Vier Jahre nach dem Tod der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig vermischt ein fiktionaler Film ihr Leben mit ihrem eigenen Buch. Ihr Neuköllner Modell, junge Straftäter nach der Tat schneller zu verurteilen, kommt darin zu kurz. Der Streifen macht "Richterin Gnadenlos" zur Heldin in einer Welt voller Klischees, statt ihr Werk zu zeigen, meint Pia Lorenz. Zumal das längst nicht vollendet ist.
"Ich hätte schon viel früher viel strenger zu Dir sein sollen". Das verzweifelte Punk-Mädchen Bille springt kurz nach Beginn des Films aus dem Fenster, nachdem Jugendrichterin Corinna Kleist, gespielt von Martina Gedeck, sie zum wiederholten Male verurteilt hat. Dennoch will die Berlinerin, zuständig für den Bezirk Neukölln, auch nach ihrem Burnout nicht befördert werden, sondern Jugendrichterin bleiben. "Da kann man wenigstens noch etwas verändern". Am Ende ändert sie wenig, sondern sie stirbt, nur wenige Jahre nach dieser Aussage.
Wie die reale Person, an welche die Film-Richterin sich anlehnt, stirbt Corinna Kleist im Wald. Im Juni 2010 soll Kirsten Heisig, Mutter von zwei Töchtern, Jugendrichterin in Berlin und Buchautorin, sich das Leben genommen haben. Trotz der von den Ermittlungsbehörden verhängten, vom OVG Berlin im Nachhinein für rechtswidrig erklärten Nachrichtensperre nach ihrem Tod kommen nie ernsthafte Zweifel daran auf, dass dies die eigene Entscheidung einer seit Jahren an Depressionen erkrankten Frau war.
Im Film klingt das anders. "Sie ist einfach in den Wald gegangen", sagt gleich zu Beginn die Stimme aus dem Off, die sich später als die des Richterkollegen Wachoviak herausstellt. Und das, obwohl Kleist wie auch Fußballfan Kirsten Heisig vor ihrem Tod noch ein erfolgreiches Fußballspiel der deutschen Nationalelf gesehen habe. "Ich kann das immer noch nicht glauben". Im Verlauf des Films wird Richterin Kleist mehrfach bedroht, an seinem Ende wird die Frage einer Journalistin, ob sie umgebracht worden sei, nur ausweichend beantwortet.
Kirsten Heisigs Weggefährte Andreas Müller, von den Medien gern als der härteste Richter Deutschlands bezeichnet, zeigte sich gegenüber welt.de ärgerlich über diese Darstellung: "Diejenigen, die sie kannten, wussten: Es ist gut möglich, dass sich Kirsten einmal etwas antut."
Von Heldin bis Kiez-Bulle: Die Klischees sind schnell ausgespielt
In ihrem 2010 erschienenen Buch "Das Ende der Geduld", der Grundlage für den gleichnamigen Film, forderte Kirsten Heisig ein härteres Durchgreifen insbesondere gegen jugendliche Intensivtäter. Zuständig für den Berliner Bezirk Neukölln, traf sie vor allem auf Straftäter mit Migrationshintergrund.
"Sie brauchen kein Geld, Sie brauchen einen Deutschkurs", sagt Film-Richterin Kleist zu einer türkischen Mutter, die ihren Vortrag besucht hat, bei dem sie Migrantinnen anfleht, Einfluss auf ihre Söhne zu nehmen. Im Film "Das Ende der Geduld" tragen die Mütter der jugendlichen Straftäter Kopftuch, ihre Väter sind arbeits-, die Kids selbst respektlos. Der Polizeibeamte fordert, die Strafmündigkeit auf 12 Jahre herab zu setzen. Er ist ein guter Kerl. Einer, dem die Jugendlichen am Herzen liegen. Aber er weiß, wovon er spricht. Der Kiez hat ihn zu dem gemacht, was er heute ist.
