten, ohne "unsere Schuld" zu relativieren.
Was im Idealfall Kinder und Enkel gelernt haben, nämlich einfach zuzuhören und sich des moralischen und geschichtspolitischen Urteils zu enthalten, ist leider keine Kunst, die etwa durch das miefige Talkshow-Fernsehen vermittelt würde.
Australier evaluieren Amerikaner in Europa
Besser lesen, was die anderen schreiben. In der aktuellen Ausgabe des "Journal of Interdisciplinary History" (2016, Seiten 53–84), einem Blatt, das im Hausverlag des Massachusetts Institute of Technology herausgebracht wird, findet sich der Aufsatz "Crimes Committed by U.S. Soldiers in Europe, 1945–1946", verfasst von zwei australischen Forschern: Thomas J. Kehoe firmiert als "Learning Designer" und Historiker, E. James Kehoe ist Psychologieprofessor mit einem Arbeitsschwerpunkt auf dem Gebiet der Militärpsychologie. Wissenschaftler, keine "engagierten Wissenschaftler".
Die jeweils aktuelle Polizeiliche Kriminalstatistik ist bereits anfällig für den sicherheitspolitischen Spekulationsbetrieb. Die Herren Kehoe bewegen sich auf dem kaum minder heiklen Feld der historischen Statistik.
Besagte Miriam Gebhardt schätzte 2015, dass US-Soldaten zwischen 1945 und 1955 in Deutschland sich in rund 190.000 Fällen der Vergewaltigung schuldig gemacht hätten. Ihr Rechenweg wurde angegriffen, beruhte er doch unter anderem auf der Zahl nichtehelicher Geburten mit mutmaßlichem Erzeuger aus den Reihen des US-Militärs. Für den Bereich der Roten Armee und das Jahr 1945/1946 werden zumeist Zahlen zwischen einer und zwei Millionen Vergewaltigungen genannt, aber Aufrechnerei sei dem überlassen, der sie nötig hat.
2/2: Dunkelfeldspekulation in dunklen Zeiten
Kehoe und Kehoe ziehen unter anderem Akten des Judge Advocate General (JAG) für den europäischen Kriegsschauplatz heran, die zwischen den Ländern, die von den US-Truppen befreit oder besetzt wurden, nur bedingt unterscheiden helfen.
733 US-Soldaten stellte der JAG im Jahr 1945 wegen Vergewaltigung in Frankreich und Deutschland unter Anklage, weitere 400 bis 1.000 könnten ebenfalls wegen sexueller Übergriffe Gegenstand militärischer Strafverfolgung geworden sein. Die Unklarheit beruht unter anderem darauf, dass der Tatbestand nicht selten in euphemistischen Worten festgehalten wurde. Die ungleich tödlichere deutsche Militärjustiz der Jahre vor 1946 subsumierte vergleichbar unter dem Begriff der unterlassenen "Manneszucht" Delikte von der Desertion bis zur Vergewaltigung. Kriegsgerichte sind schreibfaul, bereits worum es ging, muss der Historiker daher oft durch Interpretation erschließen.
Einige Forscher wenden nun die Hypothese des britischen Kriminologen Leon Radzinowicz an, wonach grob geschätzt nur 5 Prozent aller Vergewaltigungsopfer die Tat anzeigen. Daraus folgt, für Frankreich und Deutschland, im Zeitraum Januar bis September 1945 eine Zahl von 14.660 Fällen.
Die einen rechnen mit der Radzinowicz-Hypothese zur Dunkelziffer die Zahlen aus den Akten schreibfauler Militärrichter aus dokumentierten Verfahren hoch, die in Zeiten höchst fragwürdiger Anzeigebereitschaft zustande kamen, die Konstanzer Historikerin Gebhardt legte dagegen jene 1.870 zwischen 1945 und 1955 nachweislich von US-Soldaten durch Vergewaltigung gezeugten Kinder zugrunde, um auf annähernd 190.000 Vergewaltigungsfälle zu schließen.
Ende der Kampfhandlungen, Anstieg der Kriminalität?
Angreifbar sind diese statistischen Übungen sicher noch mehr als die alljährliche mediale Nachbereitung der Polizeilichen Kriminalstatistik, die stets aufs Neue "ganz Deutschland", vom Polizeigewerkschaftspressesprecher bis zum Boulevardjournalisten, vor Kriminalitätsfurcht erbeben lässt.
