Beeinträchtigt die Ermahnung, ein durchschnittliches Erledigungspensum zu erreichen, die richterliche Unabhängigkeit? Außerdem in der Presseschau: Heribert Prantl zum Rechtsstaat, Reinhard Müller zu Leitkultur und Aufgabe für Udo di Fabio.
Thema des Tages
BGH – Schulte-Kellinghaus: Anfang 2012 ermahnte Christine Hügel, damalige Präsidentin des Oberlandesgerichts Karlsruhe, Richter Thomas Schulte-Kellinghaus, sein Erledigungspensum auf ein durchschnittliches Maß zu heben. In der Dienstgerichtsbarkeit betriebene Klagen des Richters gegen die Ermahnung blieben erfolglos, nunmehr befasst sich der Bundesgerichtshof im Oktober mit der Sache. Die FAZ (Marlene Grunert) stellt Fall und Problematik eingehend dar. Während die dienstgerichtlichen Entscheidungen eine Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit nicht erkennen mochten, weil die pauschale Aufforderung keinen Eingriff in die konkrete Rechtsanwendung dargestellt habe, ließe sich zugunsten des Richters eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts anführen. 1984 erkannte dieses in der dienstlichen Beurteilung eines Vorgesetzten, der Beurteilte könne Verhandlungen "etwas straffer" führen, eine Verletzung des "Kernbereichs der Rechtsprechung". Die Auseinandersetzung werde zudem mittlerweile auch auf anderer Ebene geführt: Schulte-Kellinghaus habe Strafanzeige gegen Hügel wegen versuchter Nötigung erstattet.
Rechtspolitik
Rechtsstaat: Aus Anlass gewalttätiger Ausschreitungen Berliner Hausbesetzer räsoniert Heribert Prantl (SZ) im Leitartikel der Zeitung über das Wesen des Rechtsstaates. Wer diesen angesichts der Zahl verletzter Polizisten zu lasch schelte, offenbare ein "falsches Verständnis" von dessen Wesen. Als "sich selbst immer wieder korrigierendes System" sei er zwar fehleranfällig, aber eben nicht mit diesen Fehlern gleichzusetzen.
Leitkultur: Die im Entwurf des bayerischen Integrationsgesetzes unternommene Definition einer Leitkultur verteidigt Reinhard Müller (FAZ) in einem Kommentar gegen Kritik. Denn sei gegen die aufgeführten Punkte – etwa christlich-jüdische Tradition oder Bezugnahme auf Opfer des NS-Terrors – ebensowenig vorzubringen wie gegen die Feststellung, ganz Bayern sei "geformt von gewachsenem Brauchtum, von Sitten und Traditionen". Diese Prägung gebe es, sie sei auch "von Gästen" zu achten, denn "Deutschland gibt es nur als Ganzes".
Volksabstimmungen: Unter Bezug auf das Brexit-Referendum in Großbritannien benennt Privatdozent Alexander Thiele (verfassungsblog.de) Kriterien, unter denen "direktdemokratische Elemente" einer Volksbefragung sinnvoll seien. Höchstens einer der drei vom Autor aufgeführten Punkte sei bei der Abstimmung im Vereinigten Königreich erfüllt worden.
Immobilienkredite: Immobilienkreditanträge älterer Menschen würden immer häufiger abgelehnt, schreibt die SZ (Cerstin Gammelin). Verantwortlich hierfür sei eine im deutschen Recht besonders scharf erfolgte Übertragung einer EU-Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge. Das Justiz- und Verbraucherschutzministerium beobachte die Entwicklung, sehe aber aktuell noch keinen Handlungsbedarf.
Autorennen: Am vergangenen Freitag brachte Nordrhein-Westfalen einen Gesetzentwurf in den Bundesrat ein, nach dem bereits die Beteiligung an Autorennen auf öffentlichen Straßen strafbar sein soll. Regierungsrat Adolf Rebler stellt auf lto.de die Regelung einschließlich ihrer Qualifikationstatbestände vor und erläutert straßenverkehrsrechtliche Voraussetzungen für die Annahme eines Rennens.
Ehegattensplitting: Dass die Grünen in ihrem nun vorgestellten Steuerkonzept für den kommenden Bundestagswahlkampf, von spiegel.de (Annett Meiritz) zusammengefasst, weiterhin an der Abschaffung des Ehegattensplittings zugunsten einer individuellen Besteuerung festhalten, bezeichnet Cerstin Gammelin (SZ) in einem Kommentar als ebenso "mutig wie zeitgemäß".
Robotersteuer: Forderungen nach Einführung einer Roboter- oder Maschinensteuer, die für gerätebedingt weggefallene Arbeitsplätze erhoben wird, steht Donata Riedel (Hbl) skeptisch gegenüber. Denn kranke die Idee an der unzutreffenden Annahme, "dass technologischer Fortschritt dauerhaft Arbeitsplätze nur vernichtet". Trotz "Verwerfungen in der digitalen Arbeitswelt" belege historische Erfahrung, dass technologische Neuerungen langfristig "bessere" Arbeitsplätze entstehen ließen.
Privacy Shield: netzpolitik.org (Thomas Rudl) berichtet zur Anhörung der EU-Kommissarin für Justiz und Verbraucherschutz, Vera Jourova, vor dem Innenausschuss des EU-Parlaments zum unmittelbar bevorstehenden Abschluss des Datenschutzabkommens Privacy Shield. Jourova habe eingestanden, "nicht absolut zufriedengestellt" mit der Vereinbarung zu sein, die Parlamentarier aber gleichzeitig gebeten, dem nun geschaffenen Mechanismus eine Chance zu geben.
