Vier Jahre Haft für den früheren SS-Mann Oskar Gröning – und die Abkehr von der früheren Strafjustiz zum Holocaust. Außerdem in der Presseschau: BVerfG zur Eilkompetenz bei Durchsuchungen und die Debatte zum Kulturgutschutzgesetz.
Thema des Tages
Vier Jahre Haft für Gröning: Das Landgericht Lüneburg hat den früheren SS-Mann Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen zu vier Jahren Haft verurteilt. Gröning war von 1942 bis 1944 in der Verwaltung des Konzentrationslagers Auschwitz eingesetzt und tat Dienst an der Rampe, wo Deportierte selektiert wurden. Darin sah das Gericht strafrechtlich einschlägige Beihilfehandlungen. Fraglich ist nun, ob der 94-jährige Gröning tatsächlich ins Gefängnis muss – um seinen gesundheitlichen Zustand soll es nicht gut stehen. Den Prozess, die Schilderungen von Gröning aus der Zeit in Auschwitz, seinen Lebensweg und die Reaktionen der Nebenkläger resümieren die SZ (Hans Holzhaider), die FAZ (Alexander Haneke), spiegel.de (Wiebke Ramm) und die Zeit (Nora Bossong – Redaktionsschluss vor Urteilsspruch).
In den Augen Reinhard Müllers (FAZ) ist mit dem Prozess das "unbegreifliche Unrecht nach Jahrzehnten des Wiederaufbaus und Wegschauens wieder aufgeflackert". Joachim Käppner (SZ) hebt hervor, dass die Strafjustiz in entsprechenden Fällen lange nur verurteilt hat, wenn konkrete Morde nachgewiesen werden konnten. Anders heute: "Wer in einem Vernichtungsapparat dient, kann schwerlich behaupten, mit der Vernichtung nichts zu tun gehabt zu haben, nur weil er persönlich keines der Opfer erschlagen oder erschossen hat." Auch Klaus Hillenbrand (taz) begrüßt dies, habe doch die frühere Rechtsprechung stets "himmelschreiendes Unrecht" manifestiert. Gisela Friedrichsen (spiegel.de) hofft, dass dieses Urteil "ein- für allemal die unrühmliche Unentschlossenheit der deutschen Justiz" im Zusammenhang mit dem Holocaust abschließt.
Die Zeit druckt zudem die gekürzte Fassung eines Plädoyers der Nebenklage ab.
Rechtspolitik
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Weil eine angemessene Betreuung nicht mehr möglich sei, hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf gebilligt, nach dem unbegleitete minderjährige Flüchtlinge künftig auf die Bundesländern verteilt werden können. SZ (Constanze von Bullion), die Welt (Sabine Menkens) und taz (Josephine Schulz) berichten.
Kulturgutschutzgesetz: Auch Zeit (Thomas E. Schmidt) und SZ (Stephan Speicher) befassen sich mit der Diskussion um die Reform des Kulturgutschutzgesetzes. Mittlerweile hat Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) versucht, Gegner zu beschwichtigen, nachdem eine "kalte Enteignung" im Raum steht und einige Künstler ihre Dauerleihgaben aus Museen abziehen. Zugleich hat Grütters eine überarbeitete Version des Gesetzentwurfs für Mitte kommender Woche angekündigt.
Niklas Maak (FAZ) hält die Kritik für überzogen und sieht eine "Unfähigkeit, den Inhalt von Gesetzentwürfen zu begreifen". Joachim Jahn (FAZ) hingegen fordert angesichts eines "scharfen Eingriff" ins Privateigentum Klarstellungen und Entschädigungsregelungen im Gesetz.
Grüner Entwurf für Ausländerrechte: Der Welt (Matthias Kamann) liegt ein Gesetzentwurf der Grünen vor, der illegal in Deutschland lebenden Menschen Zugang zu Gerichten, Behörden und Ärzten verschaffen soll – ohne die Gefahr einer Abschiebung.
Bankenkredite: Banken sollen künftig die Bonität ihrer Kunden genauer prüfen können. Kann die Bank keine gründliche Prüfung nachweisen, können Kunden kündigen, ohne eine Vorfälligkeitsentschädigung zahlen zu müssen. Dies sieht laut Handelsblatt (jha) ein vom Bundeskabinett verabschiedeter Gesetzentwurf vor.
Justiz
BVerfG zu Gefahr in Verzug bei Durchsuchungen: Staatsanwaltschaften dürfen eine Wohnungsdurchsuchung nicht deshalb selbst anordnen, weil der zuständige Richter über den Antrag nicht schnell genug entscheiden will oder kann. Das hat das Bundesverfassungsgericht im Juni entschieden, wie lto.de und die taz (Christian Rath) berichten. Die Eilkompetenz bei Gefahr in Verzug geht demnach in dem Moment verloren, in der sich das zuständige Gericht mit der Sache befasst.
Strafanzeige gegen netzpolitik.org: Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat Anfang Juli Strafanzeige gegen das Portal netzpolitik.org gestellt, nachdem es interne Haushaltspläne des Amtes veröffentlicht hatte. Tanja Podolski (lto.de) sieht nun "härtere Zeiten" für Whistleblower kommen. Der Beitrag zieht auch eine Parallele zum Cicero-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und hält Durchsuchungen in den Redaktionsräumen für unwahrscheinlich.