Kehoe und Kehoe leisten ein wenig mehr, indem sie die seitens des JAG dokumentierten Ermittlungsverfahren gegen Angehörige des US-Militärpersonals auf dem europäischen Kriegsschauplatz nach Art und Frequenz erfassen, nicht allein die geschichtspolitisch hoch sensiblen Sexualdelikte, sondern unter anderem auch Tötungs- sowie erhebliche Vermögens- und Körperverletzungsdelikte.
Daraus resultieren Zahlen, die sich nur schwer in ein holzschnittartiges Bild einfügen lassen, das man sich von einer Zeit akuter, dann vorübergehender und schließlich beendeter militärischer Gewalt machen mag. Auf 10.000 Militärangehörige kamen, so Kehoe und Kehoe, beispielsweise im August 1945 nur 0,12 Anzeigen wegen Tötungsdelikten, im Juni 1946, ein Jahr nach Kriegsende in Europa, 1,28. Bei den Vergewaltigungsanzeigen lagen die Zahlen bei 0,13 je 10.000 Militärangehörige im August 1945, während im Juni 1946 mit 1,65 für den Berichtszeitraum der Spitzenwert erreicht ist. Die Verurteilungszahlen laufen dem entsprechend nach.
Mehr junge Männer - oder mehr Anzeigen?
Dafür, dass Monate nach Abflauen der Kampfhandlungen die dokumentierte Kriminalität unter den Militärangehörigen stieg, lassen sich viele Gründe anführen. Disziplinierte Truppen wurden verlegt, um an den Kämpfen gegen das japanische Imperium teilzunehmen, weniger erfahrene und frisch rekrutierte Soldaten blieben vor Ort. Damit spielte jener Faktor hinein, mit dem man heute niemandem kommen darf, der sich aus Prinzip vor Ausländerkriminalität ängstigen will: der erhöhte Anteil junger Männer an der Grundgesamtheit potenzieller Täterinnen und Täter.
Hinzu kam auch noch ein relativ offenes Ohr der amerikanischen Militärverwaltung. Kehoe und Kehoe geben an, dass sich beispielsweise der Militärkommandant im bayerischen Dillingen genötigt sah, einen seiner Offiziere in Vollzeit damit zu beschäftigen, die Beschwerden der einheimischen Bevölkerung aufzunehmen.
Derlei zählte im nationalsozialistischen Staat, gelinde gesagt, eher nicht zur Justizpraxis bei Strafanzeigen gegen Hoheitsträger. Auch im besetzten Europa ist der deutsche Kriegsgerichtsrat oder Gestapo-Ermittler kaum als Ombudsman für Bürgerbeschwerden bekannt geworden.
Hartes Urteil aus nüchterner Statistik
Auch wenn sich die beiden australischen Forscher Kehoe und Kehoe gegen den geschichtspolitischen Gebrauch ihrer kriminalstatistischen Arbeit abgrenzen, halten sie es doch für ausgemacht, dass die Zahlen eine radikale Neubewertung des allzu günstigen Bildes vom Befreier und "erleuchteten Eroberer" vorantreiben.
Befreier seien die US-Truppen in der Mehrheit wohl gewesen, aber eben auch junge Männer, deren Glaube daran, zur Besitzergreifung – in materieller wie sexueller Hinsicht – ermächtigt zu sein, ihren Vorgesetzten Sorgen bereitete.
Generell gilt: Wer traumatisierten Menschen sein Gehör schenkt, sollte sich keinen Richterspruch anmaßen. Den überlebenden Geschädigten, heute betagten und hochbetagten Menschen, ist mit geschichtspolitischer oder moralischer Gewichtung nicht gedient. Mehr als etwas Empathie ist ihnen kaum mehr zu leisten.
Hinweis: Thomas J. Kehoe und E. James Kehoe: "Crimes Committed by U.S. Soldiers in Europe, 1945–1946", in: Journal of Interdisciplinary History 46:1 (2016), Seiten 53–84, doi:10.1162/JINH_a_00941
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Sexualstraftaten im Nachkriegs-Europa: Kriminalstatistik mit später Wirkungsmacht . In: Legal Tribune Online, 22.05.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19432/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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