EGMR zu Verhaftung nach Putschversuch in der Türkei: Auch fadenscheiniger Rechtsweg muss ausgeschöpft werden

© aerogondo - Fotolia.com
Der EGMR hat die Klage einer türkischen Richterin gegen ihre Verhaftung nach dem Putschversuch zurückgewiesen. Sie hätte zunächst den Rechtsweg in der Türkei ausschöpfen müssen. Auf die Zuverlässigkeit der Gerichte kommt es dabei nicht an.
Eine türkische Richterin ist vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit ihrer Klage gegen ihre Inhaftierung gescheitert. Sie hätte zunächst das türkische Verfassungsgericht anrufen müssen, entschieden die Richter in Straßburg (Urt. v. 17.11.2016, Az. 56511/16).
Die Antragstellerin Zeynep Mercan, eine Richterin in der türkischen Stadt Giresun, war am 17. Juli 2016 in der Folge des Putschversuchs in der Türkei verhaftet und am 18. Juli in Untersuchungshaft genommen worden. Gegen die Inhaftierung hatte sie Beschwerde beim Ordu Assize Court eingelegt, die am 8. August zurückgewiesen worden war.
Rüge: Recht auf Sicherheit und Freiheit verletzt
Am 2. September reichte Mercan Klage beim EGMR ein. Sie rügte die Verletzung ihres Rechts auf Sicherheit und Freiheit nach Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie sei ohne jegliche Beweise und ohne Mitteilung von Gründen in Untersuchungshaft genommen worden, die zudem unverhältnismäßig lang gedauert habe. In der Haft sei sie entgegen Art. 3 EMRK menschenunwürdig behandelt worden, ihr Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK sei verletzt worden.
An das türkische Verfassungsgericht habe sie sich nicht mehr wenden können. Zwei Richter des Gerichts sowie mehrere dort tätige Anwälte seien ebenfalls verhaftet worden, ein faires Verfahren sei daher nicht mehr zu erreichen gewesen. Zudem seien Beschwerden gegen das Vorgehen aufgrund des ausgerufenen Notstands nicht möglich gewesen.
Vorrang der nationalen Gerichte
Die siebte Kammer des EGMR hat die Anträge in allen Punkten zurückgewiesen. Bereits im Verfahren Hasan Uzun gegen die Türkei (Urt. v. 30.04.2014, Az. 10755/13) habe der EGMR festgestellt, dass die türkische Verfassung dem Verfassungsgericht des Landes die Möglichkeit zur Prüfung individueller Rechtsbehelfe und Feststellung individueller Rechtsverletzungen garantiert. Dass sich daran zwischenzeitlich etwas geändert habe, sei nicht bewiesen.
Die Rüge der Länge der Untersuchungshaft nach Art. 5 EMRK sei unzulässig, da die Antragstellerin zunächst das Verfassungsgericht hätte anrufen müssen, wie auch im Fall Koçintar v. Turkey entschieden (Urt. v. 01.07.2014, Az. 77429/12). Die Einhaltung des Rechtswegs in der Türkei hätte eine Haftentlassung bewirken können, so der Senat. Eine Beschwerde bei den nationalen Gerichten hätte insofern vernünftige Erfolgsaussichten gehabt. Die beabsichtigte Folge, die Haftentlassung, hätte der EGMR hingegen nicht herbeiführen können.
Das türkische Verfassungsgericht habe noch im Februar auf die Beschwerden zweier Journalisten hin festgestellt, dass ihre Inhaftierungen gegen die türkische Verfassung verstoßen hätten. Zur Begründung habe das Gericht seinerzeit ausgeführt, dass es an ausreichenden Beweisen zur Inhaftierung der Journalisten gemangelt habe.
Der Vortrag der Antragstellerin zur Situation bei ihrer Verhaftung habe an dieser Einschätzung keine Zweifel begründen können, teilte das Gericht mit. Die Bedenken der Antragstellerin an der Unparteilichkeit des türkischen Verfassungsgerichts hätten sie jedenfalls nicht von der Pflicht entbunden, zunächst dieses Gericht anzurufen, so sehe es Art. 35 § 1 der türkischen Verfassung vor.
2/2: Organe der Rechtspflege stützen die Verhaftung nicht
Die Richterin habe daher die angemessenen Schritte unterlassen, die dem türkischen Verfassungsgericht die Möglichkeit eingeräumt hätten, seine fundamentale Rolle bei der Sicherung des türkischen Rechts wahrzunehmen.
Im Übrigen sei die Untersuchungshaft der Antragstellerin somit gerade nicht von einem Organ der Rechtspflege im Kontext des ausgerufenen Notstands gestützt worden. Da die Antragstellerin den türkischen Rechtsweg nicht ausgeschöpft habe, könne der Senat auch keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren feststellen. Gegen die Entscheidung sind keine Rechtsmittel möglich.
Rechtswegerschöpfung ist Zulässigkeitsvoraussetzung
Die türkische Regierung hatte in Folge des Putschversuchs tausende Anwälte, Richter, Staatsanwälte, Staats- und Militärbedienstete unter dem Vorwurf entlassen, der sogenannten Gülem-Bewegung anzugehören. Die Regierung macht diese Bewegung für den Putschversuch verantwortlich. Viele Anwälte wurden in der Folge verhaftet, Anwaltvereine verboten.
Juristen, die sich dieser Tage sehr kritisch über die Vorgänge in der Türkei äußern, können diese Entscheidung des EGMR nicht beanstanden: "Leider ist eine der Voraussetzungen der Menschenrechtsbeschwerde die Rechtswegerschöpfung im eigenen Staat", sagt eine enge Beobachterin der Vorgänge in der Türkei gegenüber LTO. "Die Antragstellerin hätte tatsächlich erst vor dem türkischen Verfassungsgericht zumindest einen Eilantrag stellen müssen." Auf die Zuverlässigkeit des Gerichts und die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels komme es dabei nicht an. Entbehrlich sei die Rechtswegerschöpfung nur, wenn das nationale Gericht ganz einfach gar nicht entscheide.
Kritische Reaktionen vom DRB
Auch der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Jens Gnisa, sagte: "Der EGMR hat die Beschwerde aus formellen Gründen abgewiesen, die Richterin hätte zuerst den nationalen Rechtsweg ausschöpfen müssen." Das entspreche der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes.
"Allerdings ist die Justiz in der Türkei massiv unter Druck und es ist offensichtlich, dass sie nicht mehr in der Lage ist, aus eigener Kraft die Rechtsstaatlichkeit aufrecht zu erhalten", so Gnisa. "Die politischen Reaktionen auf das Vorgehen der türkischen Staatsführung sind bisher viel zu zögerlich. Die Bundesregierung und die EU-Kommission müssen die Türkei entschieden auffordern, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen und darauf auch mit ökonomischen Sanktionen hinwirken. Nur gute Worte werden nicht mehr helfen."