Immer mehr Gerichte stoppen Überstellungen nach dem EU-Haftbefehl, zuletzt das BVerfG. Außerdem in der Presseschau: Mindestlohn gilt auch für Nachtzuschläge und in Afrika regt sich Widerstand gegen die Perückenpflicht für Juristen.
Thema des Tages
Gerichte zu EU-Haftbefehl: Immer häufiger stoppen Gerichte angesichts unmenschlicher Zustände in europäischen Gefängnissen Auslieferungen nach dem EU-Haftbefehl, so dass Klaus Schromek, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Bremen, vor einer "mittleren Katastrophe" warnt. Die SZ (Wolfgang Janisch) zeichnet die Grundentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs nach und weist auf einen wenige Wochen zurückliegenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hin, mit dem unter Verweis auf die Verfassungsidentität eine Überstellung nach Rumänien gestoppt wurde.
Auch die FAZ (Helene Bubrowski) befasst sich mit dem Thema und erläutert die unterschiedlichen Auffassungen einiger Oberlandesgerichte. Das Oberlandesgericht Hamburg, das sich mit der vom Bundesverfassungsgericht gestoppten Auslieferung befasst hatte, beschränke sich auf eine Evidenzkontrolle. Weil die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege auf dem Spiel stehe, könne nur bei einer Verletzung des Kernbereichs rechtsstaatlicher Garantien die Auslieferung abgelehnt werden. Andere Gerichte sind strenger.
Rechtspolitik
Antisemitismusdefinition: Wie unter anderem zeit.de meldet, hat sich die Bundesregierung einer internationalen Definition von Antisemitismus angeschlossen. Diese soll unter anderem bei der Einordnung von Straftaten helfen. Reinhard Müller (FAZ) meint, die Definition löse für sich genommen noch kein Problem, könne sogar neue schaffen. Niemand dürfe wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, Rasse, Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.
Bekämpfung von Sexualdelikten: Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hat sich laut FAZ (Karin Truscheit) offen dafür gezeigt, künftig von Einwanderern bei der ersten Aufnahme in Deutschland auch ein DNA-Muster zu erstellen. Entsprechende Pläne würden gerade auf EU-Ebene diskutiert. Die Äußerung erfolgte im Rahmen der Vorstellung des "Programms zur Bekämpfung von Sexualstraftaten". Darin fordert Herrmann unter anderem, dass zur erkennungsdienstlichen Behandlung von Tatverdächtigen auch die Erstellung eines DNA-Musters gehören soll.
Fischer über Maas: Der ehemalige Bundesrichter Thomas Fischer "würdigt" in der Zeit zum Abschluss der Legislaturperiode Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD). Maas wirke "eher wie ein Staatssekretär des Bundesinnenministers". Zu den "dunkle(n) Punkten der Ära Maas" würden die gescheiterte Reform des Mordparagrafen, die Änderung des Sexualstrafrechts und der Umgang mit dem damaligen Generalbundesanwalt Harald Range zählen.
Wahl der Bundesverfassungsrichter: Mit Josef Christ wurde vor zwei Wochen erstmals ein Bundesverfassungsrichter vom Plenum des Bundestags gewählt. Der wissenschaftliche Mitarbeiter Nico Schröter erläutert auf juwiss.de, wie es zur Änderung des Wahlverfahrens kam und welche Folgen sie haben könnte. Es sei davon auszugehen, dass der Wahlausschuss in Zukunft größere Umsicht bei der Vorauswahl der Kandidaten walten lasse, was zu noch "konsensfähigeren" Richtern führen würde.
Chronik des Überwachungsstaates: netzpolitik.org (Lennart Mühlenmeier) veröffentlicht eine "Chronik des Überwachungsstaates". Von der Einführung des Bundesverfassungsschutzgesetzes im Jahr 1950 bis zur Verabschiedung des "Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens" vor wenigen Wochen werden gesetzgeberische Reformen vorgestellt, die die Befugnisse von Polizei- und Ermittlungsbehörden ausgeweitet haben.
Justiz
BAG zu Mindestlohn bei Nachtzuschlag: Der Mindestlohn ist die Grundlage für die Berechnung von Nacht- und Feiertagszuschlägen. Das hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, wie die FAZ (Marcus Jung) und spiegel.de melden. Geklagt hatte eine Montagearbeiterin, für deren Nachtzuschlag ein älterer Tarifvertrag mit einem Stundenlohn von sieben Euro herangezogen wurde. Dies ist laut dem Bundesarbeitsgericht unzulässig, denn die Nacht- und Feiertagszuschläge seien Teil des "tatsächlichen Stundenverdienstes".
In einem gesonderten Beitrag beantwortet spiegel.de die wichtigsten Fragen zum Urteil und weist auf die bisherige Rechtsprechung zum Mindestlohngesetz hin.
BAG zu unbilligen Weisungen: Der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat seine bisherige Auffassung aufgegeben und sich der Ansicht des Zehnten Senats angeschlossen, nach der Arbeitnehmer unbillige Weisungen nicht befolgen müssen. Rechtsanwalt Günther Heckelmann kritisiert auf lto.de diese Rechtsprechungsänderung. Das einstweilige Verfügungsverfahren biete eine geeignete Möglichkeit für den Arbeitnehmer, sich schnell Klarheit zu verschaffen. Ein Weigerungsrecht solle daher nur bei offensichtlichen Fällen von unbilligen Weisungen angenommen werden.
