Vor drei Jahren führten die akademischen Machenschaften eines bayerischen Ex-Politikers dazu, dass der Ruf geistes- und gesellschaftswissenschaftlicher Doktorarbeiten Schaden nahm. Seither stellen wir von Zeit zu Zeit neue juristische Doktorarbeiten vor. Nicht mit dem Anspruch einer Bestenauslese oder der Repräsentativität – aber hoffentlich ein wenig unterhaltsam. Von Martin Rath.
Ganz unbefangen liest sich eine rechtswissenschaftliche Doktorarbeit zu einer ehemaligen deutschen Kolonie in Übersee unter den heutigen Zeitumständen nicht, kommen obskure alte Rechte auf einst eigenes, nun fremdes Land gegenwärtig doch wieder in Mode.
Indes findet sich in Martin Cai Hermann Lockerts Münsteraner Dissertation "Entwicklung und Kontinuität des namibischen Rechtssystems von der deutschen Kolonialzeit bis zur Unabhängigkeit Namibias am Beispiel des Bergrechts" exakt das, was die etwas barocke Girlande des Titels verspricht – also weder "Südwest"-Nostalgie noch Selbstanklage wegen der Massentötungen im Verlauf des Herero/Nama-Aufstands zwischen 1904 und 1908.
Reste deutschen Rechts in "Deutsch-Südwest"
Lockert zeichnet in der ersten Hälfte seiner Studie der Rechtsgeschichte Namibias das in der deutschen Kolonialzeit (zwischen den 1880er-Jahren und 1915/1919) durch Protektoratsverträge bzw. kaiserliche Herrschaftsergreifung in "Deutsch Südwest-Afrika" etablierte Recht nach. Später wurde es durch südafrikanisches bzw. niederländisch-römisches, durch Common Law und neuerdings durch das Recht der Republik Namibia überschrieben.
War die spätere Rohstoffregion zunächst nur als Quelle für getrockneten Vogelmist, Guano, von Interesse, fanden sich dort schon "zur deutschen Zeit" Kupfer, Gold und vor allem Edelsteine: rund ein Fünftel der Weltförderung an Diamanten war zeitweise in deutschen Händen bzw. jenen ihrer namibischen Arbeiter.
Infolge der wirtschaftlichen Unfähigkeit der halbstaatlichen deutschen Kolonialgesellschaft, indirekte Herrschaft effektiv auszuüben, übernahm das Reich die volle Kontrolle. Und damit fanden seit den 1890er-Jahren unter anderem wesentliche Teile des preußischen Bergbaurechts ihren Weg nach Afrika und in die übrigen Kolonien – rund 100 Jahre bevor 1980 die Bundesrepublik zu einem einheitlichen Bergrecht kam. Übrig geblieben ist davon in Namibia bis heute das Bergregal, also der Anspruch des Souveräns auf die Bodenschätze, der sich vom sonst weit verbreiteten angelsächsischen System des Grundeigentümerrechts an den einschlägigen Substanzen unterscheidet.
Rechtsverhältnisse im virtuellen Luftschloss
Vom deutschen Recht ist dort also verhältnismäßig wenig geblieben. Nicht nur aufgrund des Wandels der Herrschaftsformen scheint das angemessen. Schon zu Zeiten ihres Bestehens hatten die deutschen Kolonien ihren Platz eher in der fantastischen Literatur als in einer interessengeleiteten Realpolitik. Es ist schwer zu sagen, worin sich des Kaisers Panzerkreuzer und Überseegebiete von den Raumschiffen und Planeten heutiger Science Fiction unterscheiden. Dem Recht, das mit diesem Phantasiereich weitgehend verschwand, braucht man nicht nachzutrauern. Doch zeigt es, dass auch eine überreizte Phantasie nicht zu unterschätzen ist, hat sie doch normative Konsequenzen – wenn vielleicht auch nur noch als rudimentäres Bergrecht in Afrika.
Als Beleg dafür, dass sogar die Welt der digitalen Chimären der ordnenden Hand eines deutschen Juristen zugänglich ist, lässt sich Jan Felix Deins Hamburger Dissertation "Die Repräsentation in Onlinewelten" lesen, die sich der "Rechte der Teilnehmer an ihren Charakteren im Kontext virtueller Umgebungen" annimmt. Angesprochen ist also im Wesentlichen das Recht der Avatare. Die Dissertation umfasst eine umfangreiche Bestandsaufnahme des positiven Rechts de lege lata auf der Grundlage gegenwärtiger Technik und zeigt die engen Grenzen "welteninterner", also innerhalb einer virtuellen Welt erfolgter Konfliktregelungen auf.
Wer noch in Zeiten erzogen wurde, als das Telefonat 23 Pfennig kostete und sich die Mannschaft des Raumschiffs Enterprise mit ihren längst nicht "Handy" genannten Mobiltelefonen nie über die Frage austauschte: "Was machstu grade?", wird es vielleicht etwas befremdlich finden, die Rechtsverhältnisse klären zu wollen, unter denen die virtuellen Stellvertreter in Online-Rollenspielen agieren.
Die Weltbevölkerung soll bis zum Jahr 2050 aber auf rund zehn Milliarden Menschen wachsen, die Urbanisierung wird wohl auch ohnedies deutlich zunehmen. Zudem wächst die Rechner-Leistung weiter und es eröffnen sich mit 3D-Brillen immer neue Möglichkeiten, Schnittmengen zwischen der realen Welt und den virtuellen Welten zu bilden. Es ist schwer zu glauben, dass darüber nicht die Neigung zunehmen soll, den begrenzten realen Raum um virtuelle Räume zu erweitern – sei es zur Weltflucht in Fantasy-Umgebungen, sei es zum Einkauf in luftschlössrigen Warenhäusern. Noch schwerer zu glauben wäre es, wollten nicht Juristinnen und Juristen de lege ferenda dabei ein Wörtchen mitreden.
