Es ist die wichtigste Reform seit Jahrzehnten, aber viele Strafrichter haben Vorbehalte gegen die geplante Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung in Fällen schwerer Kriminalität. Wie man Einwänden begegnen kann, erläutert Andreas Mosbacher.
Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) hat Ende November 2022 den Referentenentwurf zu einem "Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz" vorgelegt und will damit den Koalitionsvertrag umsetzen. Die erstinstanzliche Hauptverhandlung in Strafsachen vor den Landgerichten soll spätestens ab 2030, vor den Oberlandesgerichten schon ab 2026 in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Die Tonspur wird dann automatisch mit Spracherkennungssoftware verschriftet (Transkript). Alle Beteiligten sollen nach jedem Verhandlungstag auf Aufzeichnung und Transkript zugreifen können. Bislang schreiben Richter die Aussagen von Angeklagten, Zeugen oder Sachverständigen per Hand oder Laptop mit. Was sie dazu im Urteil niederlegen, gilt. Anwälte verfassen ihre eigene Mitschrift. Eine objektive Dokumentation gibt es nicht.
Die heutigen Vorschriften über die Protokollierung des Strafverfahrens stammen aus dem Jahr 1877. Es wird lediglich ein Protokoll über die Einhaltung der wesentlichen Formalien geführt. Aussageinhalte werden in erstinstanzlichen Strafsachen nur bei den Amtsgerichten mitgeschrieben, nicht aber bei den Land- und Oberlandesgerichten, wo schwere Fälle landen. Meine Studierenden blicken mich in der Vorlesung ungläubig an, wenn ich ihnen das erzähle. Es ist einfach nicht plausibel und nur historisch erklärbar, dass bei den wichtigsten Verfahren am wenigsten protokolliert wird.
Sinn und Zweck einer Aufzeichnung liegen auf der Hand: Die Aussage wird im Zeitpunkt ihrer Entstehung objektiv dokumentiert. Ihr Inhalt kann während des laufenden Verfahrens anderen vorgehalten werden. Es gibt eine zuverlässige Grundlage für Anträge, die Urteilsberatung und die Urteilsabsetzung. Der Aussageinhalt kann in anderen Verfahren verwendet werden. Zudem tut es einem Prozess nicht gut, wenn die exklusive Definitionsmacht über das, was Angeklagte, Zeugen und Sachverständige ausgesagt haben, nur einem Teil der Verfahrensbeteiligten anvertraut ist. Deshalb gibt es in allen anderen Verfahrensarten in Deutschland und in den allermeisten Mitgliedsstaaten der EU in Strafverfahren eine objektive inhaltliche Dokumentation der Beweisaufnahme.
Die Strafjustiz nicht allein lassen
Angesichts der technischen Entwicklung ist die Frage nicht mehr, ob eine Dokumentation auch in deutschen Strafverfahren kommt, sondern nur noch, wann und wie. Die Strafjustiz täte gut daran, sich mit dieser unaufhaltsamen Entwicklung abzufinden. Das fällt den meisten schwer. Viele sehen erhebliche Mehrbelastungen auf sich zukommen, die eine ohnehin an der Belastungsgrenze arbeitende Strafjustiz überfordern. Aber: Es handelt sich um einen notwendigen Transformationsprozess, der unweigerlich kommen wird. Das Strafverfahren wird nicht so bleiben wie bisher.
Was kann man tun, um den Übergang klug zu gestalten? Man muss die Bedenken der Justiz ernst nehmen. Der Anpassungsprozess produziert erhebliche Anpassungslasten. Säle müssen umgebaut, bisherige Routinen überdacht, alte Gesetze neu ausgelegt werden. Die Strafjustiz darf damit nicht allein gelassen werden, sonst kann die Reform kaum gelingen. Die Politik muss dafür sorgen, dass die Justiz technisch und personell den besonderen Anforderungen des Transformationsprozesses gewachsen ist.
Der aktuelle Entwurf ist klug gemacht, weil er sich auf das Wesentliche beschränkt. Die Aufzeichnung ist danach lediglich ein Hilfsmittel. Das Transkript muss nicht perfekt sein und kann gleichwohl helfen. Die Strukturen des Revisionsrechts werden nicht angetastet, auch wenn die Aufzeichnung das bisherige "Rekonstruktionsverbot" aushebelt und neue Rügemöglichkeiten eröffnet. Der Entwurf geht plausibel davon aus, dass die Revisionsgerichte das in den Griff bekommen, ohne dass es einer gesetzlichen Einhegung durch systematisch schwer begründbare Rügebeschränkungen bedarf.
Eine Tonaufnahme wäre die bessere Lösung
Eine wichtige Änderung würde allerdings viele berechtigte Bedenken zerstreuen und die Belastung der Strafjustiz verringern: eine Tonaufnahme statt der Videoaufnahme. Um die Ziele des Entwurfs zu erreichen, genügt die Tonaufnahme, denn sie dokumentiert Aussageinhalte gleichermaßen objektiv. Aussagepsychologen weisen schon lange darauf hin, dass der Inhalt, nicht die Form einer Aussage für die Glaubhaftigkeitsanalyse entscheidend ist.