Justiz
LG Berlin – Mord in Neukölln: Wegen Tötung eines 31-jährigen Briten hat das Landgericht Berlin einen 63-Jährigen zu elf Jahren und sieben Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Der Mann hatte das Opfer vor einer Bar im Stadtteil Neukölln niedergeschossen, ein Motiv habe das Gericht nicht feststellen können, berichtet die taz (Alke Wierth). Hierfür sprächen auch nicht die vom Täter gesammelten Nazidevotionalien.
LG Potsdam – Silvio S.: Über die Fortsetzung im Verfahren gegen Silvio S. vor dem Landgericht Potsdam schreibt die Welt. Das Urteil werde für das Ende des Monats erwartet.
VG Lüneburg – Atommüll: Der Betreiber der Gorlebener Atommüllzwischenlager klagt beim Verwaltungsgericht Lüneburg gegen eine Anordnung des niedersächsischen Umweltministeriums. Die verfügten strengeren Bestimmungen zur Einlagerung schwach und mittelradioaktiver Abfälle seien nach Ansicht der Klägerin nicht gerechtfertigt, schreibt die taz (Reimar Paul).
Recht in der Welt
Schiedshof – Südchinesisches Meer: Vorberichte zu dem für den heutigen Dienstag anstehenden Schiedsspruch des Internationalen Schiedshof zu Territorialansprüchen im Südchinesischen Meer bringen nun auch SZ (Arne Perras), zeit.de (Katharin Tai) und die Welt (Johnny Erling).
Schiedsgericht – Uruguay/Philip Morris: Der von einem Schiedsgericht abgewiesenen Schadensersatzforderung des Tabakkonzerns Philipp Morris gegen Uruguay misst Nikolaus Richter (SZ) in einem Kommentar sowohl symbolische als auch politische Bedeutung zu. Beim Blick auf die Praxis von Schiedsgerichten in den vergangenen 60 Jahren überrasche das Ergebnis, nach dem Profit "eben nicht über Gesundheit" stehe, "noch nicht einmal".
Japan – Verfassungsänderung: Bereits seit längerem verfolgt der japanische Premierminister Shinzo Abe eine Änderung der Verfassung des Landes und insbesondere eine Aufhebung des in ihr festgeschriebenen Verzichts auf Kriegführung. Nach dem jetzigen Wahlsieg seiner LDP dürfte er diesem Ziel nähergerückt sein. Die SZ (Christoph Neidhart) erinnert an die Entstehungsgeschichte der Verfassung.
Sonstiges
Udo di Fabio: Der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio hat eine neue Aufgabe. Wie das Hbl (Heike Anger) schreibt, ist er von Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) zum Vorsitzenden einer Ethikkommission berufen worden, die rechtliche Probleme mit selbstfahrenden Autos ausloten soll. Weitere Kommissionsmitglieder sollen von ihm in Abstimmung mit dem Minister ausgewählt werden. Der Autorin fällt auf, dass di Fabio "für die CSU zu einer Instanz bei kniffeligen Fragestellungen geworden ist", hierfür spräche sein "aufsehenerregendes" Gutachten zur sogenannten Flüchtlingskrise, in dem er sich für eine Regierungspflicht zum besseren Grenzschutz ausgesprochen habe.
BND-Selektorenliste: Das Parlamentarische Kontrollgremium für die Arbeit der Geheimdienste hat seinen Bericht zu Abhörmaßnahmen des Bundesnachrichtendienstes vorgelegt. Die Untersuchung von 3.300 Suchbegriffen, sogenannten Selektoren, habe jahrelange Spionage gegenüber Personen und Institutionen von EU- und Nato-Staaten belegt, schreibt zeit.de (Tilman Steffen). Vielfach sei der zu erwartende Nutzen nicht gegen eventuelles politisches Risiko abgewogen worden. In einem Sondervotum habe Gremiumsmitglied Hans-Christian Ströbele (Grüne) die Verletzung des Grundgesetzes und den Bruch von EU- und Nato-Verträgen bemängelt.
Völkerstrafrecht: Die FAZ (Christian Hillgruber) bespricht in ihrer Rubrik Politische Bücher "Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit" von Annette Weinke. Anhand einer Schilderung "der transnational geführten Debatten über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert" zeige die Historikerin auf, dass bei der Einigung über völkerstrafrechtliche Normen und Gerichte auch immer "um die Durchsetzung bestimmter Geschichtskonzeptionen und die Behauptung historischer Deutungsvormacht" gerungen worden sei.
Netzneutralität: Im Interview mit der taz (Svenja Bergt) erläutert Rechtsprofessorin Barbara van Schewick das Prinzip der Netzneutralität und klärt über dessen Gefährdungen auf.
Das Letzte zum Schluss
Selbsthilfe: "Ein Zeichen setzen" wollte eine Vermieterin in einem offenbar irreparablen Nachbarschaftsverhältnis. Also ließ sie den unter ihr wohnenden Mietern, deren gerichtlich bestimmte Räumungsfrist Ende August abläuft, kurzerhand den Wohnungseingang zumauern. focus.de berichtet.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 12. Juli 2016: Erledigungspensum und Unabhängigkeit / Prantl zu Rechtsstaat / Neuer Job für di Fabio . In: Legal Tribune Online, 12.07.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19945/ (abgerufen am: 14.05.2024 )
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