Leiharbeiter dürfen nur dann schlechter bezahlt werden als Stammbeschäftigte, wenn diese Ungleichbehandlung im Tarifvertrag ausgeglichen wird. Das entschied der EuGH am Donnerstag.
Ein Tarifvertrag, der für Leiharbeitnehmer ein geringeres Arbeitsentgelt als das des angestellten Stammpersonals festlegt, muss sogenannte Ausgleichsvorteile vorsehen. Dies hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Donnerstag entschieden und damit eine Ausnahme von der Equal-Pay-Regelung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) grundsätzlich bestätigt (Urt. v. 15.12.2022, Az. C-311/21).
Hintergrund der Entscheidung ist ein Arbeitsrechtsstreit aus Deutschland. Eine Leiharbeitnehmerin hatte für Ihre Arbeit bei einem Einzelhandelsunternehmen einen tariflichen Stundenlohn von 9,23 Euro brutto erhalten, während andere Arbeitnehmer mit vergleichbarer Tätigkeit einen tariflichen Stundenlohn nach dem Branchentarifvertrag für den Einzelhandel in Höhe von 13,64 Euro brutto erhielten. Die Frau klagte daraufhin auf Zahlung einer zusätzlichen Vergütung in Höhe von rund 1.300 Euro, der Differenz der verschiedenen Stundenlöhne über den Zeitraum ihrer Beschäftigung.
Das AÜG verpflichtet den Verleiher grundsätzlich, dem Leiharbeitnehmer das gleiche Arbeitsentgelt zu zahlen, das der Entleiher vergleichbaren Stammarbeitnehmern gewährt ("Equal Pay"). § 8 AÜG sieht eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor und lässt eine unterschiedliche Bezahlung zu, sofern es tarifliche Regelungen gibt. Die Klägerin war der Auffassung, dass die Tariföffnung im AÜG sowie der auf ihr Arbeitsverhältnis Anwendung findende Tarifvertrag nicht mit dem in Art. 5 der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern vereinbar sei.
Tarifverträge müssen Ausgleichsvorteile gewähren
Das mit dem Fall befasste Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte den Fall dem EuGH vorgelegt. Im Wesentlichen wollte das BAG wissen, ob Art. 5 der Leiharbeitsrichtlinie vom deutschen Gesetzgeber mit dem AÜG richtlinienkonform umgesetzt worden ist.
Der EuGH entschied nun, dass es den Tarifvertragsparteien grundsätzlich möglich ist, ein geringeres Arbeitsentgelt für Leiharbeitnehmer zu vereinbaren. Dafür müsse der Tarifvertrag den Leiharbeitern im Gegenzug Ausgleichsvorteile in Bezug auf "wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen" gewähren, um den in der Richtlinie vorgesehenen "Gesamtschutz" zu gewährleisten. Derartige Ausgleichsvorteile müssen laut EuGH geeignet sein, die Ungleichbehandlung der Zeitarbeitnehmer auszugleichen. Wenn ein Tarifvertrag einen niedrigeren Lohn für Leiharbeiter vorsieht, könnte im Gegenzug beispielsweise zusätzliche Freizeit gewährt werden.
Die Kriterien und Bedingungen, die für eine mögliche Abweichung vom Equal-Pay-Grundsatz erfüllt sein müssen, müssen laut EuGH nicht durch den Gesetzgeber, sondern durch die Tarifvertragsparteien selbst bestimmt werden. Es müsse jedoch gewährleistet sein, dass Tarifverträge, die Ausnahmen vom Equal-Pay-Grundsatz zulassen, den in der Richtlinie geforderten Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern achten, also entsprechende Ausgleichsvorteile vorsehen. Die Tarifverträge müssten daher einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Der EuGH folgt damit den Empfehlungen des Generalanwalts, der sich in den Schlussanträgen zu dem Fall ebenfalls für einen Ausgleichsvorteil ausgesprochen hatte.
Experte: "Flächenbrand" wird ausbleiben
Nach Einschätzung von Dr. Alexander Bissels, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei der Wirtschaftskanzlei CMS Deutschland, hat die Entscheidung Auswirkungen auf die gesamte Zeitarbeitsbranche. "Die in der Praxis verbreiteten Tarifverträge, die für Zeitarbeitnehmer Anwendung finden, sehen die vom EuGH verlangten Ausgleichsvorteile nicht – zumindest nicht ausdrücklich – vor", so Bissels. "In diesem Zusammenhang dürfte es aber ausreichend sein, dass dem überlassenen Zeitarbeitnehmer an anderer Stelle im Tarifvertrag höhere Leistungen zugesagt werden, zum Beispiel mehr Tage Urlaub."
Der befürchtete "Flächenbrand", der zur Folge gehabt hätte, dass Verleiher uneingeschränkten Nachzahlungen ausgesetzt werden, dürfte nach Bissels' Einschätzung aber ausbleiben. "Der EuGH geht von einem konkret anzustellenden Vergleich zwischen dem für den überlassenen Zeitarbeitnehmer tariflich vorgesehenen Entgelt und der sonstigen wesentlichen Arbeitsbedingungen für einen vergleichbaren Mitarbeiter des Kunden aus. Es kommt daher auf den Einzelfall an, ob der Zeitarbeitnehmer überhaupt Nachzahlungsansprüche gegen den Verleiher hat."
acr/LTO-Redaktion
EuGH zu tariflicher Ausnahme für Equal Pay: . In: Legal Tribune Online, 15.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50485 (abgerufen am: 04.12.2024 )
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