Dass ein Grundsatzurteil zu Rechtsfragen des Abbruchs und der Unterbrechung der Behandlung eines unheilbar erkrankten und selbst nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten zu erwarten war, hatte der BGH bereits angekündigt. Was sich aber im Verhandlungstermin vor dem 2. Strafsenat abspielte, war mehr als ungewöhnlich. Und das nicht nur bezüglich des zu erwartenden Ergebnisses.
Nach dem Antrag der Verteidigung, den angeklagten Rechtsanwalt freizusprechen, beantragte Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof (BGH) Lothar Maur, das erstinstanzliche Urteil, mit dem der angeklagte Rechtsanwalt wegen versuchten Totschlags verurteilt worden war, aufzuheben und die Revision der tatgerichtlichen Staatsanwaltschaft zurückzuweisen. Auch die Staatsanwaltschaft stellte also den Antrag, den Angeklagten freizusprechen.
Auch der gesamte 2. Strafsenat machte deutlich, dass er gewillt ist, die besondere Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts anzuerkennen. Das Ergebnis des Aufsehen erregenden Falles dürfte damit präjudiziert sein: Der nach dem Ratschlag an eine Mandantin, den Versorgungsschlauch zu durchtrennen, über den ihre Mutter ernährt wurde, wegen versuchten Totschlags erstinstanzlich verurteilte Fachanwalt für Medizinrecht kann mit einem Freispruch rechnen. Termin zur Fortsetzung der Verhandlung, bei dem wohl mit einem Urteil gerechnet werden kann, wurde anberaumt auf den 25. Juni 2010.
Die Entscheidung soll gestützt werden auf das Selbstbestimmungsrecht der Patientin, die vor ihrem irreversiblen Wachkoma unmissverständlich erklärt hatte, keine lebensverlängernden Maßnahmen in Form von künstlicher Ernährung und Beatmung im Falle nicht mehr behebbarer Bewusstlosigkeit zu wünschen. Der Senat beabsichtigt also weiterhin, dabei soll es bleiben, eine Grundsatzentscheidung zu treffen.
„Eher ein wissenschaftlicher Workshop“
Nicht nur dieses zu erwartende Ergebnis darf als bahnbrechend betrachtet werden, sondern auch der weitere Verlauf der Verhandlung gestaltete sich außergewöhnlich.
Prof. Dr. Gunnar Duttge, der mit einer Gruppe von Studenten an der bedeutsamen Verhandlung teilnahm, berichtet von einer faktischen Aufhebung jedweder Subordinationsverhältnisse zwischen dem Senat, der Staatsanwaltschaft und dem Angeklagten und seinem Verteidiger: "Die Verhandlung ähnelte eher einem wissenschaftlichen workshop als einem gerichtlichen Verhandlungstermin."
Grund für diesen Vergleich war die Tatsache, dass man sich zwar einig war über die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten. Unsicherheit herrschte allerdings noch darüber, wie genau das zu erwartende Ergebnis begründet werden soll. "Mit bemerkenswerter Offenheit räumten die einzelnen Mitglieder des Senats ein, schlicht noch nicht zu wissen, wie die Begründung der Entscheidung im Einzelnen aussehen wird. Es wurden wissenschaftliche Lösungsvorschläge unterbreitet und offen von allen Beteiligten diskutiert", so Duttge.
Spannungsverhältnis: PatVerfG versus § 216 StGB
Der Senat ließ offen, ob überhaupt die Abgrenzung erforderlich werden wird, ob das Verhalten des Angeklagten als aktives Tun oder als Unterlassen zu qualifizieren war.
Ebenso unsicher waren sich die Mitglieder des Senats hinsichtlich des Verhältnisses des Patientenverfügungsgesetzes zur Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB). Wie das Spannungsverhältnis zwischen der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen einerseits und den Vorschriften des Patientenverfügungsgesetzes andererseits aufgelöst werden soll, ist noch unklar. Die Folgen dieser Entscheidung jedenfalls, dessen sind sämtliche Mitglieder des Senats sich bewusst, können immens sein.
Am Ende der Verhandlung stand der Angeklagte, selbst auf Palliativmedizin spezialisierter Fachanwalt für Medizinrecht, von seinem Stuhl auf, um von seinem Recht auf das letzte Wort Gebrauch zu machen. Er bedankte sich. Bei allen Beteiligten.
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BGH-Termin zur Sterbehilfe: . In: Legal Tribune Online, 02.06.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/639 (abgerufen am: 10.11.2024 )
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