Ist ein spontaner Arbeitskampf nicht auch legitimer Streik? Außerdem in der Presseschau: EGMR zu Sterbehilfe, nach Unionsrecht wird auch der Mangel selbst vermutet und das Urteil gegen Jörg L. ist rechtskräftig.
Thema des Tages
ArbG Bremen – Streikrecht: Weil Arbeitsplätze in ihrem Werk über Werkverträge ausgegliedert werden sollten, versammelten sich Mercedes-Mitarbeiter während der Arbeitszeit, um darüber zu diskutieren und gingen anschließend nach Hause. Für diesen "wilden Streik" bekamen sie eine Abmahnung, gegen die einige von ihnen nun vor dem Arbeitsgericht Bremen klagen. Während das Gesetz zur Tarifeinheit auf dem Weg ist könnte hier laut Spiegel (Markus Dettmer/Dietmar Hipp) Rechtsgeschichte geschrieben werden, wenn das Gericht der Argumentation der Kläger folgt und die Arbeitsniederlegung als legitimen Streik einer "Ad-hoc-Koalition" anerkennt. Die bisherige deutsche Rechtsprechung steht dagegen, aber aus der Europäischen Sozialcharta könnte sich etwas anderes ergeben, zur Not mithilfe des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
Rechtspolitik
Vorratsdatenspeicherung: offenenetze.de meldet, dass sich der Entwurf zum Gesetz über die Vorratsdatenspeicherung im Notifizierungsverfahren bei der EU-Kommission befindet und informiert über das Verfahren, aufgrund dessen das Gesetz frühestens im September verabschiedet werden dürfe.
Fracking-Kommission verfassungswidrig? Die Samstags-SZ (miba) berichtet über ein ihr vorliegendes Kurzgutachten des Rechtsprofessors Volker Boehme-Neßler. Danach ist die geplante Expertenkommission zur Beurteilung von Fracking-Vorhaben möglicherweise grundgesetzwidrig. Die Kommission erhalte Entscheidungskompetenzen, die dem Parlament zustünden. Die Bundesregierung verweise hingegen darauf, dass keine Bindung an das Kommissionsvotum besteht, meldet auch lto.de.
Homo-Ehe: Die Berliner Zeitung (Christian Bommarius) zeigt auf, dass Veränderungen des rechtlichen Eheverständnisses historisch bereits stattgefunden haben und insofern eine Öffnung für gleichgeschlechtliche Paare nur eine weitere Veränderung wäre. Die Samstags-taz sammelt Leserbriefe zur Debatte.
Gutachter in Familienstreitigkeiten: Nach einem vergangene Woche vom Justizministerium veröffentlichten Gesetzentwurf sollen in familienrechtlichen Verfahren nur noch Gutachter bestimmter Berufsgruppen zugelassen werden. Rechtsprofessoren hatten im vergangenen Jahr in einer Studie erhebliche Gutachtenmängel belegt. Eine nachweislich höhere Qualität bescheinigten die Professoren allein den Gutachten zertifizierter "Rechtspsychologen", welche in dem Gesetzentwurf laut Montags-taz (Christian Rath) allerdings keine Erwähnung finden.
Familienförderung: Die finanzielle Unterstützung der Ehe unabhängig von Kindern durch das Ehegattensplitting greift Jakob Schulz (Samstags-SZ) an. Es sollten nur die entlastet werden, "die mit Kindern die Gesellschaft stärken", etwa durch ein Familiensplitting oder durch hohes, mit weiteren Geschwistern ansteigendes Kindergeld.
Justiz
EGMR zu Sterbehilfe: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am vergangenen Freitag entschieden, dass das französische Recht und seine Umsetzung nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen. Damit darf die künstliche Ernährung des Wachkomapatienten Vincent Lambert eingestellt werden. Dazu schreiben Samstags-SZ (Wolfgang Janisch), Samstags-FAZ (Michaela Wiegel), Samstags-taz (Christian Rath), spiegel.de (Stefan Simons), Tagesspiegel (Jost Müller Neuhof) und lto.de (Anne-Christin Herr).
Vor dem Hintergrund der Entscheidung propagiert Heribert Prantl (Samstags-SZ) die Patientenverfügung als Mittel gegen die Angst vor dem Kontrollverlust. Gerade in einem Fall wie dem von Vincent Lambert hätte die gerichtliche Entscheidung auch anders ausfallen können. Auch Alan Posener (Samstags-Welt) meint, wer keine Patientenverfügung habe gehe "offenen Auges das Risiko ein, dass andere die letzte Entscheidung treffen". Er lobt die Rechtsprechung des EGMR, die die verschiedenen nationalen Standpunkte zur Sterbehilfe respektiere. Auch Reinhard Müller (Samstags-FAZ) macht darauf aufmerksam, dass der EGMR nicht die passive Sterbehilfe in Europa erlaubt, sondern nur festgestellt hat, dass Frankreich mit der Erlaubnis im Fall Lambert die gemeinsamen äußeren Grenzen nicht überschritten hat.
