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Scheidender BSG-Präsident im Interview: "Mit Sozial­recht kann man nicht reich werden"

Interview von Tanja Podolski

02.02.2024

BSG-Präsident Rainer Schlegel

Rainer Schlegel geht nach gut acht Jahren als Präsident des Bundessozialgerichts in Pension. Foto: picture alliance / SZ Photo | Friedrich Bungert

Rainer Schlegel wird im Februar 66 Jahre alt und geht als Präsident des BSG in Pension. Sein Gericht hinterlässt er gut aufgestellt, doch für das Sozialrecht insgesamt sehe es bitter aus, sagt er im Interview.

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LTO: Herr Professor Dr. Schlegel, Sie gehen Ende Februar als Präsident des Bundessozialgerichts (BSG) in Pension. Haben Sie gedacht, dass Sie einmal aus dieser Position heraus gehen würden?  

Prof. Dr. Rainer Schlegel: (Lacht). Auf gar keinen Fall. Ich wollte ursprünglich Zivilrichter werden. Mir wurden damals vom Justizministerium aber nur Stellen bei der Staatsanwaltschaft in Stuttgart und eine Richterstelle am Sozialgericht angeboten. Für mich war die Stelle am Gericht verlockender, vielleicht auch, weil ich schon mit Bezügen zum Sozialrecht –"Schadensersatz und Sozialversicherungsbeiträge" – promoviert hatte.  

Ich habe diese Entscheidung nie bereut. Sozial- und Gesundheitsrecht sind spannende Rechtsgebiete, man ist immer am Puls der Zeit, eine Vielzahl von Menschen sind von diesen Themen betroffen. Mir wurde nie langweilig in diesen Bereichen, vielmehr hat man selbst als Spezialist eher Not, bei der Flut an Gesetzen am Ball zu bleiben.  

Jetzt gehe ich mit einem guten Gefühl. Ein bisschen Wehmut macht sich breit, aber insgesamt war es eine schöne Zeit und vielleicht kommt etwas neues Interessantes auf mich zu. 

Sie hatten mal gesagt, dass sie sich durchaus vorstellen könnten, länger als bis zur gesetzlich festgelegten Altersgrenze für Richter:innen von 66 Jahren zu arbeiten. Wie sieht es damit aus? 

Fest steht für mich, dass ich ab dem 1. März nicht nichts tun werde.  

Ich werde versuchen, das, was ich gelernt habe und was ich kann, auch in Zukunft sinnvoll einzusetzen. Das muss nicht unbedingt zentral im Sozialrecht angesiedelt sein. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, in einer Teamstruktur beratend tätig zu werden und vielleicht in Projekten mit anderen zusammenzuarbeiten. Angst vor neuen Aufgaben und neuen Herausforderungen hatte ich noch nie.  

Jetzt aber schon konkretere Angaben zu machen, fände ich dem Amt, das ich noch innehabe, nicht angemessen.  

"Um Sozialrecht reißt sich niemand" 

Bei Student:innen scheint das Sozialrecht nicht sehr beliebt zu sein. Interessiert sich genug Nachwuchs für dieses Rechtsgebiet? 

Leider überhaupt nicht. Um das Sozialrecht reißt sich niemand, selbst im Deutschen Bundestag nicht, wo sich dessen Mitglieder nicht gerade in die Bereiche Soziales, Arbeit oder Gesundheit drängen. Genauso sieht es in den Rechtsanwaltskanzleien aus, denn die oft vorgesehenen Pauschalgebühren sind für Anwält:innen nicht attraktiv. Man kann mit dem Sozialrecht nicht reich werden. Daher gibt es nur ganz wenige spezialisierte Kanzleien für bestimmte Themen wie beispielsweise für Teile des Gesundheitsrechts. 

In den Universitäten sieht es ganz bitter aus. Die Anzahl der Lehrstühle, an denen zumindest auch Sozialrecht gelehrt wird, hat drastisch abgenommen, Stellen werden oft nicht mit einer Venia für das Sozialrecht nachbesetzt. Viele meiner BSG-Kolleg:innen übernehmen eine Honorarprofessur, weil es keine hauptamtlichen Professor:innen für Sozialrecht mehr gibt. In der Literatur ist das genauso: Die wird in weiten Teilen durch Richter:innen aus der Sozialgerichtsbarkeit geschrieben.  