LG Berlin zur Mietpreisbremse: Die FAZ (Hendrik Wieduwilt) trägt Reaktionen auf den Beschluss des Landgerichts Berlin zusammen, in dem die Mietpreisbremse als verfassungswidrig bezeichnet worden ist. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hält die Regelung weiter für verfassungskonform und verweist darauf, dass nur das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungswidrigkeit entscheide. Eigentümerverbände sowie Politiker von FDP und AfD begrüßten die Entscheidung und äußerten grundsätzliche Kritik an der Mietpreisbremse.
In einem Kommentar bezeichnet Christian Rath (taz) den Beschluss als "eine juristische Meinungsäußerung von drei Berliner Juristen". Er sieht in den regional unterschiedlichen Wirkungen der Mietpreisbremse keine unsachliche Benachteiligung von Berliner Vermietern. Die Regelung solle die "Dynamik dieses Anstiegs jeweils brechen". Das Problem sei eigentlich ein praktisches. Um die Wohnungsknappheit in Ballungszentren zu lindern, brauche es mehr öffentlich geförderte günstige Wohnungen mit Sozialbindung.
OVG Koblenz zu Abschiebungen nach Afghanistan: Es bestehe keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit für zurückkehrende Zivilpersonen in allen Teilen Afghanistans. Zu diesem Ergebnis kommt das Oberverwaltungsgericht Koblenz in einem Beschluss von Anfang des Monats, über den lto.de (Tanja Podolski) berichtet. Der Konflikt sei regional unterschiedlich ausgeprägt. An dieser Einschätzung habe sich auch durch die jüngsten Anschläge nichts geändert.
Unterbringung wegen HIV: lawblog.de (Udo Vetter) berichtet über den Fall eines Mandanten, der in einer forensischen Klinik untergebracht ist, weil er eine HIV-Infektion hat und zu ungeschütztem Sex neige. Ein Gutachter sei jetzt zu dem Ergebnis gekommen, dass durch die Einnahme von Medikamenten die Gefahr einer Infizierung von Sexualpartnern nur noch theoretisch bestehe. Damit müsse sich nun das nicht benannte Gericht befassen.
Recht in der Welt
Spanien/Katalonien – Unabhängigkeitsreferendum: Nachdem das spanische Verfassungsgericht das geplante Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens für verfassungswidrig erklärt hat, geht die spanische Regierung mit zunehmender Vehemenz gegen die Unterstützer der Abstimmung vor. Bei 41 Durchsuchungen wurden 14 Personen festgenommen und neun Millionen Wahlzettel beschlagnahmt. Teile der Bevölkerung reagierten mit spontanen Protesten. Über den Konflikt berichten die FAZ (Hans-Christian Rößler), die taz (Reiner Wandler) und spiegel.de (Claus Hecking).
Peter Sturm (FAZ) schreibt, dass man sich an Recht und Gesetz halten müsse. Wer die Unabhängigkeit wolle, müsse daher auch die Bürger im übrigen Spanien überzeugen. Die Durchsuchungen seien juristisch einwandfrei. Ob sie politisch klug waren, sei damit jedoch nicht gesagt. Thomas Urban (SZ) sieht Fehler auf beiden Seiten des Konflikts und fordert die Europäische Union auf, in dem Streit zu vermitteln.
Kenia – Wahlannullierung: Das Oberste Gericht in Kenia hat die Begründung für die vor knapp drei Wochen ergangene Annullierung der Präsidentschaftswahl bekannt gegeben. Darin werfen die Richter der Wahlkommission eine Reihe von Unregelmäßigkeiten vor. Da das Gericht keinen Zugang zum Computersystem erhalten habe, sei es teilweise gezwungen gewesen, die Sicht der klageführenden Opposition zugrundezulegen. Wahlbeobachter hatten vor der Urteilsverkündung keine größeren Unregelmäßigkeiten gesehen. Die SZ (Bernd Dörries), die taz (Ilona Eveleens) und spiegel.de (Christoph Titz) berichten.
Afrika – Perücken für Juristen: In vielen afrikanischen Staaten, die früher unter britischer Kolonialherrschaft standen, hat sich die damals eingeführte Perückenpflicht für Richter und Rechtsanwälte bis heute gehalten. Die SZ (Bernd Dörries) berichtet über Bestrebungen in Nigeria, Simbabwe und Kenia, dieses koloniale Erbe abzuschaffen.
Sonstiges
Sexuelle Übergriffe durch Flüchtlinge: Im Interview mit der SZ (Ulrike Heidenreich) äußert sich die Strafrechtsprofessorin Tatjana Hörnle zu möglichen Ursachen für von Flüchtlingen vorgenommene sexuelle Übergriffe. In vielen Herkunftsländern herrsche eine scharfe Trennung zwischen ehrbaren und nicht ehrbaren Frauen, die es begünstige, letztere als Objekte zu betrachten. Zudem würden eigene Gewalterfahrungen sowie die Abwesenheit von sozialer Kontrolle und Autoritätspersonen die Gewaltbereitschaft erhöhen.
Das Letzte zum Schluss
Kein Fall für Tierrechtsfreunde: Einem Papagei ist es in Großbritannien gelungen, über Amazons digitale Assistentin Alexa eine Bestellung abzugeben. Zur gerichtlichen Klärung etwaiger Ansprüche wird es wohl nicht kommen, da Amazon die Bestellung bereits zurückgenommen und den Preis erstattet hat, wie spiegel.de schreibt.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/dw
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 21. September 2017: Gerichte gegen Auslieferungen / Mindestlohn bei Nachtzuschlag / Juristen-Perücken in Afrika . In: Legal Tribune Online, 21.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24633/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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