EuGH zu Mangelvermutung beim Verbrauchsgüterkauf: Der Europäische Gerichtshof hat auf eine niederländische Vorlage hin entschieden, dass beim Verbrauchsgüterkauf nicht nur vermutet wird, dass ein vom Käufer zu beweisender Mangel, der sich innerhalb von sechs Monaten nach Übergabe zeigt, bei Übergabe bereits bestand. So hatte schon bisher der Bundesgerichtshof zu § 476 Bürgerliches Gesetzbuch entschieden. Darüber hinaus werde vielmehr schon das Bestehen des Mangels bei Übergabe widerlegbar vermutet, wenn der Käufer nachweise, dass die Kaufsache innerhalb der ersten sechs Monate nicht einwandfrei funktioniert. Dazu schreibt Rechtswissenschaftler Christian Deckenbrock auf lto.de.
EuGH-GenA zu Sozialleistungen für EU-Ausländer: Rechtsprofessor Reimund Schmidt-De Caluwe bespricht auf lto.de die Stellungnahme des EuGH-Generalanwalts zu Sozialleistungen für EU-Ausländer. Er legt dar, warum die Bewertung von "Hartz IV" als Sozialleistung im unionsrechtlichen Sinn keineswegs zwingend ist und welche Fragen sich bei einer abweichenden Einschätzung stellen.
BVerfG zu Altersbeschränkung: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Altersbeschränkung bei Beamten vom 28. Mai bespricht nun die Samstags-FAZ (Joachim Jahn).
OLG München – NSU-Prozess: Der Spiegel (Gisela Friedrichsen) gibt einen Überblick zum Stand des Prozesses mit einem Fokus auf Zschäpes Schweigen. Es mache Zschäpe zu schaffen und ihre Verteidiger seien ausgelaugt. Von einer Aussage Zschäpes sei jedoch kein großer Einfluss auf das Ergebnis zu erwarten.
OVG Hamburg zu Flüchtlingsunterkunft: Das OVG Hamburg hat am vergangenen Montag entschieden, dass die Errichtung eines Flüchtlingsheims in Hamburg-Harvestehude dem Bebauungsplan widerspricht, der hier ein besonders schützenswertes Wohngebiet ausweist. Ein Heim sei als soziale Einrichtung nicht Wohnnutzung im engeren Sinn. Es berichtet die Samstags-taz (Katharina Schipkowski).
LG Darmstadt – Tuğçe -Prozess: Der Spiegel (Julia Jüttner) berichtet von den Zeugenaussagen im Prozess vor dem Landgericht Darmstadt gegen Sanel M. und fragt nach der möglichen (juristischen) Wahrheit in einem Prozess, in dem beide Seiten ihre eigene Wahrheit haben. Auch die WAMS (Hannelore Crolly) bespricht den Zwischenstand im Prozess. Das Urteil soll am 12. Juni ergehen.
Schabowskis Zettel: Das Haus der Geschichte in Bonn hat den Zettel gekauft, auf dem Günter Schabowski am 9. November 1989 nach einer Antwort auf die Frage suchte "ab wann tritt das in Kraft?". Den Zettel hatte Schabowski hinterher einem Bekannten zur Ansicht gegeben und nie zurückerhalten. Schabowskis Familie bezweifelt, dass das Museum gutgläubig war, als es den Zettel für 25.000 Euro kaufte und will klagen, schreibt die Montags-Welt (Stefan Aust/Charlotte Krüger).
LG München I zu Werbeblockern: internet-law (Thomas Stadler) bespricht die nun im Volltext vorliegende Entscheidung des Landgerichts München I, nach der Werbeblocker wie Adblock plus nicht wettbewerbswidrig sind.
Recht in der Welt
USA – Zuständigkeit für Fifa-Ermittlungen: Die Samstags-FAZ (Helene Bubrowski) befasst sich mit der Frage, nach welchen Regeln die US-Ermittlungsbehörden für ihr Vorgehen gegen die Fifa zuständig sein können. Die US-Behörden ziehen den "Racketeer Influenced and Corrupt Organizations Act" heran. Sie müssen aber nach der Rechtsprechung des Supreme Court wohl nachweisen, dass die einzelnen Taten, die das Muster der vermuteten kriminellen Machenschaften der Organisation ausmachen, nach amerikanischem Recht verfolgbar sind – etwa wegen Geldbewegungen über amerikanische Konten.
Frankreich – Sicherheitsgesetz: Der französische Rechtsprofessor Olivier Beaud spricht im Interview mit verfassungsblog.de (Maximilian Steinbeis) über das in Frankreich geplante Sicherheitsgesetz, die richterliche Kontrolle von Gesetzen swie ihrer Umsetzung und die geringe Bedeutung rechtlicher Fragen für die französische Öffentlichkeit.
Belgien – BND/NSA-Affäre: Die belgische Bundesstaatsanwaltschaft hat laut SZ bestätigt, dass ein Ermittlungsverfahren wegen möglicher Straftaten durch Überwachung belgischer Staatsbürger durch den Bundesnachrichtendienst eingeleitet worden ist.