Recht schnell sind die meisten Klischees ausgespielt. "Die lachen über uns, und das zu Recht", sagt Film-Richterin Kleist über die jugendlichen Gewalttäter, die sie täglich verurteilt. Martina Gedeck, phänotypisch der verstorbenen Kirsten Heisig nicht unähnlich, spielt eine Überzeugungstäterin. Kleist ist engagiert, konsequent und ungeduldig.
Der Streifen bemüht sich, die ebenso vereinfachte wie verzerrte öffentliche Wahrnehmung ihrer realen Vorlage Kirsten Heisig als "Richterin Gnadenlos" gerade zu rücken. Der Versuch bleibt holzschnittartig. Regisseur Christian Wagner wie auch Darstellerin Martina Gedeck überziehen in dem Bestreben, eine Richterin zu zeigen, die nach Mitteln sucht, kriminelle Karrieren im Interesse der potenziellen Täter zu verhindern. Wer mehr Facetten sehen will als die harte, aber gerechte Kämpferin für die gute Sache, wird enttäuscht. Kleist/Heisig mag für eine Identifikationsfigur zu speziell sein. Zur Heldin macht der Film sie allemal.
Richterkollege Herbert Wachoviak, dargestellt von Jörg Hartmann, geht anders mit den Dingen um. Interessiert, aber distanzierter, stellt er den Liberalen dar, nimmt die Täterperspektive ein, man lässt ihn gar davon sprechen, was die Straftäter zu dem macht, was sie werden. Er hat zunächst Bedenken gegen die Hardlinerin, fürchtet um den liberalen Ruf des Amtsgerichts Tiergarten. Er ist der Verständnisvolle.
2/2: "Das sind noch Kinder": Die Geburt des Neuköllner Modells
Einig sind die beiden sich darüber, kürzere Verfahren für die straffällig werdenden Kids zu wollen. Das sogenannte Neuköllner Modell ist geboren, das in Berlin bis heute praktiziert und in andere Bundesländer übernommen wird. Film-Richter Kleist und Wachoviak wollen eine schnelle richterliche Reaktion auf das Verhalten der Jugendlichen, einen unmittelbaren Zusammenhang herstellen zwischen Tat und Strafe – "das sind noch Kinder, das dürfen wir nicht vergessen", sagt Kleist zu den wenigen Müttern mit Kopftuch, die ihr zuhören wollen.
Brutale Kinder. Die rauben, im großen Stil mit Drogen dealen, keine Gnade kennen. So wie der 21-jährige Naziq, Intensivtäter und Kiezgröße, der die Vormachtstellung seines Clans ausbauen will. Seinen noch nicht ganz 14-jährigen – und damit fast strafmündigen - Bruder Rafiq versucht Film-Richterin Kleist zu retten vor einer Karriere, welche vorgezeichnet scheint. Ein unmittelbares Vorbild für Rafiq hat es wohl in Heisigs Leben nicht gegeben, Stefan Dähnerts Drehbuch lehnt sich an ihre Vorlage "Das Ende der Geduld" nur an.
Wie auch Regisseur Christian Wagner bemüht Dähnert sich, mehr als eine Dimension zu zeigen. Nach Ansicht von Stefan Kuperion, Freund von Kirsten Heisig und als Mitinitiator des Neuköllner Modells wohl Vorbild für Film-Richter Wachoviak, gelingt das den Filmemachern. "Das Ende der Geduld zeigt sehr respektvoll die Arbeit einer Jugendrichterin, die sich nicht mit den gegebenen, zum Teil seit vielen Jahrzehnten statischen Umständen der Jugendgerichtsbarkeit abfinden, sondern im Rahmen ihrer Möglichkeiten etwas bewegen und verändern will".
Schneller strafen, besser vernetzen: "Schwieriger umzusetzen als anfänglich gedacht"
Was aber hat sich verändert seit Heisigs Tod? Kuperion, an dessen Verhandlungen am Amtsgericht Tiergarten die Hauptdarsteller Martina Gedeck und Jörg Hartmann zur Vorbereitung auf ihre Rollen viele Stunden lang teilnahmen, räumt ein, dass das von Praktikern entwickelte Neuköllner Modell schwieriger umzusetzen sei als anfänglich gedacht. Er betont aber, dass Jugendgerichtshilfe, Polizei, Staatsanwaltschaft und Jugendgericht weiterhin mit viel Engagement daran arbeiteten, "es zu einem festen Baustein der Bekämpfung der Jugendkriminalität in einem frühen Stadium werden zu lassen". Auch die stärkere Vernetzung der Jugendarbeiter, Behörden und Gerichte, die Heisig sehr am Herzen lag, sei noch "deutlich ausbaufähig".
