Um ein Urteil zu erwirken hat ein Unternehmen mutmaßlich eine Klage gegen sich fingiert. Außerdem in der Presseschau: Überlastung des BVerfG verhindert die Überlänge von Verfahren, Hoeneß stellt Halbstrafgesuch und ein Nazi-Tattoo im Schwimmbad.
Thema des Tages
EuGH – Scheinverfahren: Die SZ (Thomas Kirchner) berichtet über das Vorabentscheidungsverfahren "Chain gegen Atlanco", das vor dem Europäischen Gerichtshof anhängig war, bis das vorlegende zypriotische Gericht es im Mai zurückzog und die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wurde. Mutmaßlich hat die Leiharbeitsfirma Atlanco mit Hilfe einer Brüsseler Anwaltskanzlei eine Klage des ehemaligen Mitarbeiters Bogdan Chain fingiert, um eine Entscheidung des EuGH über den Ort der Zahlung von Sozialabgaben zu erwirken. Chain hatte tatsächlich Probleme weil Norwegen Sozialabgaben von ihm forderte, die sein Arbeitgeber in Zypern gezahlt hatte. Sein Heimatland Polen verweigerte die Zahlung für Arztbesuche, von einer Klage wusste er jedoch nichts, als ihn Journalisten darauf ansprachen.
Rechtspolitik
Europäischer Grenzschutz: Mit den Plänen der EU-Kommission, einen europäischen Grenzschutz einzurichten, der unter Umständen auch gegen den Willen des betroffenen Mitgliedstaates erfolgen kann, befasst sich der Wissenschaftliche Mitarbeiter Herbert Rosenfeldt auf verfassungsblog.de. Er begrüßt den Verordnungsentwurf hinsichtlich des Rechtsschutzes, kritisiert jedoch die "Vertiefung der hybriden Grenzschutzstruktur, statt (endlich) den Weg eines konsequenten einheitlichen supranationalen Grenzschutzes einzuschlagen".
Cannabisverbot: In seiner Kolumne befasst sich Bundesrichter Thomas Fischer auf zeit.de zur "schönen Zeit des Glühweins und des Champagners" mit dem Cannabisverbot. Legalisierung sei nur eine "Frage der Zeit und der Fantasie und der Vernunft".
Streubesitzbeteiligung: Gewinne aus Veräußerung von Streubesitzbeteiligungen sollen künftig voll der Körperschaft- und Gewerbesteuer unterstellt werden. Dazu schreibt Rechtsanwalt und Steuerberater Christian Hackethal in der FAZ und warnt vor der damit einhergehenden – europarechtlich zulässigen – Inländerdiskriminierung durch die ein "Exodus der Streubesitzbeteiligungen aus Deutschland" drohe.
Krankenhausstrukturgesetz: Rechtsreferendarin Vera Möller befasst sich auf juwiss.de mit dem Krankenhausstrukturgesetz. Ob ein entscheidender Schritt in der Sicherung gleicher Qualitätsstandards geglückt ist, bleibe abzuwarten. Die Lösung über Zu- und Abschläge sei jedenfalls im DRG-System (Diagnosis Related Groups) folgerichtig und die verstärkte Berücksichtigung von Leistungserbringungsqualität bei der Landeskrankenhausplanung drehe an einer wichtigen Stellschraube des Systems.
Justiz
BVerfG zu überlanger Verfahrensdauer: Knappe fünf Jahre Dauer bis zu einem Nichtannahmebeschluss durch das Bundesverfassungsgericht sind nicht unbedingt übermäßig lang, hat das BVerfG entschieden. Die starke Belastung mit besonders bedeutsamen und umfangreichen anderen Verfahren sei bei der Entscheidung zu berücksichtigen, berichtet lto.de. lawblog.de (Udo Vetter) kritisiert das "Bundesverlangsamungsgericht" und merkt an, dass "in ein paar Jahren" vielleicht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte noch etwas zum Recht auf ein zügiges Verfahren aus der Menschenrechtskonvention zu sagen haben könnte.