Wir entscheiden also über die Fälle, schreiben die Kommentare und Aufsätze und sind in der Lehre tätig. Diese Kumulation bedauere ich sehr, es wird der Relevanz dieses Rechtsgebiets in keiner Weise gerecht.  

"Man hat mir zugehört" 

Sie haben schon während Ihrer beruflichen Laufbahn oft Missstände benannt. Was ist insofern Ihr Selbstverständnis? 

Ich habe mich immer klar positioniert, jedoch dabei das Maß eingehalten, das man von einem Richter erwarten darf. Ich bin aber auch Bürger dieses Staates und fühle mich verpflichtet, auf Fehlentwicklungen hinzuweisen. Durch das Amt als Präsident hat man mir zugehört.  

Ich bin aber zu keinem Zeitpunkt im Hinblick auf meine Äußerungen in der Öffentlichkeit als BSG-Präsident offiziell kritisiert worden. Auch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) – der Dienstherr aller Richter:innen des Bundessozialgerichts – hat mich nie kritisch darauf angesprochen oder gar gemaßregelt. Das weiß ich sehr zu schätzen und es zeigt, dass die jeweiligen Leitungsspitzen im Arbeitsministerium Kritik aushalten und mit ihr umgehen können. Im Grunde müssten die Ministerien, die mit unseren Themen zu tun haben – also neben dem Arbeitsministerium auch das Gesundheitsministerium und der Kindergrundsicherung wegen demnächst auch das Familienministerium –froh sein, wenn aus unseren Reihen Vorschläge oder Kritik kommen.  

Was sind Ihre Kritikpunkte? 

Wir pflegen im Bereich Gesundheit und Soziales stark den Solidaritätsgedanken, den viele aber nur noch im Sinne von Umverteilung verstehen. Die Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und dem Wohlergehen des Sozialstaats haben viele jedoch nicht hinreichend im Blick oder gar nicht verstanden.  

Dem Sozialstaat geht es nur so lange gut, wie genügend Geld für seine Bereiche erwirtschaftet wird und genügend Personal zur Verfügung steht, seine ambitionierten Ziele umzusetzen. Ich hatte nie großes Verständnis für Forderungen nach noch mehr und besseren Leistungen, wenn diejenigen, die solche Forderungen stellen, nicht gleichzeitig Vorschläge zur Finanzierung liefern und sagen, wie das Ganze personell auf die Straße gebracht werden kann, woher etwa das dafür nötige Personal kommen soll. So ein Vorgehen halte ich für unseriös. 

"Opt-Out-Option bei der Patientenakte halte ich für falsch" 

Nennen Sie uns bitte aktuelle Beispiele? 

Nehmen wir das seit Jahren diskutierte Thema der elektronische Patientenakte. Die Regierung propagiert eine Verpflichtung mit einer Opt-Out-Option für jeden Versicherten. Wer also keine elektronische Patientenakte möchte, soll sie nicht nutzen müssen. Das halte ich für falsch. 

Diese Akte soll mehrfache Untersuchungen oder eine doppelte Verabreichung von Arzneimitteln vermeiden sowie die Medikamenteneinnahme oder Unverträglichkeiten dokumentieren. Wenn dieses Ziel erreicht werden soll, müssen alle Versicherten teilnehmen. Alles andere kostet Zeit und Geld.  

Wer sich auf sein Selbstbestimmungsrecht und den Datenschutz beruft und daher bei der elektronischen Patientenakte nicht mitmachen möchte, dem sollte das etwas wert sein müssen – und zwar in Euro und Cent. Es sollte nicht so sein, dass das Datenschutzbedürfnis des einzelnen Versicherten bedingungslos höher steht als das Interesse der Allgemeinheit aller Beitragszahler an der Einsparung unnötiger Kosten und einer auch für dem Patientenschutz dienenden Sammlung seiner Gesundheitsdaten. Ich bezweifle, dass die europaweit gleichermaßen geltende Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) einer Regelung entgegenstehen würde, die das Opt-out an eine maßvolle Kostenbeteiligung des Versicherten knüpft. Wir kennen diesen Mechanismus schon bei der Möglichkeit, sich als GKV-Versicherter privat behandeln zu lassen; auch das muss sich der Versicherte etwas mehr kosten lassen. 