Oberstaatsanwalt Rudolf Hausmann beurteilt das Berliner Intensivtäterkonzept positiver. Seit Jahren gebe es keine Serien von mehreren dutzend Raubtaten mehr in Berlin, hebt der Leiter der Intensivtäter-Abteilung der Berliner Staatsanwaltschaft hervor. "Derartigen 'Karrieren' hat das gemeinsame Intensivtäterkonzept systematisch und gewollt den Weg verstellt, bevor sie sich entsprechend entwickeln können."
Seit ihrer Gründung im Jahr 2003 habe die zuständige Spezialabteilung der Staatsanwaltschaft Berlin 492 Personen von der Liste der Intensivtäter streichen können, weil diese "nach Abkehr von Gewalttaten nicht mehr die Kriterien als Intensivtäter erfüllt haben".
Berlins Beschleunigung: 57 Tage zwischen Anzeige und Hauptverhandlung
Auch Berlins Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) sagte im September dieses Jahres, das Neuköllner Modell sei "ein kluges Instrument, das wir noch besser machen können". Vielleicht hieße besser schon, das Verfahren häufiger anzuwenden. Laut einer im Auftrag der Berliner Justizverwaltung durchgeführten Studie wurden im Jahr 2013 246 Jugendliche nach dem Neuköllner Modell verurteilt, nur etwa ein Prozent der Gesamtzahl jugendlicher Tatverdächtiger. Die meisten Neuköllner-Modell-Urteile fielen im Gründungsjahr 2010 mit 372 Verurteilungen, allerdings gab es damals auch die meisten Tatverdächtigen.
Oberstaatsanwalt Hausmann verbucht sinkende Täterzahlen als einen Erfolg der Behörden. Aktuell würden in Berlin 483 Personen als Intensivtäter in der gemeinsamen Liste von Polizei und Staatsanwaltschaft geführt. 31 Prozent von ihnen hätten einen türkischen, 43 einen arabischen Migrationshintergrund. Hinzu kamen im September noch 77 sogenannte Schwellentäter sowie 308 kiezorientierte Mehrfachtäter.
Belege für die Kausalität zwischen verkürzten Verfahren und konkret rückläufigen Zahlen in der Hauptstadt gibt es nicht. Auch ein abstrakter Zusammenhang zwischen schnellerer Verurteilung und geringerer Rückfallquote ist nicht nachgewiesen. Getestet hat der Autor der Studie Claudius Ohder, Professor an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht, aber die Bearbeitungsdauer: Von der Anzeige bis zur Hauptverhandlung vergehen statt der durchschnittlichen 131 nur noch 57 Tage. Man habe "eine Beschleunigung erreicht", nannte er das im September.
Ob das reicht, um die Unmittelbarkeit zwischen der kriminellen Handlung und der Strafe zu erreichen, die Richter Andreas Müller gegenüber LTO im Jahr 2013 als "für den erzieherischen Effekt essentiell" bezeichnete? Kirsten Heisig würde es wohl kaum reichen.
Am Schluss reicht auch "Das Ende der Geduld" nicht. Es bleibt das Gefühl, dass das Lebenswerk von Kleist/Heisig zu kurz kam. Ihr Leben oder ihr Werk? Vielleicht meinte der Film, dass Heisigs Leben zu kurz war – auch wenn sie selbst das so wollte. Vielleicht kam in einer farblos bleibenden Idealisierung voller Stereotypen aber auch einfach ihr Werk zu kurz.
Pia Lorenz, ARD-Film "Das Ende der Geduld": Ob Kirsten Heisig das gereicht hätte? . In: Legal Tribune Online, 20.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13870/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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