Die Tonaufnahme ist auch derzeit schon als Möglichkeit der Dokumentation von Hauptverhandlungsinhalten an Amtsgerichten und zu historischen oder wissenschaftlichen Zwecken im Gesetz vorgesehen (§ 273 Abs. 3 Satz 2 Strafprozessordnung, § 169 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz). Sie ist deutlich günstiger in Anschaffung und Unterhalt, viel einfacher zu handhaben und schützt in Zeiten bildmächtiger Verbreitungsmedien die Persönlichkeitsrechte Betroffener weitaus besser als die missbrauchsanfälligere Videoaufnahme. Deshalb hat eine vom BMJ eingesetzte Expertengruppe die Dokumentation mittels Tonaufnahme bei gleichzeitiger Verschriftung empfohlen. Das wäre ein sinnvoller Kompromiss, der die Akzeptanz der Reform deutlich erhöhen würde.
Noch mehr würde man die Herzen der in der Strafjustiz Tätigen gewinnen, wenn man durch die Aufzeichnung ihre Arbeitsbelastung verringert. Heute werden Urteile immer länger, weil die auf dem Computer mitgeschriebenen Inhalte von Zeugenaussagen eins zu eins ins Urteil übernommen werden. All das muss anschließend durchgearbeitet werden. Bei einer immer treffsicheren automatischen Transkription könnte dies bald zur unguten Aufblähung der Urteilsgründe führen. Vielleicht kann dem eine Regelung vorbeugen, wonach man beim Verfassen eines Urteils ähnlich wie im Zivilverfahren wegen der Einzelheiten einer Aussage auf deren Aufzeichnung oder ein Transkript verweisen darf.
Mehrbelastungen im Revisionsverfahren vermeiden
Auch in der Revisionsinstanz wird man Überzeugungsarbeit leisten müssen. Im nach wie vor schriftlichen Revisionsverfahren will keiner Tonbänder anhören oder Videoaufnahmen der Hauptverhandlung anschauen. Dafür ist dieses auf bloße Rechtsüberprüfung beschränkte Verfahren auch nicht gemacht. Wer seine Revision künftig mit aufgezeichneten Aussageinhalten begründen will, muss angesichts der Unvollkommenheit des automatischen Transkripts erst einmal eine sorgfältige Verschriftung veranlassen. Schon diese Transkriptionskosten werden viele von wenig erfolgversprechenden Verfahrensrügen abhalten.
Werden solche Rügen aber erhoben, muss die Überprüfung folgen, ob der Vortrag eines Aussageinhalts auch mit der Aufzeichnung übereinstimmt. Diese Aufgabe muss nach dem derzeitigen Modell die Justiz stemmen. Man kann sich leicht vorstellen, dass die Aufzeichnung insoweit erhebliche Mehrbelastungen mit sich bringt. Solange kein "amtliches" Transkript existiert, wäre es besser, die Verifizierungslast statt der Justiz dem Revisionsführer aufzuerlegen. Man könnte den Übertragenden etwa verpflichten, die Übereinstimmung des Transkripts mit der Aufzeichnung an Eidesstatt zu versichern oder – wie bei Dolmetschern – Personen bestellen, die eine solche Aufgabe unter amtlicher Aufsicht objektiv zuverlässig erledigen. Wer ein 145 Jahre altes Haus renovieren will, braucht neben Geld und viel Geduld eben auch etwas Innovationsgeist.
Zum Referentenentwurf werden derzeit viele Meinungen eingeholt, bevor das eigentliche Gesetzgebungsverfahren startet. Es wäre nicht nur schade, sondern auch unklug, wenn sich die Strafjustiz grundsätzlich gegen ein Reformprojekt stellt, dessen Notwendigkeit jedem außerhalb einleuchtet. Auch wenn wir in Teilen noch prozessieren wie vor 140 Jahren, die Strafjustiz ist nicht von gestern. Sie braucht die notwendigen Rahmenbedingungen, um Vorwürfe schwerkriminellen Verhaltens zügig, sorgfältig und gerecht aufklären zu können. Die Aufzeichnung der Hauptverhandlung kann dabei helfen. Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, wird man sie – wie der deutsche Richter am Internationalen Strafgerichtshof und führende StPO-Kommentator Bertram Schmitt immer wieder betont – nicht mehr missen wollen.
Prof. Dr. Andreas Mosbacher ist Richter des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in Leipzig und Honorarprofessor für Strafrecht und Strafprozessrecht, insbesondere Wirtschaftsstrafrecht und Revisionsrecht, an der Universität Leipzig.
Dokumentation der Hauptverhandlung im Strafverfahren: . In: Legal Tribune Online, 29.01.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50896 (abgerufen am: 09.10.2024 )
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