Ein weiteres Thema ist die Grundsicherung. Ich bin ein Befürworter maßvoller Sanktionen. Das BMAS arbeitet derzeit an einem Gesetzentwurf, mit dem wieder Sanktionen für Totalverweigerer auf die Tagesordnung kommen – also für Menschen, die arbeiten könnten, aber dies nicht wollen. Bei dieser Personengruppe der sogenannten Totalverweigerer sollen die Leistungen um bis zu zwei volle Bezugsmonate gekürzt werden können.  

Ich halte Sanktionen in diesen Fällen für richtig, denn niemand versteht, warum Totalverweigerer volle Leistungen bekommen sollten. Ich sehe darüber hinaus auf sachlichen keinen Grund für eine Begrenzung auf zwei Monate.  

"Dem Leistungsgrundsatz verpflichtet" 

Inwieweit ist Ihr Blick auf diese Themen davon geprägt, dass Sie in dem kleinen Ort Albstadt auf der Schwäbischen Alp im südlichen Baden-Württemberg aufgewachsen sind? 

Man wird geprägt durch seine Heimat, durch sein Elternhaus. Ich war der erste Akademiker in meiner Familie und der erste, der überhaupt das Abitur machte. In meiner Erziehung spielte eine bedeutende Rolle, dass meine Eltern den Gedanken hatten: "Du sollst es mal besser haben, Du sollst es zu etwas bringen". Und das setzte eigene Leistungsbereitschaft voraus. Dass dann letztlich etwas "aus mir geworden ist", war großem Glück und natürlich nicht nur der eigenen Leistung zu verdanken. 

Ich halte den Leistungsgrundsatz für einen Ansatz, den wir in unserer Gesellschaft wieder etwas stärker in den Vordergrund stellen sollten. 

Mit dieser Aussage sind Sie auf CDU-Linie – man sagt, aus diesen Reihen seien Sie auch als Richter für das Bundessozialgericht vorgeschlagen worden. Stimmt das? 

Nein. Ich weiß bis heute nicht, wer mich letztlich auf die Vorschlagsliste gebracht hat. Zu dem Zeitpunkt – es war etwa 1995 - war ich jedenfalls nicht CDU-Mitglied, das wurde ich erst lange nachdem ich 1996 bereits zum BSG-Richter gewählt worden war. 

Dazu möchte ich aber auch sagen: Ja, ich bin CDU-Mitglied. Aber ich betrachte die Dinge fachlich und nehme nicht parteipolitisch Stellung. Die Sachthemen beurteile ich aus meiner Erfahrung als Richter heraus, als jemand, der sich im Sozialrecht bewegt und Interesse an einem soliden Sozialstaat hat, der gerade denen helfen soll, die sich nicht oder kaum selbst helfen können. Wenn Vorschläge oder Gesetze aus dem Ministerium kamen, die ich nicht für richtig hielt, dann habe ich das gesagt, und zwar auch dann, wenn der oder die Minister:in aus der Union kam. Mir geht es um die Sache und nicht um das Voranbringen parteipolitischer Programme. 

"Erfolg ist der Verdienst des Zusammenwirkens vieler Menschen"  

Wenn sie zurückschauen: Was war ihr größter Erfolg in ihrem Berufsleben? 

Als Präsident möchte ich Erfolge nicht für mich selbst verbuchen, denn Erfolge sind der Verdienst des Zusammenwirkens vieler Menschen. Dazu zählt zum Beispiel, dass einige Aufmerksamkeit auf Themen des Sozialrechts gelenkt werden konnten oder es in meiner Amtszeit keine Konkurrentenklagen um Vorsitzendenstellen am BSG gab.  

Mit Genugtuung sehe ich auch, dass in meiner Amtszeit erstmals das Zahlenverhältnis zwischen Richterinnen und Richtern ausgewogen war, wir haben – mit leichten zeitlichen Schwankungen - eine Quote von fünfzig zu fünfzig. Und natürlich ist es erfreulich, dass wir im Gericht mit vereinten Kräften die elektronische Gerichtsakte ohne größere Verwerfungen eingeführt haben. Ob diese Art der Digitalisierung allerdings der ganz große Wurf ist, muss die Zukunft zeigen.  

Ein großer Erfolg ist auch, dass wir am BSG ein Forschungsprojekt zur Entstehungsphase des Gerichts abschließen konnten. Das Buch „Das Bundesozialgericht und die Formierung des westdeutschen Sozialstaates“ kommt gerade richtig zum 70-jährigen Bestehen des Gerichts im Jahr 2024.  

Warum ging es bei dem Forschungsprojekt? 