EuGH zu Informationspflicht zu Chemikalien: Rechtsanwalt Ulrich Ellinghaus schreibt in der FAZ zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom September, die die europäische Chemikalienverordnung "Reach" sehr eng auslegt. Wo zuvor davon ausgegangen wurde es bestehe eine Informationspflicht, wenn eine besorgniserregende Chemikalie ein Tausendstel des Gesamtgewichts eines Produkts ausmache, besteht sie laut EuGH nun schon, wenn dieses Verhältnis bei einem Teil – etwa einer Schraube – besteht. Darin liege eine bedenkenswerte Benachteiligung ausländischer Produkte gegenüber in der EU hergestellten.
BGH zu Intimfotos: Zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Anspruch des Partners auf Löschung von Intimfotos aus vergangenen Beziehungen, schreiben nun auch die FAZ (Helene Bubrowski) und internet-law.de (Thomas Stadler).
OLG Frankfurt zu Ausschluss von Amazon-Verkauf: Das Oberlandesgericht Frankfurt hat entschieden, dass Hersteller ihren Händlern den Vertrieb ihrer Produkte bei Amazon untersagen dürfen. Hersteller hätten ein berechtigtes Interesse an qualitativ hochwertiger Beratung, die bei dieser Art Online-Vertrieb nicht sichergestellt sei. Das meldet die FAZ.
OLG Hamm zu Tanz auf Bierbank: Wer sich zum Tanzen auf einer Bierbank entschließt und dabei stürzt, hat sich selbst einer erkennbaren Gefahr ausgesetzt und daher keinen Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gegen den Veranstalter der Festivität. Das entschied das Oberlandesgericht Hamm im November, wie lto.de berichtet.
OLG München – Gurlitt-Testament: Der vom Oberlandesgericht München bestellte Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass Cornelius Gurlitt nicht an paranoidem Wahn litt, wie es der von Gurlitts Cousine bestellte Sachverständige annahm. Das Gericht wird im Frühjahr entscheiden, melden SZ und FAZ.
LG Frankfurt – Smart-TV: Die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen hat Samsung vor dem Landgericht Frankfurt wegen eines Smart-TV verklagt. Das Gerät verstoße gegen Datenschutzrecht, weil es standardmäßig vertrauliche Daten – etwa IP-Adressen – übertrage, sobald es eingeschaltet werde. Auf diesen ersten Prozess zu einem solchen Gerät macht datenschutzkanzlei.de aufmerksam.
LG München – Deutsche Bank-Prozess: Im Prozess gegen (ehemalige) Manager der Deutschen Bank, wegen mutmaßlichen Prozessbetrugs nach der Kirch-Pleite, hat das Landgericht München Anträge der Staatsanwaltschaft auf Vernehmung von mehr als 20 Zeugen weitgehend abgelehnt, berichtet das HBl (Kerstin Leitel). Die beantragten Zeugenaussagen seien absehbar "zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich", "ohne Bedeutung", oder stünden in "keinerlei Sachzusammenhang" mit der Anklage, gibt die SZ (Stephan Radomski) das Gericht wieder.
LG Augsburg – Halbstrafgesuch Hoeneß: Beim Landgericht Augsburg ist der Antrag von Ulli Hoeneß eingegangen, die zweite Hälfte seiner Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen. Mit einer Entscheidung sei frühestens Mitte Januar zu rechnen, meldet spiegel.de.
AG Oranienburg zu Nazi-Tattoo: Weil er ein Tattoo mit den Umrissen des Vernichtungslagers Birkenau und dem Spruch "Jedem das Seine" im Schwimmbad zeigte, verurteilte das Amtsgericht Oranienburg einen jungen Mann zu sechs Monaten auf Bewährung wegen Volksverhetzung. Ein Journalist hatte das Tattoo im Schwimmbad dokumentiert und einen "Shitstorm" ausgelöst. Dazu schreiben lto.de und FAZ. Der Staatsanwalt forderte zehn Monate ohne Bewährung und beschwerte sich, wie die SZ (Jens Schneider) schreibt, "dass sich offenbar außer dem Zeugen niemand im Schwimmbad an dem Tattoo störte". Auch Christian Bommarius (BerlZ) hofft, dass es einem Bademeister auffalle, sollte der Verurteilte sein Tattoo erneut entblößen.
