ARD-Film "Das Ende der Geduld": Ob Kirsten Heisig das gereicht hätte?

von Pia Lorenz

20.11.2014

2/2: "Das sind noch Kinder": Die Geburt des Neuköllner Modells

Einig sind die beiden sich darüber, kürzere Verfahren für die straffällig werdenden Kids zu wollen. Das sogenannte Neuköllner Modell ist geboren, das in Berlin bis heute praktiziert und in andere Bundesländer übernommen wird. Film-Richter Kleist und Wachoviak wollen eine schnelle richterliche Reaktion auf das Verhalten der Jugendlichen, einen unmittelbaren Zusammenhang herstellen zwischen Tat und Strafe  – "das sind noch Kinder, das dürfen wir nicht vergessen", sagt Kleist zu den wenigen Müttern mit Kopftuch, die ihr zuhören wollen.

Brutale Kinder. Die rauben, im großen Stil mit Drogen dealen, keine Gnade kennen. So wie der 21-jährige Naziq, Intensivtäter und Kiezgröße, der die Vormachtstellung seines Clans ausbauen will. Seinen noch nicht ganz 14-jährigen – und damit fast strafmündigen - Bruder Rafiq versucht Film-Richterin Kleist zu retten vor einer Karriere, welche vorgezeichnet scheint. Ein unmittelbares Vorbild für Rafiq hat es wohl in Heisigs Leben nicht gegeben, Stefan Dähnerts Drehbuch lehnt sich an ihre Vorlage "Das Ende der Geduld" nur an.

Wie auch Regisseur Christian Wagner bemüht Dähnert sich, mehr als eine Dimension zu zeigen. Nach Ansicht von Stefan Kuperion, Freund von Kirsten Heisig und als Mitinitiator des Neuköllner Modells wohl Vorbild für Film-Richter Wachoviak, gelingt das den Filmemachern. "Das Ende der Geduld zeigt sehr respektvoll die Arbeit einer Jugendrichterin, die sich nicht mit den gegebenen, zum Teil seit vielen Jahrzehnten statischen Umständen der Jugendgerichtsbarkeit abfinden, sondern im Rahmen ihrer Möglichkeiten etwas bewegen und verändern will".

Schneller strafen, besser vernetzen: "Schwieriger umzusetzen als anfänglich gedacht"

Was aber hat sich verändert seit Heisigs Tod? Kuperion, an dessen Verhandlungen am Amtsgericht Tiergarten die Hauptdarsteller Martina Gedeck und Jörg Hartmann zur Vorbereitung auf ihre Rollen viele Stunden lang teilnahmen, räumt ein, dass das von Praktikern entwickelte Neuköllner Modell schwieriger umzusetzen sei als anfänglich gedacht. Er betont aber, dass Jugendgerichtshilfe, Polizei, Staatsanwaltschaft und Jugendgericht weiterhin mit viel Engagement daran arbeiteten, "es zu einem festen Baustein der Bekämpfung der Jugendkriminalität in einem frühen Stadium werden zu lassen". Auch die stärkere Vernetzung der Jugendarbeiter,  Behörden und Gerichte, die Heisig sehr am Herzen lag, sei noch "deutlich ausbaufähig".

Auch Richterkollege Andreas Müller aus Bernau, der drei Jahre nach Heisigs Buch seinerseits das Werk "Schluss mit der Sozialromantik" veröffentlichte,  bedauerte im Jahr 2013 im Gespräch mit LTO, dass das Neuköllner Modell bislang nur spärlich umgesetzt worden sei.

Oberstaatsanwalt Rudolf Hausmann beurteilt das Berliner Intensivtäterkonzept positiver. Seit Jahren gebe es keine Serien von mehreren dutzend Raubtaten mehr in Berlin, hebt der Leiter der Intensivtäter-Abteilung der Berliner Staatsanwaltschaft hervor. "Derartigen 'Karrieren' hat das gemeinsame Intensivtäterkonzept systematisch und gewollt den Weg verstellt, bevor sie sich entsprechend entwickeln können."

Seit ihrer Gründung im Jahr 2003 habe die zuständige Spezialabteilung der Staatsanwaltschaft Berlin 492 Personen von der Liste der Intensivtäter streichen können, weil diese "nach Abkehr von Gewalttaten nicht mehr die Kriterien als Intensivtäter erfüllt haben".

Berlins Beschleunigung: 57 Tage zwischen Anzeige und Hauptverhandlung

Auch Berlins Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) sagte im September dieses Jahres, das Neuköllner Modell sei "ein kluges Instrument, das wir noch besser machen können". Vielleicht hieße besser schon, das Verfahren häufiger anzuwenden. Laut einer im Auftrag der Berliner Justizverwaltung durchgeführten Studie wurden im Jahr 2013 246 Jugendliche nach dem Neuköllner Modell verurteilt, nur etwa ein Prozent der Gesamtzahl jugendlicher Tatverdächtiger. Die meisten Neuköllner-Modell-Urteile fielen im Gründungsjahr 2010 mit 372 Verurteilungen, allerdings gab es damals auch die meisten Tatverdächtigen.

Oberstaatsanwalt Hausmann verbucht sinkende Täterzahlen als einen Erfolg der Behörden. Aktuell würden in Berlin 483 Personen als Intensivtäter in der gemeinsamen Liste von Polizei und Staatsanwaltschaft geführt. 31 Prozent von ihnen hätten einen türkischen, 43 einen arabischen Migrationshintergrund. Hinzu kamen im September noch 77 sogenannte Schwellentäter sowie 308 kiezorientierte Mehrfachtäter.

Belege für die Kausalität zwischen verkürzten Verfahren und konkret rückläufigen Zahlen in der Hauptstadt gibt es nicht. Auch ein abstrakter Zusammenhang zwischen schnellerer Verurteilung und geringerer Rückfallquote ist nicht nachgewiesen. Getestet hat der Autor der Studie Claudius Ohder, Professor an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht, aber die Bearbeitungsdauer: Von der Anzeige bis zur Hauptverhandlung vergehen statt der durchschnittlichen 131 nur noch 57 Tage. Man habe "eine Beschleunigung erreicht", nannte er das im September.

Ob das reicht, um die Unmittelbarkeit zwischen der kriminellen Handlung und der Strafe zu erreichen, die Richter Andreas Müller gegenüber LTO im Jahr 2013 als "für den erzieherischen Effekt essentiell" bezeichnete? Kirsten Heisig würde es wohl kaum reichen.

Am Schluss reicht auch "Das Ende der Geduld" nicht. Es bleibt das Gefühl, dass das Lebenswerk von Kleist/Heisig zu kurz kam. Ihr Leben oder ihr Werk? Vielleicht meinte der Film, dass Heisigs Leben zu kurz war – auch wenn sie selbst das so wollte. Vielleicht kam in einer farblos bleibenden Idealisierung voller Stereotypen aber auch einfach ihr Werk zu kurz.

Zitiervorschlag

Pia Lorenz, ARD-Film "Das Ende der Geduld": . In: Legal Tribune Online, 20.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13870 (abgerufen am: 03.12.2024 )

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