Wir haben drei Aspekte von Historikern untersuchen lassen: Zunächst mögliche personelle und inhaltliche Kontinuitäten aus der Zeit des Nationalsozialismus, dafür hat ein Forschungsteam die Biografien der Richter:innen untersucht, die ab 1954 am BSG tätig waren. 

Es sind keine großen Skandale zutage gefördert werden, aber der erste Präsident des BSG war tatsächlich schon in der NS-Zeit tätig und man würde heute durchaus von Belastung reden, andere waren Mitglied der NSDAP. Ein Richter darf als Verfolgter in der NS-Zeit betrachtet werden.  

Ein zweiter Aspekt war die Frage, ob die Richter:innen, die alle schon in der NS-Zeit oftmals im Sozialbereich tätig waren, Gedankengut aus der NS-Zeit in ihre Rechtsprechung getragen haben. Drittens ging es darum, welchen Einfluss das Gericht oder einzelne Akteur:innen auf die Entstehung des deutschen Sozialstaats hatten, etwa durch Politikberatung von Seiten des BSG. Auf die Ergebnisse kann ich hier nicht im Einzelnen eingehen, das würde den Rahmen sprengen.  

Diesem Projekt wollen wir ein weiteres folgen lassen, in dem es um die historische Betrachtung des Gerichts zu Beginn der 70er Jahre bis etwa 2005 gehen soll. In diese Zeit würde die Wiedervereinigung fallen. Viele der Amtsträger aus der DDR haben vor dem BSG Prozesse geführt, so etwa der SED-Chefideologe Kurt Hager, der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker und auch seine Ehefrau Margot, Ministerin für Volksbildung der DDR. Es wäre spannend, herauszufinden, ob in diesen Verfahren Details aus den Biografien der Kläger:innen eine Rolle spielten, die bisher nicht öffentlich bekannt sind. 

Sie haben am BSG das erste Forschungsprojekt mit Bezug zur NS-Zeit gerade abgeschlossen, derweil demonstrieren in diesen Tagen Tausende Menschen gegen politische Strömungen von rechts. 

Zu Recht.  

Sehen Sie in der Entwicklung der politischen Strömungen Gefahren für das BSG? 

Natürlich habe ich – wie alle vernünftigen Menschen – große Bedenken im Hinblick auf die kommenden Wahlen in den neuen Bundesländern und natürlich muss es Sorgen bereiten, wenn die AfD dort in Umfragen das beste Ergebnis erzielt. Das beste Rezept dagegen ist, selbstbewusst die eigenen Vorstellungen und Lösungen darzustellen. Denn die AfD hat keine vernünftigen Problemlösungen, sie lebt von Frustration und Enttäuschung.  

Gleichwohl ist die Entwicklung besorgniserregend. Es ist richtig, dass Menschen den Mut haben, aufzustehen, ihre Meinung zu sagen und nicht duckmäuserisch zuzugucken, wie sich die Dinge entwickeln. Schlimm ist, dass auch Leute, die ein bisschen Grips im Kopf haben, anfällig sind für populistische Parolen der AfD. Die NSDAP hat auch mit geringen Prozentpunkten angefangen.  

Für das BSG bedeutet die Entwicklung keine konkrete Gefahr, solange rechte Parteien personell nicht in die Instanz kommen. Diejenigen, die jetzt gegen „rechts“ auf die Straße gehen, sollten einen weiteren Schritt gehen und sich etwa bei Wahlen zu Gemeinde- oder Stadträten als Kandidat:innen zu Verfügung stellen, überall dort, wo Politik umgesetzt und Gesellschaft konkret gestaltet wird. 

Wie geht es für Sie jetzt weiter? 

Ich bekomme am 13. Februar meine Entlassungsurkunde, zum 1. März tritt Christine Fuchsloch ihr Amt an. Sie wird die erste Präsidentin des BSG sein. Mit ihr stehen dann an drei der fünf Bundesgerichte, neben BSG auch BGH und BAG, Frauen an der Spitze, also drei zu zwei - ein gutes Ergebnis.  

Was macht es mit Ihnen, dass Sie durch eine Frau ersetzt werden? 

Das macht mich glücklich.  

Herr Professor Schlegel, vielen Dank für das Gespräch. 

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Scheidender BSG-Präsident im Interview: . In: Legal Tribune Online, 02.02.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53788 (abgerufen am: 07.11.2025 )

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