Saudi-Arabien – Raif Badawi: Wie spiegel.de meldet, hat das oberste Gericht Saudi-Arabiens das Urteil gegen den Blogger Raif Badawi bestätigt. Die Montags-taz gibt an, es sei noch nicht klar, ob auch die Strafe von 1000 Peitschenhieben bestehen bleibe. Das Urteil könne nur durch königliche Begnadigung aufgehoben werden.
Juristische Ausbildung
LG Lüneburg – Jörg L.: Er hatte Lösungen für das zweite Staatsexamen gegen Geld oder Sex an Referendare gegeben und war dafür zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Nun hat der ehemalige Richter Jörg L. seine Revision zurückgenommen und das Urteil des Landgerichts Lüneburg ist rechtskräftig, meldet lto.de.
Sonstiges
G 10-Kommission streikt: Auch die G 10-Kommission will die NSA-Selektorenliste einsehen, aber die Bundesregierung verweigert die Herausgabe. Die Kommission hat ihr daraufhin gedroht, Abhöraktionen des BND nicht mehr zu genehmigen. Die Frist ist am vergangenen Mittwoch abgelaufen. Am gleichen Tag sollen bereits zwei Überwachungsanträge des BND abgelehnt worden sein, berichtet zeit.de (Annelie Kaufmann).
Haftung bei Poststreik: Wer haftet, wenn die Sendung zu spät kommt, weil die Post streikt? fragt die Samstags-SZ (Daniela Kuhr). Jedenfalls regelmäßig nicht die Post, weil sie außer bei Express-Sendungen keine bestimmte Lieferfrist schuldet, so ein Unternehmenssprecher.
Parteiausschluss: Die Samstags-SZ (Jan Bielicki) erörtert vor dem Hintergrund des laufenden Parteiausschlussverfahrens gegen Sebastian Edathy die hohen rechtlichen Hürden eines solchen Ausschlusses und die entsprechend guten Chancen Edathys, sein Parteibuch zu behalten.
Dieter Simon: Zu seinem achtzigsten Geburtstag am Sonntag porträtiert die Samstags-FAZ (Jürgen Kaube) Rechtsprofessor Dieter Simon als "Förderer und Provokateur", der mit spitzem Esprit die Dummheit geißelt und dessen Anhänger dem Motto "keine Macht den Drögen" folgen.
Erbschaftssteuer: Finanzprofessor Reiner Eichenberger und Finanzwissenschaftler Marco Portmann schlagen in der FAS vor, die Erbschaftssteuer abzuschaffen und stattdessen den Staat zum gesetzlichen Erben zu machen. Den grundsätzlich feststehenden staatlichen Erbteil könne der Erblasser erhöhen, verringern oder ausschließen, sie nennen es "freiwillige Erbschaftssteuer".
Recht auf Vergessenwerden: Wie der Spiegel (ih) meldet, hat Google nach der Einigung mit Max Mosley dessen Sexbilder offenbar nur aus den europäischen Internetauftritten der Suchmaschine gelöscht. Über google.com sind sie weiter – auch von Europa aus – einsehbar.
Kopftuchstreit: Vor dem Hintergrund des Falles einer jungen Juristin, die wegen ihres Kopftuchs ihre Referendarsstation beim Bezirksamt Berlin-Neukölln wohl nicht wie geplant absolvieren darf, stellt der Tagesspiegel (Andrea Bernbach/Sidney Gennies/Jost Müller-Neuhof) die Regelungen des Berliner Neutralitätsgesetzes dar. Dessen Fortgeltung werde Blick auf den Kopftuchbeschluss des Bundesverfassungsgerichts überprüft. Auch zeit.de (Kerstin Decker) schreibt zum Fall und porträtiert die junge Frau.
Autonome Waffensysteme: Rechtsprofessor Robin Geiß schreibt in der Montags-SZ zu autonomen Waffensystemen und der Diskussion um ihren möglichen völkerrechtskonformen Einsatz. Er meint, die "Entscheidung über die Tötung eines Menschen muss in der Hand eines Menschen bleiben".
Mini-Flugdrohnen: Die Montags-Welt (Michael Fabricius) erklärt, welche Regeln seit dem 1. Juni in Deutschland für Mini-Flugdrohnen mit Videokameras gelten. Für die Drohnen als solche gelten im wesentlichen Regeln wie für Modellflugzeuge. Bei der Nutzung von Kameras ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht anderer zu beachten.
Das Letzte zum Schluss
Wahnsinnig nach Schuhen? Ein Mann überfiel in New York vor Jahren einen Schuhladen und musste dafür ins Gefängnis. Einen Tag, nachdem er entlassen wurde, überfiel er eben jenes Geschäft erneut und wurde wieder zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, berichtet die Montags-Welt. Vielleicht war er wahnsinnig nach Schuhen - jedenfalls wohl schuldfähig.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/krü
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 6.-8. Juni 2015: Streikrecht der Wenigen – Mangelvermutung – G 10-Kommission streikt . In: Legal Tribune Online, 08.06.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15768/ (abgerufen am: 14.05.2024 )
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