2/2: Beinah schmerzhafte Bodenständigkeit
Darauf, dass die reale Welt – unabhängig von der Zahl ihrer Insassen – eine sozial ziemlich enge und engstirnige Veranstaltung sein kann, zurück ins Bodenständige also, führt Maike-Franziska van Haags Bonner Dissertation "Recht in der Hausväterliteratur".
Bei der "Hausväterliteratur" handelte es sich um eine – in relevanter Größe – mit dem Buchdruck aufkommende und bis ins 18. Jahrhundert populäre Literaturform, Vorfahrin der heutigen Ratgebergattung. Über die Bewirtschaftung des Haushalts, des Gartens und der Landwirtschaft, über Fragen der Viehzucht und des Ehelebens bis zu rechtlichen und theologischen Erkenntnissen war alles enthalten, was der "Hausvater", der adelige oder bürgerliche Mann, Herr des Hauses, für sein Regiment über Haus und Hof, Ehefrau und Kinder sowie über sein Gesinde benötigte.
Van Haag dokumentiert, dass namentlich die protestantischen Juristen in einem der bedeutenden Werke dieser Gattung, dem "Oeconomus Prudens und Legalis" von Franz Philipp Florin (1649-1699), einem Pfarrer, Bibliothekar und Landwirt, zu Wort kamen. Das Erkenntnisziel war klar. Keine Ahnung vom Recht zu haben, bedeute "sich selbst / und wohl andere mit sich / in verdrüßliche Unrichtigkeit und Schäden füren / oder sich bey jedweder geringen Sach eines Advocaten mit Unkosten bedienen / und sich von demselben gleichsam mit verbundenen Augen führen" lassen zu müssen.
Neben solch zeitlosen Erkenntnissen liefert der "Oeconomus" – seine protestantischen Quellen waren damals eher noch ein bisschen frauenfeindlicher als die katholische Lebenswelt – Hinweise darauf, dass namentlich der evangelische "Hausvater" als Stellvertreter des Bischofs Herr über die weiblichen Insassen seines Haushalts für deren Keuschheit und Frömmigkeit zu sorgen habe. Kurz: Wir finden hier bereits die rigide bürgerlich-patriarchale Welt, die im 19. Jahrhundert auf Höchstform kam, wie in einer Nussschale gefangen.
Historisches, um die Gegenwart zu relativieren
Eine solche Lektüre – die Quelle von Van Haags Dissertation lässt sich online lesen – kann gut dazu dienen, manche rechtspolitische Verstiegenheit in der Gegenwart zu relativieren: Genügt es etwa nicht, dass unsere Gesellschaft die engstirnigen Geschlechterverhältnisse hinter sich lässt, die das protestantische Pfarrhaus einst über sie gebracht hatte? Birgt die Straßenverkehrs-Ordnung in "geschlechtersensibler Sprache" irgendeinen sozialen Fortschritt?
Der "Oeconomicus" lieferte, wie erwähnt, seinen Lesern nicht allein Rechtskenntnis, sondern auch das Einmaleins des Gartenbaus. Inzwischen ist der Einsatz von Gärten als Illustration von Herrschaftskultur in Frauenhand – keine Geringere als die Gattin des US-Präsidenten zeigt mit öffentlicher Gartenpflege, dass man sich um die heimische Wirtschaft kümmern könnte.
Der Gartenbau als Gegenstand der allgemeinen Staatslehre vom Schlossgarten von Versailles zum Kräutergarten der Obamas. Vielleicht wäre das auch einmal ein schönes Thema für eine juristische Doktorarbeit.
Literatur:
Jan Felix Dein: "Die Repräsentation in Onlinewelten." Die Rechte der Teilnehmer an ihren Charakteren im Kontext virtueller Umgebungen., Baden-Baden 2014, Nomos, 349 Seiten, 92 Euro (auch als eBook existent). Diss. Universität Hamburg (29.01.2014), Professores Dr. Wolfgang Schulz & Dr. Hans-Heinrich-Trute.
Martin Cai Hermann Lockert: "Entwicklung und Kontinuität des namibischen Rechtssystems von der deutschen Kolonialzeit bis zur Unabhängigkeit Namibias am Beispiel des Bergrechts". Verlag Peter Lang 2013, 260 Seiten, 61,95 Euro (auch als eBook erhältlich). Diss. Universität Münster in Westfalen (19.08.2013), Professores Dr. Thomas Lundmark & Dr. Wolfram Timm.
Maike-Franziska van Haag: "Recht in der Hausväterliteratur". Der ‚Oeconomicus Prudens et Legalis‘ von Franz Philipp Florin im Kontext seiner Zeit. Münster in Westfalen 2014, LIT-Verlag. 207 Seiten, 34,90 Euro (eBook 29,90 Euro). Diss Universität Bonn (12.12.2013), Professores Dr. Mathias Schmoeckel & Dr. David von Mayenburg.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Juristische Dissertationen aus deutschen Landen: Das Recht der Avatare und der Hausväter . In: Legal Tribune Online, 14.09.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13173/ (abgerufen am: 03.05.2024 )
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