Ermittlungen gegen BER-Belieferer: Die Zeit (Christian Fuchs u.a.) bringt ein längeres Stück zu Ermittlungen mehrerer Staatsanwaltschaften gegen Imtech – Zulieferer des noch immer im Bau befindlichen Berliner Flughafens – wegen des Verdachts auf Untreue und Bilanzfälschung. Es werde das Geflecht eines korrupten Systems sichtbar, das auf Stillstand basiere.
BVerwG zu Münchner Startbahn: Die Gegner des Bauprojekts am Münchener Flughafen für eine dritte Startbahn sind mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde vor dem Bundesverwaltungsgericht gescheitert. Der Bund Naturschutz erwägt den Gang zum Europäischen Gerichtshof, heißt es bei lto.de und in der SZ (Wolfgang Janisch/Marco Völklein – Bayern-Teil).
OLG München – NSU-Prozess: Die USA haben Daten über Beate Zschäpes früheren YouTube-Account geliefert. Die Daten sollen Aufschluss über die Interessen des Kontonutzers an Nazimaterial geben, heißt es in der SZ (Annette Ramelsberger). Außerdem habe ein Zeuge im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München, früher Mitglied des "Thüringer Heimatschutzes", die Rolle von Zschäpe im NSU-Trio "kleingeredet".
OLG München zu Syrienheimkehrer: Der unter anderem wegen Beteiligung am Terror in Syrien angeklagte Münchner Islamist muss unter anderem wegen Mordes für elf Jahre ins Gefängnis. Über das Urteil berichten taz (Konrad Litschko) und SZ.
OVG NRW zu Nachflugverkehr: Die Klage vor dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen gegen den nächtlichen Flugverkehr des Flughafens Köln/Bonn hatte keinen Erfolg. Das meldet lto.de. Das OVG erklärte die Klage bereits für unzulässig, weil die Anwohner nicht direkt die Anordnung eines Nachtflugverbotes eingeklagt hatten. Die Entscheidung erging bereits im Juni.
FG Köln zu Abfindungen für Aktionäre: Ein Kleinstaktionär hatte wiederholt Aktiengesellschaften verklagt und für Klagerücknahmen Abfindungen kassiert ("Räuberische Aktionäre"). Das Finanzgericht Köln sah darin keine steuerfreien Schadensersatzzahlungen, sondern stuft die Abfindungen als einkommen- und umsatzsteuerpflichtig ein. Über das Urteil schreiben lto.de und die FAZ (Joachim Jahn).
Recht in der Welt
Einigung im Atomstreit mit Iran: Die am Dienstag getroffene Einigung im Atomstreit mit dem Iran sieht Rechtsanwalt Viktor Winkler auf lto.de etwas weniger euphorisch als der Großteil der politischen Klasse. Der Beitrag befasst sich mit den neuen Möglichkeiten für die Exportwirtschaft, die durch das Abkommen entstehen könnten, sofern der Iran die Auflagen erfüllt.
Großbritannien – Streikrecht: Ein Gesetzentwurf der britischen Regierung sieht laut FAZ (Jochen Buchsteiner) eine Verschärfung des Streikrechts vor. Streiks dürfen danach erst nach einer Urwahl unter Arbeitern und Angestellten ausgerufen werden; Arbeitgeber dürfen im Streikfall Leiharbeiter einstellen.
China – Verfolgung von Anwälten: Mit der Verfolgung von Anwälten in China befasst sich auch die Zeit (Angela Köckritz). Sie schildert, wie der Anwalt Zhou Shifeng in die Fänge der Sicherheitsbehörden geriet.
Sonstiges
Recht auf Vergessenwerden: EU-weit 280.000 Löschanträge, vier von zehn sind erfolgreich – so lautet die Statistik der Umsetzung des Urteils zum Recht auf Vergessenwerden des Europäischen Gerichtshofs. Gerichtsreporter Norbert Demuth attestiert Google auf lto.de eine "nebulöse Entscheidungspraxis" und Probleme im Hinblick auf Transparenz und Durchsetzung. Anlass des Beitrags ist eine Rede der früheren Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Mitglied des Löschbeirats von Google. Auch die SZ (Simon Hurtz) schreibt über das Thema im Ressort Medien.
Rechtsschutzversicherer: Laut SZ (Herbert Fromme) beklagen Anbieter von Rechtsschutzversicherungen höhere Anwaltsgebühren und neue Aufsichtsregeln. Das Geschäft sei mittlerweile für viele Versicherungen defizitär.
Das Letzte zum Schluss
Stromdieb: Strom kann man nicht wegnehmen, aber entziehen – auch strafbar. Dass nun tatsächlich Leute festgenommen werden, weil sie etwa am Bahnhof ihren Handyakku laden, dürfte dann doch überraschen. Tatsächlich erging es so einem Mann in einer Londoner Bahn, der dort sein Handy lud. Kurz nach der Festnahme kam er wieder frei. Ein ähnliches Schicksal ereilte bereits vor elf Jahren einen Studenten, der in Kassel am Bahnhof seinen Laptop anstöpselte, weiß die SZ (Tarek J. Schakib-Ekbatan).
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/fr
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 16. Juli 2015: Vier Jahre Haft für Gröning – BVerfG zu Durchsuchungen – Zschäpes YouTube-Account . In: Legal Tribune Online, 16.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16246/ (abgerufen am: 17.05.2024 )
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