AG Meldorf – Vormundschaft für Flüchtlinge: Weil die jugendlichen Geflüchteten hin und wieder per Telefon oder Internet Kontakt mit ihren Eltern hatten, hat das Jugendamt vor dem Amtsgericht Meldorf, wie die taz-Nord (Esther Geisslinger) berichtet, in mindestens zwei Fällen die Anträge, einen Vormund zu bestellen, zurückgezogen. Ein Vormund könne bei Kontakt mit den Eltern nicht bestellt werden. Der Bundesverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kritisiert das als rechtswidrig, da die Jugendlichen des Kontakts mit ihren Eltern bedürften, diese ihnen aber in rechtlichen Angelegenheiten aufgrund der Umstände nicht helfen könnten.
AG Bergisch-Gladbach zu Türspion-Kamera: Das Amtsgericht Bergisch-Gladbach verbot einem Mieter, die von ihm angebrachte Kamera im Türspion, weil diese auf einen gemeinsamen Zugangsweg gerichtet sei. Das nimmt die SZ (Wolfgang Janisch) zum Anlass einen Blick auf die Rechtsprechung zu privater Videoüberwachung zu werfen.
Recht in der Welt
Polen – Demokratieabbau: Mit 235 von 420 Stimmen hat das polnische Parlament das Gesetz zur Neuordnung des Verfassungsgerichts verabschiedet. Dazu schreibt spiegel.de.
Organisierte Verfassungsgerichte: Können die "Europäische Konferenz der Verfassungsgerichte" oder die "Weltkonferenz der Verfassungsgerichte" dem polnischen Verfassungsgericht beistehen? lto.de (Christian Rath) kommt zu dem Schluss, dass eine Intervention derzeit unwahrscheinlich ist, weil es beiden Organisationen an gefestigter Identität und Selbstbewusstsein fehle. Sie könne aber helfen, nicht nur dem polnischen Verfassungsgericht sondern auch gegen die Schwächung der Idee einer starken nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit.
Niederlande – Gerichtszuständigkeit bei TNU: Ein Berufungsgericht in Den Haag hat die Zuständigkeit der niederländischen Gerichtsbarkeit für die Klagen von vier nigerianischen Bauern gegen das Unternehmen Shell bestätigt, die auf Säuberung ölverschmutzter Dörfer in ihrem Heimatland klagen. Kläger wie diese müssen nun – jedenfalls bei niederländischen Unternehmen – nicht mehr vor die Gerichtsbarkeit in ihren Heimatländern, sondern können rechtsstaatlich etablierte Gerichte anrufen, meldet die FAZ.
Schiedsgericht – Australien/Philip Morris: Ein Schiedsgericht in Singapur hat entschieden, dass der Tabakkonzern Philip Morris nicht auf Grundlage eines Investitionsschutzabkommens zwischen Hongkong und Australien gegen australische Gesetze vorgehen kann, die den Aufdruck von Warnungen auf Tabakpackungen vorsehen. Die Kontrolle über die Investitionen seien der Niederlassung in Hongkong erst nach Entstehen des Streitfalls übergeben worden und das Verfahren damit rechtsmissbräuchlich. Das Verfahren war als Beispiel für die Gefahren von Investitionsschutzabkommen angeführt worden, schreibt die FAZ (Helene Bubrowski).
Sonstiges
Rabit-Einsatz Frontex: Auf Bitte Griechenlands wird durch Frontex kurz nach Weihnachten der Einsatz eines "Rapid Border Intervention Teams" erfolgen. Zu dem zweiten dieser Einsätze, bei welchen die Teilnahme für Mitgliedstaaten nach einer EU-Verordnung von 2007 verpflichtend ist, schreibt die FAZ (Helene Bubrowski).
Bestpreisklauseln: Die Verpflichtung für Hotels durch booking.com, ihre Zimmer nirgends günstiger anzubieten ist wettbewerbswidrig, entschied das Bundeskartellamt. Ein Vorteil für den Verbraucher bestehe nur auf den ersten Blick, tatsächlich würden schlicht niedrigere Preise unterbunden. Es berichtet die SZ (Caspar Busse).
Wahlprüfung Bremen: Zur Änderung der Sitzverteilung in der Bremer Bürgerschaft durch eine Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts zugunsten der AfD, schreibt nun auch die FAZ (Reinhard Bingener) ausführlich unter dem Titel: "Wenn Wahlrecht auf Wirklichkeit trifft".
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/krü
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 23. Dezember 2015: Scheinverfahren vor EuGH / Überlastung nicht Überlänge / Hoeneß will raus . In: Legal Tribune Online, 23.12.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17958/ (abgerufen am: 02.05.2024 )
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